Die leninistische Geste

REVOLUTION NACH ESSEN? Beobachtungen auf der Lenin-Konferenz des Kulturwissenschaftlichen Instituts Nordrhein- Westfalen und ein Gespräch mit Slavoj Zizek

Gibt es eine Politik der Wahrheit - nach Lenin?" Die Frage klingt spannend. Über 150 Anmeldungen verzeichnen die Veranstalter der Internationalen Konferenz in Essen. Teilnehmer kommen aus England, Frankreich, Kanada, Österreich, Italien, den USA. Auch aus Deutschland. Auf der Liste der Referenten Namen wie Kevin Anderson, Chicago; Alain Badiou, Paris; Sebastian Budgen, London; Fredric Jameson, Durham; Lars T. Lih, Montreal. Keiner aus Deutschland. Initiator des Kongresses: Slavoj Zizek. Hinter seinem Namen steht: Ljubljana/Essen. Er ist dort Philosophieprofessor und hierzulande Leiter der Studiengruppe "Antinomien der postmodernen Vernunft" am Kulturwissenschaftlichen Institut.

Ein Witz

In seinem Eröffnungsvortrag erzählt Slavoj Zizek einen Lenin-Witz - nicht zum ersten Mal. Es geht um die bekannte Forderung Lenins an die Revolutionäre: Lernen, lernen, lernen! Der Witz geht so: Marx, Engels und Lenin werden gefragt, ob sie lieber eine Ehefrau hätten oder eine Geliebte. Marx, der als eher dröge eingeschätzt wird, entscheidet sich für die Ehefrau. Der Bohemien Engels für die Geliebte. Lenin wünscht sich sowohl als auch. Seine Begründung: Dann könne er der Geliebten erzählen, er sei bei der Gattin, und dieser, er besuche die Geliebte. In Wahrheit aber täte er nur immer das eine: Lernen, lernen, lernen.

Erhebliche Heiterkeit, auch diesmal, im Publikum. Dann macht sich die Konferenz an die Arbeit: Lernen. Von den Referenten. Es sind nur Männer.

Was tun?

Reden. Drei Tage lang werden in acht "Sektionen" 16 Professoren sprechen. Die meisten werden ihren Text vorlesen, in der Konferenzsprache, das heißt auf Englisch. Einige sprechen frei, einige auch französisch. Es wird, obwohl "erwünscht" (Einladungstext), keinen einzigen Diskussionsbeitrag auf deutsch geben.

Die Ankündigung der Konferenz im Internet hatte noch ein bisschen mehr ins Auge gefasst: "Was ist heute gegen das Global Empire zu tun? Neben ihrer Funktion als offenes Diskussionsforum soll die Konferenz also auch all denjenigen als Treffpunkt dienen, die die liberaldemokratisch-kapitalistische Ordnung in all ihren Dimensionen - vom globalen marktorientierten Kapitalismus bis zur Ideologie der "Menschenrechte" - als äußersten Horizont soziopolitischer Vorstellungskraft ablehnen."

Gelegentlich spazierte wie ein Gespenst das Wort "Seattle" durch den Hörsaal. Auch "Davos" war zu vernehmen. Oder "Porto Allegre." Und irgendwann klebte ein etwa zehn Zentimeter hohes, zehn Meter breites Band hinter Rednerpult und Referententisch. Darauf stand, vielleicht fünfzig Mal: "Resistance!" Leute, die es geklebt hatten, trugen ihrerseits kleine rote Aufkleber: UTOPISTE debout.

Das Klebeband wurde, von einem Mitorganisator des Kongresses schnell entfernt.

Kleine Meldungen

"Lenin stünde zur Verfügung, wird aber nicht geklont".

Unter dieser Überschrift stand in der FAZ vom 30.12.2000 zu lesen, dass sich der Biologe Ilja Sbarskij gegen das Klonen des Gründers der einstigen Sowjetunion ausgesprochen habe. Theoretisch sei ein Klonen von Lenin durchaus möglich, meinte er, zumal in dem einbalsamierten Leichnam "sicherlich genügend DNA-Moleküle" vorhanden seien. "Aber es hat kaum einen Sinn, einen derart strengen, auf Zerstörung des Menschen bedachten Mann wie Lenin zu klonen".

Am 2. Februar 2001 plauderte der Moderator des WDR3-Klassikforums u.a. darüber, dass bekanntlich Lenin in Russland die westliche Zeitrechnung eingeführt habe.

Die Eingabe von "Lenin" fördert in der Suchmaschine Infoseek 4736 Ergebnisse zutage. Bei Compuserve sind es 5913.

Zigtausende (auch deutscher) Ehemänner erweisen sich tagtäglich als praktizierende Leninisten: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser."

Ein Denkverbot?

Dennoch - trotz solchen und manch anderen Zeichen selbstverständlicher Präsenz wirkt der Name Lenin wie ein rotes Tuch. Nicht nur auf konservative Toros in der politischen Arena. Am Tag vor Beginn der Konferenz veröffentlicht die - unwidersprochen ständig als liberal bezeichnete - ZEIT einen Artikel von Slavoj Zizek, Titel Von Lenin lernen. Er bekräftigt darin, was schon in der Einladung zur Konferenz zu lesen war. "Das Paradox besteht darin, dass in unseren posttraditionalen ›reflexiven Gesellschaften‹, in denen wir gezwungen sind, unablässig irgendeine Wahl zu treffen, die Möglichkeit zu einer grundlegenden, also radikalen, Wahl ausgeschlossen ist. Es scheint sogar unmöglich, diesbezügliche Fragen überhaupt zu stellen. Die liberaldemokratische Hegemonie wird von einer Art ungeschriebenem Gesetz unterstützt, einem Denkverbot, vergleichbar dem Berufsverbot im Deutschland der siebziger Jahre."

Grund genug, zu fragen:

Slavoj Zizek, gab es im Vorfeld Versuche, die Konferenz zu verhindern?

Nun ja, ich muss sagen, es gab schon einigen Druck auf das Kulturwissenschaftliche Institut. In Nordrhein-Westfalen werden, soweit ich weiß, alle Forschungsinstitute einer, wie es modisch heißt, "Evaluierung" unterzogen, und sie sollen alle umgebaut werden. Und da gab es gewisse Befürchtungen, ganz verständlich, dass einige rechte Lokalpolitiker diese Konferenz nutzen wollten, um Punkte zu sammeln in dieser regionalen Auseinandersetzung. Also nur, dass das Treffen nicht erscheinen sollte als eine Art billige, leere, provokative linke... na ja, Explosion: das war das einzige, worum man mich gebeten hat, und das habe ich akzeptiert.

Aus der Selbstdarstellung des KWI: "Die Arbeitsthemen der Forschungsgruppen beziehen sich auf Orientierungsprobleme des zeitgenössischen Kulturbewusstseins. Sie werden von außen vorgeschlagen oder im Institut selber angeregt, von Vorstand und Beirat des Hauses gemeinsam erörtert und mit den Antragstellern in eine entscheidungsreife Form gebracht, die dem Ministerpräsidenten vorgelegt wird."

Auf den Artikel in der ZEIT gab es heftigere Reaktionen. Etwa in dem Sinn, wie es die Einladung schon vorher vermutet hatte: "Die ›Rückkehr zur Ethik‹ in der heutigen politischen Philosophie beutet schamlos die Schrecken des Gulag oder des Holocaust als äußerste Gräuel aus, um uns zu nötigen, auf jedes ernste, radikale Engagement zu verzichten."

Small World

1984 hat der britische Schriftsteller David Lodge sein Buch mit diesem Titel herausgebracht. Es geht dabei um einen dem Tennis-Zirkus vergleichbaren Fakt: "Die ganze akademische Welt scheint unterwegs zu sein. Die Hälfte der Passagiere auf Transatlantik-Flügen sind in diesen Tagen Universitätslehrer... das ist das Attraktive am Konferenz-Umfeld: es ist eine Möglichkeit, Arbeit in ein Spiel zu verwandeln, Professionalität zu verbinden mit Tourismus...".

Die 16 Professoren in Essen referieren; erörtern; fragen - routiniert, auch kritisch, gelegentlich keck; stellen fest; regen an, mancher Referent ist selbstreferentiell; einer, der berühmte Antonio Negri, erscheint als sonore Stimme per Telefonkonferenz. Ihre Themen: Lenin und die Philosophie. Lenin als Hegel-Leser. Das strategische Konzept der Krise bei Lenin. Lenin und die Parteiform, 1902 - 1917. Kurt Tucholsky hätte vermutlich das Thema "Lenin als solcher" vermisst.

In Zitaten werden die üblichen Verdächtigen vorgeführt: Foucault, Wilhelm Reich, Freud, Lacan, Gramsci, Lukács, Althusser, Chomski. Natürlich - Lenin und Marx. Diese Verknüpfung ist klar, wenn es hierzu Fragen gibt, geht es um Nuancen. Lenin und Stalin - diese Verknüpfung ist peinlich. Das Thema wird nicht verschwiegen, es wird en passant gestreift - und rasch wieder verlassen. Es geht ja um Lenin, bloß um Lenin.

Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück

Aus der Einladung zu dem Kongress: "Warum Lenin, warum nicht einfach Marx? Ist die geeignete Rückkehr nicht die zu den Ursprüngen selbst? - 'Zurück zu Marx!' ist bereits eine akademische Mode..." Und etwas später dann: "Die Rückkehr zu Lenin ist das Bestreben, den einzigartigen Augenblick zu ergreifen, in dem ein Gedanke sich selbst bereits in eine kollektive Organisation übersetzt, aber noch nicht zu einer Institution (der etablierten Kirche, der stalinistischen Staatspartei) erstarrt ist." Ziel sei es, "unter den gegenwärtigen, weltweiten Bedingungen die leninistische Geste zu wiederholen, ein politisches Projekt in Gang zu setzen, das die gesamte liberal-kapitalistische Weltordnung untergraben würde."

Slavoj Zizek, Sind Sie selbst Leninist?

Was heißt Leninist? - Wenn Sie damit meinen, wir sollten heute den Leninschen Partei-Organisations-Begriff rehabilitieren - dann ein entschiedenes Nein. Wenn Leninist sein heißt: wir finden uns in einer Situation, in der sich das Wesen des Kapitalismus so sehr ändert, dass wir die Grundkoordinaten unserer Situation radikal neu thematisieren, neu überdenken müssen, dann - und nur in diesem Sinn - bin ich Leninist.

Gab es an dieser Konferenz ein Interesse von politischer Seite her, von politischen Parteien, von Gewerkschaften, also von Praktikern aus dem nicht-akademischen Raum?

Ich will ganz offen sein und nicht bluffen: ich bin - und das ist vielleicht meine Beschränkung - ich bin Akademiker. Und ich denke, gerade wir Akademiker sollten genau dieser Versuchung widerstehen, unbedingt etwas tun zu müssen. Es geht heute darum, Marx - zumindest aus taktischen Überlegungen - vom Kopf auf die Füße zu stellen. Vielleicht anstatt darüber nachzudenken, wie wir die Welt verändern können, sollten wir wirklich neu interpretieren, was zur Zeit geschieht.

"Does it mean anything to be a Leninist in 2001?"

Doug Henwood, New York, hatte unter dieser Überschrift das letzte Wort am Sonntag. Zu Beginn der Tagung hatte Slavoj Zizek all jenen mit Fürchterlichem gedroht, die die zugestandenen Zeiten für Referat (30 Minuten) oder Diskussionsbeitrag (3 Minuten) nicht einhielten oder der Versuchung zur Selbstdarstellung nicht widerstünden; sich selbst gegenüber war er, in beiderlei Hinsicht, nicht so streng.

Doug Henwood hätte das Zeitlimit einfach unterschreiten können, hätte er auf seine Frage geantwortet: Nein, eigentlich bedeutet es nichts. Er machte es sich nicht so einfach. Aber es läuft auf diesen Satz hinaus, was er, mit einleuchtender Begründung, vortrug. Die Dinge hätten sich so sehr geändert, dass Leninsches Denken nichts helfe; nirgends gebe es irgendwelche Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der Partei im Sinne Lenins; der Marxismus verschwinde auch aus den Universitäten der USA. Dennoch, meinte er, könnten Marxisten eine Rolle spielen, in den neuen Bewegungen, Stichworte auch hier wieder Seattle, Davos, Porto Allegre. Vorausgesetzt, sie träten bescheiden auf, als Fragende, Mitdiskutierende, Anregungen Gebende.

Weit weg also, wie in der ganzen Konferenz, Begriffe wie Klasse, Klassenkampf, Partei als Avantgarde des Proletariats, Demokratischer Zentralismus. Robert Pfaller aus Österreich philosophierte über den Gewinn im Verlust, mit Hilfe von Spinoza, Reich und Brecht. Die einzige Frau mit eigenem Beitrag, die Germanistin Charity Scribner, sprach über Literatur und Kunst der zusammengebrochenen "2. Welt", also des seinerzeit real existierenden Sozialismus.

Slavoj Zizek, war diese Konferenz ein Erfolg?

Das hängt davon ab, wie man den Erfolg misst. Wenn Sie es als Erfolg bezeichnen, eine neue leninistische, in irgendeiner Weise globale politische Bewegung anzustoßen, zu großartigen Schlüssen zu kommen, was heute zu tun sei - dann war das ein Fehlschlag. Aber ich habe so etwas nicht einmal erwartet. Alles, was ich erwartet habe, ist: dass genau die ganze Schwäche, die Impotenz, die Widersprüchlichkeit der radikalen Politik unserer Tage sichtbar wird.

Ergebnisse der Konferenz? Zunächst: die liberal-kapitalistische Weltordnung wurde nicht untergraben. Dennoch: ein paar - man muss es sagen: kleine - Erfolge hat es gegeben. Immerhin: der Kongress hat den Weg zwischen der Scylla einer Heiligsprechung und der Charybdis einer Verteufelung von Wladimir I. Lenin gefunden. Und: manchmal gab es auch Momente von spannender Aktualität. Etwa, als es um die Frage ging, welche Bedeutung der Staat, der Nationalstaat heute und in der kommenden Zeit haben werde. Oder: als es um die Rolle von Parteien in der Politik ging. Oder: um das Verhältnis von Theorie und politischer Praxis. Da waren auf einmal Sätze, die aufhorchen ließen, von Alex Callinicos und Alan Shandro. Da gab es plötzlich kurze Hinweise, wie die so umfassenden Analysen Lenins in Staat und Revolution oder in Was tun? oder in seiner Imperialismus-Schrift wirksam sein könnten, noch heute oder heute wieder, heute neu. Dass solches Denken eine neue, aktuelle Politik der Wahrheit einführen könnte in dem Sinn, wie es die Thesen zu der Konferenz angedeutet hatten.

Insgesamt aber: zu wenig. Und Slavoj Zizek beklagte dies offen in seinem Schlusswort. Mit dem Hinweis darauf, im gegenwärtigen Zeitpunkt sei wohl nichts anderes möglich. Die Herren der Kleinen Welt werden sich wiedertreffen, dem bewährten Motto folgend: Es gibt genug zu bereden, machen wir weiter. Und es muss ja nicht immer nur und wieder Lenin sein. Slavoj Zizek zum Beispiel hat in den letzten Jahren über Lacans Rückkehr zu Hegel gearbeitet oder warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen; nachgedacht hat er auch über virtuellen Sex, das Unbehagen im Subjekt oder die Pest der Phantasmen. Die nächste "internationale interdisziplinäre Konferenz" des Kulturwissenschaftlichen Instituts von Nordrhein-Westfalen, Anfang März 2001, widmet sich dem "Utopischen Denken."

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