Der Chor geht vor

Dokumentarfilm In „Maidan“ erzählt Sergei Loznitsa die ukrainischen Proteste auch als moderne Schlachtengemälde
Ausgabe 36/2015

Am Anfang steht eine minutenlange Einstellung, in der Menschen die ukrainische Nationalhymne singen. Es sind viele Menschen, sie nehmen das ganze Bild ein, nichts als Menschen – ein Chor, eine Masse, aber keine gesichtslose. Im Gegenteil: Weil die Einstellung statisch ist und so lange dauert, wie das Singen der Hymne von Anfang bis Ende eben dauert, ist ausreichend Zeit, einzelne Gesichter und Details zu studieren. Die kalte Luft macht Atemwölkchen, viele Männer haben ihre Pelzmützen vom Kopf genommen. Eine Frau vorn in der Mitte singt voller Inbrunst, ein älterer Mann weiter hinten bewegt seine Lippen gar nicht. Die Einstellung dauert noch immer, und mein Ohr bleibt an der Textzeile „Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne“ hängen. Wie eigentümlich Poesie und Martialität sich darin verschränken.

Italienischer Klassiker

Sergei Loznitsas Film Maidan dokumentiert die Proteste auf dem Kiewer Maidan-Platz im Winter 2013/14 und hält dabei konsequent fest an den formalen Parametern, die mit dem ersten Bild gesetzt sind: statische Einstellungen, Totalen, die dauern. Es gibt in diesem Film – der schon im Mai 2014, also nur kurz nach den gezeigten Ereignissen, seine Premiere in Cannes hatte – keine Interviews, keine talking heads, keine Kommentar- oder Erzählerstimme. Nur ein paar spärlich eingestreute Textinserts bieten, weiß auf schwarz, knappe Informationen über die politische Situation in der Ukraine und die Lage auf dem Maidan.

Den Rest muss sich die Zuschauerin selbst zusammenreimen – auch das fordert auf zu genauem Hinschauen. Der Film folgt den Ereignissen chronologisch und entfaltet sie in epischer Breite, beginnend bei den friedlichen Massenprotesten im November über die Eskalation der Auseinandersetzungen im Januar und Februar, mit über 100 Toten und vielen Vermissten. Am Ende von Maidan stehen Aufnahmen einer Trauerfeier für die Getöteten.

Drei Mal noch taucht im Film der politisch und symbolisch aufgeladene Akt des Singens der Nationalhymne auf, überhaupt spielen Musik und Gesang eine wichtige Rolle. Ein Dudelsackspieler musiziert inmitten von Steinewerfern, kleine Kinder singen Weihnachts- und Volkslieder, es erklingt eine umgedichtete Version des italienischen Partisanenklassikers Bella Ciao. Immer wieder schallen körperlose Lautsprecherstimmen über den Platz, die (in manchmal durchaus befremdlicher Rhetorik) den Ruhm und die Ehre der Ukraine beschwören.

Maidan registriert die Pathosformeln der Revolution in all ihren Variationen und scheut sich dabei insbesondere in der zweiten Filmhälfte, die die Kämpfe zwischen Protestierern und der Polizei zeigt, nicht, Anleihen bei den Traditionen europäischer Historien- und Schlachtengemälde zu nehmen (Loznitsa selbst nennt Eugène Delacroix und die Wimmelbilder von Pieter Bruegel als Referenzen) und ausgesprochen malerisch zu werden: Da wehen die Fahnen, da bauscht sich der Rauch, da flackern die Feuer vor nachtschwarzem Himmel.

Griechische Tragödie

Mindestens ebenso wichtig aber ist Loznitsa das, was hinter der großen Bühne des Maidan und jenseits pompöser Sing- und Sprechakte geschieht. Er filmt die Hinterzimmer, in denen Männer und Frauen mit blauen Plastikhauben Butterstullen schmieren, er filmt die Verteilung von Feuerholz, die Ausgabe von heißem Tee. Er interessiert sich für die informelle Ordnung und improvisierte Organisation, die sich rund um den Maidan gebildet hat, für die unzähligen unscheinbaren Orte und Handlungen, die gewissermaßen die Infrastruktur des revolutionären Ereignisses bilden.

Auch diese Aufnahmen sind sorgsam komponiert und kadriert. Zu keinem Zeitpunkt werden einzelne Menschen von der Kamera isoliert und herausgehoben, immer stehen das Zusammenspiel mehrerer Menschen und kollektives Handeln im Mittelpunkt des Bilds. „Es gibt genug alte, langweilige Geschichten über Helden. Es ist Zeit für komplexere Erzählungen“, hat Loznitsa vor kurzem in einem Interview mit der taz erklärt. Mit Maidan hat er es tatsächlich geschafft, eine narrative Form, einen Modus filmischer Historiografie zu finden, der auf individuelle Protagonisten verzichtet und das Kollektiv als historischen Akteur herausstellt.

Komplex ist diese filmische Geschichtsschreibung noch in weiterer Hinsicht. Denn obwohl in der ungeschnittenen Dauer von Loznitsas statischen Einstellungen vom Maidan ein gesteigerter Objektivitätsanspruch zu liegen scheint, tritt Maidan ohne jeglichen Positivismus, ohne jedes Dokumentaristenpathos auf. Loznitsa weiß, dass einfaches Abfilmen nicht geht und Zeigen-wie-es-eigentlich-gewesen-ist zugleich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Weil er, der in Kiew aufgewachsen ist und mittlerweile in Deutschland lebt, Partei ist. Und weil jede Geschichtsschreibung von narrativen Mustern, von kulturellen Prägungen und Formatierungen abhängt.

Es sind also Geschichten (Bilder, Szenen, Artefakte und Fiktionen), die an Geschichte mitschreiben. Sergei Loznitsas Film bleibt durchlässig für solche Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen Kunst, Fiktion und Geschichtsschreibung. Das zeigt sich in seinem Bezug auf die Malerei, aber auch in der prominenten Rolle des Chors: „Ich sehe die Ereignisse rund um den Maidan wie eine griechische Tragödie. Am Anfang steht eine Gruppe von Menschen, der Chor ... Der Chor in Maidan stellt die Frage nach der Würde des Volkes. Und er weigert sich, die Bühne zu verlassen, bis diese Frage geklärt ist ... So sehe ich das, weil ich die europäische Kultur gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen habe. Ägyptische Filmemacher, die einen Film über die Ereignisse am Tahrir-Platz machen, haben wahrscheinlich andere Referenzen.“

Info

Maidan Sergei Loznitsa Ukraine/Niederlande 2014, 128 Minuten

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