Ungefiltert

Livereport Todesschüsse von US-Beamten werden gefilmt und via Facebook quasi direkt übertragen
Ausgabe 28/2016

Lakonisch die Anzeige bei Facebook: Lavish Reynolds war live am 7. Juli in Falcon Heights, Minnesota, Vereinigte Staaten. Knapp zehn Minuten lang war sie mit ihrem Smartphone live auf Facebook und filmte als Selfie-Direktübertragung das Sterben ihres Freundes Philando Castile, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, als ein Polizist auf ihn schoss. Man sieht das Blut auf dem weißem T-Shirt, er krümmt sich vor Schmerz; man sieht den Polizisten vor dem Fenster des Wagens, die Waffe im Anschlag. Man sieht und hört Reynolds’ kleine Tochter auf dem Rücksitz, während die Mutter vor der Smartphonekamera sachlich das Geschehene berichtet und zugleich den Polizisten, der sie anschreit, in Schach zu halten versucht. „Stay with me“, sind Reynolds’ erste Worte, an Castile gerichtet, aber sie könnten auch dem Publikum gelten, an das sie sich wendet.

Auch als wenige Tage zuvor in Baton Rouge (Louisiana) der bereits auf dem Boden liegende Alton Sterling von einem Polizisten erschossen wurde, war ein Zeuge mit einem Smartphone vor Ort. Nicht zufällig, sondern als Mitglied einer Aktivisten-Gruppe, die den Polizeifunk abhört und an Orte der Gewalt eilt, nicht um die Verbrechen von Polizisten zu dokumentieren, sondern zur Prävention in der schwarzen Community. Aber auch „Cop Watch“-Aktivisten sind in vielen Städten der USA unterwegs, die Polizisten selbst sind in immer stärkerem Maße mit Kameras ausgestattet, die ihre Einsätze aufzeichnen.

Geschätzt zwei Milliarden Menschen sind heute dank ihres Smartphones potenzielle Impromptu-Bürgerjournalisten. Seit Facebook Anfang des Jahres seine Livestream-Funktion freigeschaltet hat, sind sekündlich ungezählte Bewegtbildübertragungen auf Sendung. So haben auch Bilder, die Tode bezeugen, heute viele Leben und kommen unkontrolliert in die Welt. Traditionelle Massenmedien sind damit zwar nicht aus dem Spiel, aber sie verlieren ihre primäre Filterfunktion.

Die Medienmaschine setzt erst in einem zweiten Schritt ein, indem sie rezipiert, filtert, analysiert, weiterverbreitet, Anonymisierungen vornimmt oder Experten einlädt, die Bilder auszuwerten. Aber bevor die Aufzeichnungen in den Nachrichtensendungen ausgestrahlt werden, sind sie längst in den sozialen Medien unterwegs. Selbst Facebook, das ohnehin die Verantwortung für das, was auf seinen Seiten zu lesen und zu sehen ist, nach Möglichkeit von sich weist, greift in der Regel zu spät ein. Das Video des sterbenden Philando Castile nahm der Konzern nach einer Stunde vom Netz, bald darauf aber schaltete er es wieder frei. Fast sechs Millionen Nutzer haben es bislang allein auf Lavish Reynolds Facebook-Seite angesehen.

Auch als Zuschauer kann man oft kaum noch steuern, was man zu sehen bekommt: Viele Videos auf Twitter und Facebook und anderswo starten von selbst, sind in Ton und Bild in Bewegung, bevor man noch begriffen hat, was man eigentlich sieht. Diese ersten Bilder haben dann Karrieren, durch die sie in ihrer Bedeutung verändern. Sie geraten in andere Kontexte, konsolidieren sich oder verschwinden. Die Öffentlichkeit macht sich ein Bild, die Justiz begreift sie als Beweismaterial.

Es kann auch ein Spielfilm daraus werden wie Fruitvale Station von 2013, der die Smartphone-Bilder eines Falls von tödlicher Polizeigewalt in Los Angeles nach den Regeln der Kunst und der Dramaturgie in eine aufwendig inszenierte Geschichte übersetzt. Damit transformieren sich die Bilder weiter, sie gelangen als andere an andere Orte und wirken auch anders. Am Anfang jedoch werden immer öfter Momentaufnahmen wie die vom Abend des 7. Juli in Falcon Heights stehen: Bilder, die keiner mehr kontrolliert. Es bleibt – wie so vieles bei den neuen Medien – offen, ob das nun gut oder schlecht ist.

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Geschrieben von

Ekkehard Knörer

Redakteur Merkur, Mitherausgeber Cargo. Autor bei Freitag, taz.

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