Neue Beine braucht das Land

Mode Industrie und Werbung wollen Frauen jetzt in weiten Hosen sehen. Elena Beregow über den Zuschnitt der Saison
Ausgabe 16/2016
„Lasst uns zum gemütlich verpackten Gefühl zurückkehren", fordert die Vogue
„Lasst uns zum gemütlich verpackten Gefühl zurückkehren", fordert die Vogue

Bild: Reg Lancaster/ AFP/ Getty Images

Seit über einem Jahrzehnt prägen sie das Straßenbild, immer noch rufen sie hämische Bemerkungen hervor: die Skinny Jeans. Sie waren für beide Geschlechter das Kleidungsstück der späten nuller und frühen zehner Jahre. Androgyn angelegt, nicht nur für dünne Personen gemacht und nicht nur von ihnen getragen, sondern durchaus auch von kräftiger gebauten Menschen, scheinen die Skinny Jeans emanzipative Züge zu haben. Gleichzeitig erregten sie gerade mit ihrer Körperbetonung immer den Verdacht, im Dienst neoliberaler Selbstoptimierung zu stehen.

Nachdem die Skinny Jeans zuletzt noch enger wurden, auch durch neue Stretch-Varianten, Jeggins und Leggins, werden jetzt die Diagnosen ihres Verschwindens lauter. „Wie konnten diese eng anliegenden, hauchdünnen Möchtegern-Jeans die Weltherrschaft übernehmen?“, fragte unlängst etwa die britische Vogue und schlug ihren Leserinnen sinngemäß vor: „Lasst uns zu dem leicht verbeulten, gemütlich verpackten Gefühl zurückkehren, das man von anständig eingetragenen richtigen Jeans bekommt.“

Die Kritik, die der superschmalen Hose von Anfang an entgegenschlug – dass sie pubertär, ausschließlich auf schlanke Menschen oder „Hipster“ zugeschnitten, an Männern unmännlich und generell gesundheitsschädlich sei –, verhallte jedoch stets in der allgemeinen Tragepraxis, die keine Rücksicht auf Körperformen, Alter oder Geschlecht nahm und nimmt. Die Karriere der Skinny Jeans seit Beginn der Jahrtausendwende lässt sich an ihrer nahezu konkurrenzlosen Durchdringung des Straßenbildes festmachen, etwas, das kaum einem anderen Kleidungsstück in den vergangenen 20 oder 30 Jahren so gelang.

Kate Moss und Pete Doherty konnten in den 90ern noch von den Resten rebellischen Geistes zehren, der den Skinny Jeans durch ihre historische Verknüpfung mit Punk, Jugend und Dissidenz anhaftet; ihre Neuinterpretation war der Heroin Chic, eine Ausstellung von Dünn- und Kaputtheit, für die die enge Hüftjeans ein wichtiges Symbol wurde. Diese Konnotation ist jedoch spätestens in dem Moment hinfällig geworden, in dem Skinny Jeans auch bei Politikern zu sehen waren, etwa bei Teresa Gorman, einer britischen Konservativen.

Phallische Strumpfhosen

Die verhältnismäßig geringe Stoff- und Ressourcenmenge macht die Skinny Jeans zu einer sparsamen Hose – wie in Kriegszeiten, meint die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Kriegerisch wirkten auch die darin steckenden „neuen Beine der Frauen“ – weil die Ausstellung des Beins ein Zitat männlicher Militärkleidung der Renaissance sei und damit eine Form des „Crossdressing“. Das Tragen seidener Strumpfhosen habe bei Männern der Ostentation des Phallischen gedient, von Stärke und Gewaltbereitschaft sollte ihre vorrevolutionäre Mode zeugen, schrieb Vinken 2013 in ihrem Buch Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Dass diese Assoziation den heutigen Skinny-Trägerinnen eine kühne, kriegerische, ja verruchte Anmutung verleihe, ist eine starke These, vor allem angesichts der Schwierigkeiten, sich in den sehr engen Modellen überhaupt richtig bewegen zu können.

Kurz nachdem Vinken ihre These von den „neuen Beinen“ der Frauen vorgebracht hatte, begannen Designer wie Stella McCartney – Vorreiterin der Skinny Jeans –, Dries van Noten oder Mulberry damit, die schmalen gegen weite Hosen-Silhouetten einzutauschen. Auch in der Männermode werden seither verstärkt cleane, lockere Formen propagiert, die der Dominanz der schmal geschnittenen Anzüge nach dem Vorbild von Hedi Slimanes Dior-Homme-Linie mehr Volumen entgegensetzen.

Und tatsächlich, wer im Frühling 2016 aufmerksam die Warenauslagen in den Fußgängerzonen und Einkaufszentren studiert, stellt fest: Die wirklich modische Hose der Gegenwart scheint alles zu sein – nur nicht skinny. Sondern slimmy, slouchy oder cropped, wie die Modebranche ausladendere Schnittformen bezeichnet. Sie kommt jetzt als Bootcut (weit genug, um sie über Stiefeln zu tragen) oder Culotte (Hosenrock-ähnlich). Selbst die klassische Bundfalte kehrt dieser Tage zurück und steht neben der Tracksuit-Hose, einer Art Jogginghose mit geradem Bund.

Die Modelle werden nicht nur weiter, sondern auch länger, wie die mitunter über den Boden schleifenden „Marlene“-Hosen oder die Flared-Varianten mit extrem weitem Schlag zeigen. Auch der Schlaghose wird ein rebellischer Kern nachgesagt, allerdings handelt es sich um eine dem Punk-Bezug der Skinny Jeans gegensätzliche Referenz: die Suche der Hippies nach Weite und Freiheit, die im Boho-Look des verträumten Hippiemädchens Gestalt erhält. Schließlich lässt sich auch die Rebellion der 20er und 30er Jahre hinzufügen: Die Namensgeberin der Marlene, Marlene Dietrich, eröffnete Frauen mit ihrem Auftritt im Film Marokko 1930 den Zugang zur Hosenwelt, indem sie die männliche Anzughose in leichter Abwandlung – hoch sitzend und tailliert – populär machte.

Besonders angepriesen wird derzeit die Culotte, eine Art Hosenrock (siehe Foto). Coco Chanel eklärte die Culotte aufgrund der Bewegungsfreiheit, die sie bietet, zu ihrem Lieblingsstück: Anders als in einem Rock könne man darin sehr gut reiten. Gegenüber Vinkens Interpretation des betonten „engen“ Beins als Ausdruck von weiblicher Stärke ist es in der Referenz der 20er Jahre das Gegenteil, das weite Hosenbein, das Frauen den schneidigen und auf schreckhafte Männer womöglich „gewaltsam“ wirkenden Auftritt erlaubt. Auch sogenannte Frauenzeitschriften oder Stil-Ressorts lesen jene quasi-politische Referenz mit, wenn sie dieser Tage vom „erwachsenen Look“ der „starken Frau“ schwärmen, der untrennbar mit den entsprechend weiten Hosen verbunden sei.

Verändert die Wiederkehr der befreienden Hosenmoden nun aber tatsächlich die Silhouetten der Gegenwart? Die Haute Couture ist der falsche Ort, um dies zu überprüfen. Aufschlussreicher ist etwa die aktuelle Kollektion des Textilunternehmens Zara, dessen Mode so viel getragen wird, dass es H&M in seinen Umsätzen mittlerweile überholt hat. Zara ist bekannt für sein Konzept, mithilfe von Trendscouts, High-Fashion- und Street-Fashion-Analysen besonders schnell auf internationale Modeentwicklungen zu reagieren und diese in die Kollektionen einzuarbeiten, die dann vergleichsweise günstig für alle tragbar sein sollen.

Das Volumen täuscht

Ein Besuch auf der Zara-Webseite lässt eine schnelle Auswertung der Kategorie „Hosen“ zu: 46 Röhren- und Legginsmodelle stehen aktuell fast doppelt so vielen (89) weiten Schnitten gegenüber, einschließlich Bundfalte, Culotte und Marlene-Varianten. Es fällt auf, dass sich die Gesamtsilhouetten weiten. Auch die Oberbekleidung zu den weiten Hosen fällt häufig oversized aus. Fließende Stoffbahnen, die in großen Falten über die Taille fallen: Der Körper scheint darin ganz und gar zu verschwinden. Eignet sich diese luftige Mode, um voranzuschreiten im Dienst emanzipativer Bewegungsfreiheit?

Vor allem die voluminösen Culotten in Midi-Länge sind auf große, sehr schlanke Frauen zugeschnitten, der Reiz der Form entfaltet sich allein im Kontrast zwischen der schmalen Taille und der Weite des unteren Hosenbundes. In Kombination mit den voluminösen Oberteilen und im Gegensatz zu den kantigen Modellen der 20er und 30er Jahre zeichnet diese heutige Mode einen Körper, dessen Verhüllung seine Zerbrechlichkeit umso deutlicher ausstellt. Die zarten Nude-Töne und Blumenmuster der Materialien unterstreichen noch die fast „mädchenhafte“ Anmutung. Die Euphorie der Stilressorts über „die neue Erwachsenheit“ wird bei günstigen Ketten wie Zara also vorerst enttäuscht. Anders gesagt: Sowohl die Skinny Jeans wie auch die neuen weiten Hosen zeigen sich letztlich unbeeindruckt von der Politik ihrer Vorläufer und der Rhetorik ihrer Verkäufer.

In all den Referenzierungsbemühungen drückt sich vor allem der Wille zur akademischen Nobilitierung bestimmter Moden aus, etwa indem man sie jetzt erneut zum Crossdressing erklärt. Auf diese Weise wird die Mode ihrer historisch aufgeladenen Bedeutung untergeordnet – und bleibt in einer postmodernen Vervielfältigung von Referenzen gefangen.

Was es alltagspraktisch bedeutet, eine bestimmte Hose zu tragen, lässt sich nur durch einen Besuch bei Zara oder verwandten Geschäften herausfinden. Und ein solcher Besuch ergibt vor allem eines: Gleich beim Eingang wird die Kundin von Culotte tragenden Puppen begrüßt. Draußen auf der Straße erscheint die Vorherrschaft der Skinny Jeans aber faktisch ungebrochen.

Elena Beregow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Soziologie der Universität Hamburg. Der Text basiert auf einem Beitrag für das vierteljährlich erscheinende Magazin Pop. Kultur & Kritik (pop-zeitschrift.de)

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