Museum der Gemeinsamkeit

60. Kurzfilmtage Das Festival in Oberhausen rüstet sich für eine Zukunft nach dem Kino und stellt etwa Überlegungen zum filmlosen Film an
Ausgabe 19/2014

Montagnachmittag in Oberhausen, Diskussion. „Nostalgia is not a dirty word“, erwidert eine Dame aus dem Publikum auf die Frage, was eine Performance mit vier 16mm-Projektoren (On/Off von Sandra Gibson und Luis Recorder) über die – soziale, politische, medientechnologische – Gegenwart aussagen könne. Im 60. Jahr nach ihrer Gründung sind die Kurzfilmtage in der Tat nicht ganz frei von der Sehnsucht nach dem „schönen analogen Licht“ (Sandra Gibson): 8mm und 16mm, Flicker und Bolex, alles da. Ebenso präsent ist die Rede vom Niedergang des Kinos. Es gelte, so Festivalleiter Lars Henrik Gass bei der Eröffnung, das „Kino noch einmal zu entdecken, bevor es verschwindet“. Schon in dem Essay Film und Kunst nach dem Kino von 2012 hatte Gass die missliche Lage analysiert und eine Art Mehrfrontenkrieg gezeichnet, in dem das Kino nicht nur unter den Zumutungen des Marktes leidet, sondern auch den Vereinnahmungsgesten des Kunstbetriebs ausgesetzt ist: White Cube killt Black Box.

Es ist insofern programmatisch, dass der diesjährige Themenschwerpunkt Memories Can’t Wait – Film without Film, den der finnische Künstler Mika Taanila kuratiert hat, fast ganz auf Filmbilder verzichtet und stattdessen die Black Box des Kinos selbst in den Mittelpunkt stellt. Es geht darum, das Kino als Raum von Erfahrungen sichtbar und stark zu machen, die kein Videoabend und kein Kunstfilm-Loop ersetzen können. Was bei Gass manchmal ein wenig studienrätisch daherkommt (Kino wichtig, weil kollektiv, sozial, demokratisch), wird in Taanilas Zusammenstellung historischer und neuer filmloser Kino-Arbeiten anschaulich.

So nimmt die Performance Museum of Loneliness presents Lee Harvey Oswald’s Last Dream von Chris Petit und Emma Matthews ihren Ausgang von einem echten Kino-Ereignis, der Verhaftung von Lee Harvey Oswald in einem Kino in Dallas kurz nach Kennedys Ermordung. Für eine gute Stunde lassen Petit und Matthews das Publikum im Oberhausener Filmtheater Platz nehmen, einer Sound-Collage lauschen und dabei nichts als sich selbst sehen, von einer Wärmebild-Kamera gefilmt und in Echtzeit auf die Leinwand projiziert: sich sehen sehen und gleichzeitig sehen, rot auf blau, dass etwas passiert, wenn Menschen im Dunkeln des Saals für die Dauer eines Kinofilms zusammenkommen – die Temperatur steigt. Ob das schon als kollektive und soziale Erfahrung qualifiziert, bleibt auf angenehme Weise unterbestimmt.

Licht für Howard Hawks

Während es Petit und Matthews gelingt, Publikumsbeteiligung charmant als intentionslose und unwillkürliche ins Spiel zu bringen, wird dieser Punkt in anderen Arbeiten des Programms zur Schwachstelle. Zu sehr forcieren viele der filmlosen Kino-Ereignisse das, was Gass die „einfühlsame Mitwirkung” des Publikums nennt, auch bekannt als: Interaktivität. In Stations of Light: Installation for Two Movie Theaters, One Audience, and Musician (ebenfalls Sandra Gibson und Luis Recorder) werden die Zuschauer zwischen Kinosälen hin- und hergescheucht, beim Stück Entrac’te von Roland Sabatier sollen sie den Soundtrack selber liefern, und der Fliegerfilm Hell’s Angels von Ernst Schmidt Jr. (eine Hommage an Howard Hawks) besteht nur aus dem Lichtstrahl eines Projektors, durch den das Publikum, wenn es will, Papierflieger sausen lassen kann. Natürlich will das Publikum, und natürlich ist das schnell ein wenig albern.

Überhaupt: Was passiert mit dem Zwang zur anderen Wahrnehmung, zur Wahrnehmung als anderer, die Gass in Film und Kunst nach dem Kino als entscheidendes Merkmal des Kinos bestimmt hatte, wenn das Publikum im filmlosen Kino auf sich selbst zurückgeworfen wird? Und sowieso: Ist Interaktivität nicht total Web 2.0?

Vielleicht ist es eine Folge von Oberhausens zwittriger Stellung zwischen der Kunst und dem Kino, dass die Kurzfilmtage Zonen von höchst unterschiedlichem kuratorischem Sättigungsgrad hervorbringen. Während auch die einzelnen Filmemachern gewidmeten Profile (zu Mara Mattuschka, Deimantas Narkevicius, Aryan Kaganof und, eine Entdeckung, Wojciech Bąkowski: minimalistisch-monochrome Computerspielgrafiken mit düsterem New-Wave-Gedröhne) mit Kuratorensignatur und -subjekt auftreten, herrscht in den eigentlichen Wettbewerbssektionen fröhlich unkuratierter Wildwuchs.

Das wäre dann die wahrhaft interaktive Tätigkeit: sich durch den Wust wühlen, in dem nicht alles, aber vieles Platz hat, in dem Halbstünder neben Zweiminütern, kolumbianische Marionetten neben animierten Aborigines-Fabeln stehen. Mich haben, abgesehen von Funahashi Atsushis Dokumentarfilm zur Lage um Fukushima (Radioactive), vor allem drei deutsche Produktionen beeindruckt: Loretta Fahrenholz’ verschmitzer Film My Throat, My Air, der Fassbinder-Schauspieler Ulli Lommel auf Münchner Laminatfußboden eine Nebenrolle spielen lässt und in schönem Diskoglitzern endet; außerdem Alles was irgendwie nützt von Pim Zwier, der auf kluge Weise Fotografien aus einer Hallenser Tierversuchsanstalt um 1900 montiert und schließlich Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen von Susann Maria Hempel: ein filmisches Andachtsbuch, ein thüringischer Heimatfilm, verstörend verzweifelter Trickfilmhorror.

Oberhausen, schöner Wust.

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