Hanna Schygulla sitzt in ihrem Wohnzimmer und malt mit Fingerfarben. Eine Videokamera projiziert Szenen aus Fassbinder-Filmen auf weißes Papier, Schygulla fährt Linien und Umrisse nach, während sie über früher plaudert. Die Szene aus Annekatrin Hendels neuem Dokumentarfilm Fassbinder kann und will wohl als selbstreflexiv-poetologische Geste verstanden werden. Nachzeichnen und Neuschreiben sind das ureigene Geschäft des Genres.
Auf der anderen Seite ist mit dem Bild der mit Fingerfarben malenden Ex-Diva ein infantiler Ton angeschlagen, der sich durch den ganzen Film zieht. „Wie war’n das damals?“, hört man die Regisseurin aus dem Off ihre Gesprächspartner anhauen – etwa Irm Hermann, Margit Carstensen, Harry Baer und Volker Schlöndorff, die durchaus Interessantes zu berichten haben.
Die ausgestellte Lockerheit und Hemdsärmeligkeit von Hendels Fragen geht schnell auf die Nerven, umso mehr, als der Film zu seinem Gegenstand ein ähnlich naives Verhältnis entwickelt. Fassbinders Leben und Werk interessieren nur insoweit, als sich beide aufeinander abbilden lassen: Rainer ist Petra von Kant! Rainer ist Veronika Voss! Hanna Schygulla ist Rainers Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten!
Fassbinders Filme werden also einer rein biografischen Lesart unterworfen, und gleich zweimal wird dazu ein Interviewschnipsel gezeigt, in dem Fassbinder über die persönliche Natur seiner Filme spricht, als gelte es, die biografische Perspektive vom Meister selbst absegnen zu lassen.
Das ist brav, verstellt aber den Blick auf interessantere ästhetische und politische Fragen: Warum etwa können das Leben und Arbeiten in der Gruppe, das Hendels Film genüsslich auswalzt, von heute aus anscheinend nur noch als eine Art Menschenversuch wahrgenommen werden, manipulativ und brutal? Was sagt dieser Blick auf Fassbinders Factory über unsere postutopische Gegenwart aus?
Theaterförmig
Hendels Film, der von der Rainer Werner Fassbinder Foundation mitproduziert wurde und laut Credits auf eine Idee von deren Chefin Juliane Lorenz zurückgeht, wärmt nur den Mythos vom manisch-produktiven Giganten auf, der sich für seine Kunst verschwendete. In einer wiederkehrenden Montagesequenz rasen dem Zuschauer Fassbinder-Filmtitel entgegen, brachial untermalt von einem Rammstein-Song: „Hier kommt die Sonne … Sie ist der hellste Stern von allen.“ So kann man Filmgeschichte auch schreiben. Damit trägt Fassbinder allerdings kaum dazu bei, den Vorwurf zu entkräften, dem sich die Fassbinder Foundation seit Jahren ausgesetzt sieht: dass sie geschichtsklitternden Geniekult betreibe.
Sehr viel komplexer ist die Rekonstruktion angelegt, die Gerd Kroske mit seinem Dokumentarfilm Striche ziehen unternimmt. Kroske, der zuletzt ein schönes Porträt des Malers und Radiokünstlers Heino Jaeger vorgelegt hatte, begibt sich mit dem neuen Film ins Weimar der frühen 80er Jahre. Hier tummeln sich die Brüder Thomas und Jürgen Onißeit in der Punkszene, man spielt in Bands, dreht dadaistische Super-8-Filme und schmiert dissidente Slogans auf Häuserwände: „Macht aus dem Staat Gurkensalat!“ Die Stasi kriegt Wind davon und steckt Thomas für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Jahre später kommt raus: Jürgen hatte damals als IM gearbeitet und seinen Bruder verraten.
Es wäre einfach, aus diesem Material eine schwarz-weiße Geschichte zu stricken, in der Gut und Böse klar verteilt sind. Oder anders: Es ist sehr schwer, das nicht zu tun. Aber Kroske kriegt’s hin. Genauso wie sein Filmtitel zwischen widerständiger Geste („Strich durch die Rechnung“) und Verdrängungsbegehren („Schlussstrich“) oszilliert, erkundet er die Ambivalenzen und unauflösbaren Spannungen der Geschichte. Jürgen Onißeit, ein fragil und feingliedrig wirkender Mann mit grauweißer Hippiemähne, kommt dabei ausführlich zu Wort, angetrieben durch die höflichen, zögerlichen und leisen, aber durchaus insistierenden Nachfragen des Filmemachers. Dabei entwickelt Kroske eine Off-Präsenz, die ähnlich erkennbar ist wie die Hendels, aber viel weniger flapsig und viel stärker mit dem filmischen Geschehen verwoben – nicht als Figur der Anklage, sondern als eine der Mediation.
Auch wenn alle Beteiligten glaubhaft beteuern, sie wollten „kein Tribunal“, drängt sich beim Nachdenken über Striche ziehen spätestens an dieser Stelle die Sprache des Rechts auf. Und weil das Recht nie film-, sondern immer theaterförmig ist, weil darüber hinaus die unglaubliche Geschichte der Brüder Onißeit ohnehin zwischen antiker Tragödie und absurdem Theater angesiedelt zu sein scheint (mit, das kann hier leider nur angedeutet werden, grotesken Masken, geheimen Türen in grandioser Kulisse und einem bösen Deus ex Machina), inszeniert Kroske gegen Ende von Striche ziehen ein Aufeinandertreffen der beiden Brüder, die sich seit Jahren nicht gesehen haben.
Es findet auf der amphitheaterähnlichen Freifläche vor dem Berliner Künstlerhaus Bethanien statt: dramatische Konfrontation, Klimax, die Sehnsucht nach Auflösung und Katharsis. Wer sehen will, ob sich diese Sehnsucht erfüllt, muss ins Kino gehen.
Info
Fassbinder Annekatrin Hendel D 2015, 92 Min.
Striche ziehen Gerd Kroske D 2015, 100 Min.
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