Fangen wir mit dem Ende an. Der Film entlässt seine Zuschauer, der Abspann läuft. Weiß auf schwarz rollen die Namen von Stars und Sternchen ab: Matt Damon und Jessica Chastain, Kristen Wiig, Jeff Daniels und viele andere. Dazu erklingt Gloria Gaynors Disco-Hit I Will Survive. „Das Lied handelt davon, wie sich das lyrische Ich von einem psychischen Zusammenbruch erholt, der durch den Bruch einer Beziehung hervorgerufen wurde“, formuliert Wikipedia etwas steifbeinig (es geht um Disco!) und fügt hinzu: „Vor allem in der Schwulenszene hat das Lied Kultstatus erreicht und gilt als eine der wichtigsten Hymnen schwulen Selbstwertgefühls, des sogenannten Gay Pride.“
Damit ist Gaynors Hit von 1978 ein Paradebeispiel für die Funktionsmechanismen von Popkultur: Zitation und Appropriation, Neukontextualisierung und Bedeutungsverschiebung. Ridley Scotts neues Weltraumdrama Der Marsianer beherrscht das Pop-Spiel ebenfalls – das inbrünstig vorgetragene I Will Survive fasst schön das Dilemma von Astronaut Mark Watney (Matt Damon) zusammen, den seine Kollegen aus Versehen auf dem Mars zurückgelassen haben und der jetzt allein sehen muss, wie er klarkommt. Und vor allem: wie er zurückkommt. Nach Der Marsianer wird man Gaynors Song mit anderen Ohren hören: „And you came back from outer space.“ Von wegen Beziehungsende.
Nehmen, was da ist (Disco-Hit), und etwas Neues und Anderes draus machen – diese basale Pop-Operation, die Der Marsianer hier vollzieht, nennt man bricolage, der französische Begriff für Bastelei oder Heimwerkerei. Im Grunde ist Scotts ganzer Film nichts anderes als eine Apotheose der Heimwerkerei, eine Ode an den Tüftler-Nerd. Denn Watney, studierter Botaniker, wird in der Mars-Einsamkeit nicht depressiv, sondern geht das Projekt Survival mit Tatkraft und Erfindungsgeist an. Reste und Abfälle kommen dabei zum Einsatz: Mithilfe des verschrotteten Pathfinders, der in den 90er Jahren Bilder vom Mars auf die Erde geschickt hatte, stellt Watney Funkkontakt zur NASA her. Und mit Hilfe seiner eigenen Scheiße gelingt es ihm, auf dem Mars Kartoffeln anzubauen.
Leicht, leichter, immer leichter
Wie das genau geht (es soll tatsächlich alles wissenschaftlich plausibel sein, die Romanvorlage von Ex-Software-Entwickler Andy Weir war gut recherchiert: Google), erläutert Watney in tagebuchartigen Videoaufzeichnungen; durch sie löst Der Marsianer gleichzeitig die Herausforderung, mit nur einer einzigen Figur Exposition bewerkstelligen zu müssen, diese Figur zum Sprechen zu bringen und so die Zuschauer zu involvieren. In ihrer Aufmachung erinnern die Aufzeichnungen an Vlogs, wie Teenager sie heutzutage auf Youtube stellen; auch in der filmischen Form also die Anmutung des Selbstgemachten. Do-it-yourself-Handgreiflichkeit statt Hightech. Nicht das Erhabene (der Technologie, des Alls) interessiert Der Marsianer, sondern das Gefriemelte und Improvisierte, nicht die grandiose Theorie, sondern das praktische Know-how – als Science-Fiction-Film ist der Film das Gegenstück zu Christopher Nolans schwerer verdaulichem Interstellar (2014).
Schwer will Der Marsianer nicht sein, sondern leicht, leichter, immer leichter, bis zum Abheben. Disco-Glam hilft dabei: Die Montagesequenz, die die vereinten Vorbereitungen zu Watneys Rettung zeigt, auf der Erde und im Weltall, ist mit David Bowie unterlegt („There’s a starman / waiting in the sky“), jubilatorisch und schwerelos. Leicht soll auch die von einem etwas verwahrlost aussehenden NASA-Ingenieur präsentierte Raketenkonstruktion sein, in der Watney den Mars verlassen wird. Alles Überflüssige muss weg, Kontrollpanels raus, Fenster raus, Raketenbug raus. „Du willst ihn in einer Zeltplane in den Weltraum schicken?“, fragt der NASA-Chef konsterniert, und das Publikum lacht. Der Marsianer ist oft ziemlich lustig.
Der Film verbringt mindestens so viel Zeit im kalten Blau der irdischen NASA-Kontrollräume wie im warmen Dunkelrot der Marswüsten, schneidet hin und her zwischen hier und da. Der verlorene Sohn kann nicht von allein und aus eigener Kraft auf den blauen Planeten zurückkehren, sondern nur, wenn alle zusammenarbeiten. „It’s space, it doesn’t cooperate“, sagt Watney an einer Stelle – die Menschen kooperieren dafür umso mehr, die Chinesen opfern ihre nächste Weltraummission, um bei der Watney-Rettung zu helfen. Der Marsianer glaubt an die große Kooperation, an weltumfassenden Teamgeist. Es gibt keine Bösen in diesem Film – vom unkooperativen space mal abgesehen.
Befeuert von Disco-Musik, ist Der Marsianer also ein hochoptimistischer Film, der an das Gute im Menschen und in der Technik glaubt, an Friede, Freude, Fortschritt. Das könnte nerven, tut es aber nicht. Denn unter der „Wir schaffen das“-Melodie liegt noch ein anderer, melancholischerer Grundton. Letztlich erzählt Scotts Film eine Geschichte vom Wenigerwerden und allmählich schwindenden Kräften, eine Geschichte, die sich vor allem auf dem Körper ihres Protagonisten abspielt.
Immer kleiner, dünner, schwächer wird Watney im Verlauf des Films. Sein breites Kreuz und der pralle Bizeps, die zu Beginn des Films dem Zuschauerblick dargeboten werden, sind gegen Ende weggeschmolzen; der starke Astronaut hat sich in einen blassen und hageren Körper verwandelt. Die ganze Richtung der Erzählung weist nicht nach vorn, sondern rückwärts: Nach Hause will auch dieser Space-Age-Odysseus. Was das im Weltraumkino bedeutet (Mutterleib und so), macht Der Marsianer aufs Schönste deutlich. „Lasst uns unseren Jungen holen“, sagt Jessica Chastain als Kommandantin der Rückholaktion. Und dann: Nabelschnurballett.
Info
Der Marsianer Ridley Scott USA 2015, 130 Min.
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