Zittert, Münder

Diagonale ’18 Das Festival des österreichischen Films sucht Verbindungen zur Gegenwart
Ausgabe 12/2018

Die Eröffnung der Diagonale fiel dieses Jahr – heuer, wie die Österreicher sagen – auf einen Tag mit historischer Bedeutung: Am 13. März 2018 jährte sich der „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland im Jahr 1938 zum 80. Mal. Das Grazer Festival erinnerte daran auf seine Weise und eröffnete mit einem Spielfilm, der die österreichische Mitschuld an Zweitem Weltkrieg und Holocaust ins Zentrum rückt, genauer: deren mangelnde Aufarbeitung.

Der Film Murer – Anatomie eines Prozesses von Christian Frosch erzählt die wahre Geschichte vom SS-Mann Franz Murer, dem „Schlächter von Wilna“, der als einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Vilnius 1963 in Graz vor Gericht stand – und in einem skandalösen Urteil freigesprochen wurde. Bis zu seinem Tod 1994 konnte Murer unbehelligt weiter in der Steiermark leben und sich als Funktionär für die ÖVP engagieren, sein Sohn Gerulf ist FPÖ-Politiker.

Es geht nicht nur darum, das juristische Davonkommen von Leuten wie Murer zum Thema zu machen, sondern auch darum, ihre Taten überhaupt ins Gedächtnis rufen: Im Gespräch nach dem Film erzählt Regisseur Frosch, wie er in einem litauischen Museum erstmals auf den Namen Murer gestoßen ist, von dem er in Österreich nie etwas gehört hatte. Dass die Diagonale in Zeiten der seit Dezember regierenden Koalition aus ÖVP und FPÖ regiert auf diese Weise eröffnet, ist als politisches Statement zu werten, und am Ende erhielt Murer – Anatomie eines Prozesses sogar den Großen Preis der Diagonale.

„Ein wirklich großer Gerichtsfilm...voller Porträts der Conditio humana,“ heißt es in der Begründung der Jury. Dieses etwas altbacken formulierte Lob weist aber auch auf die Probleme des Films hin: Er ist konventionell inszeniert, als Aneinanderreihung theatral deklamierter Monologe, die eine in nervösen Reißschwenks zuckende Kamera nicht auflockern kann.

Brachiale Schauspielführung

Ärgerlich ist die brachiale Schauspielführung – in einem Fort weit aufgerissene Augen und zitternde Münder. Jede Gefühlsregung soll sichtbar werden, muss sich überdeutlich abzeichnen auf Gesichtern und Körpern, und zwar insbesondere bei jenen Darstellern, die die Zeugen vor Gericht, die jüdischen Opfer spielen. Dazu kommt ein Realismusbegehren, das die Kluft zwischen filmisch-fiktionaler Rekonstruktion und historischem Geschehen kaum reflektiert und die eigenen Inszenierungseingriffe nicht transparent macht. Das alles fühlte sich für mich – auch und gerade vor dem historischen Hintergrund des Stoffes – falsch an.

Vielleicht ging mir Murer – Anatomie eines Prozesses auch deshalb so gegen den Strich, weil direkt vorher ein Film lief, der das österreichische Verhältnis zur eigenen Kriegsvergangenheit ebenfalls kritisch in den Blick nahm, dabei aber ein anderes Archiv-Bewusstsein sichtbar werden ließ. Waldheims Walzer von Ruth Beckermann, der auf der Berlinale schon zu sehen war, kompiliert historische Film- und Fernsehaufnahmen zu einer Chronologie der Affäre um Kurt Waldheim, dessen NS-Vergangnenheit ans Licht kam, als er sich 1986 um das österreichische Präsidentenamt bewarb. Beckermanns Film zeigt die politischen Bruchlinien von damals, strahlt dabei aber auch eine Leichtfüßigkeit aus – ein Effekt eleganter und musikalischer Montage: 1986 erscheint hier auch als hoffnungsvoller Moment politischen Widerstands, als Beginn eines Umbruchs, mit dem Österreich neu und anders über seine Vergangenheit nachzudenken begann. Nicht im Film selbst, aber in der anschließenden Diskussion ging es darum, dass 1986 freilich auch den Beginn des Aufstiegs von Jörg Haider markiert – immer wieder wurde so auf der Diagonale Geschichte in ein lebendiges Verhältnis zur politischen Gegenwart gesetzt und nach Zusammenhängen zwischen Gestern und Heute gefragt.

Ganz ohne historische Umwege explorierte eine Reihe weiterer Dokumentarfilme den österreichischen Status Quo. Zu ebener Erde ist eine behutsame Langzeitbeobachtung über Obdachlose in Wien, ein Film, der fast zärtliche Porträts einzelner Menschen zeichnet und dabei zugleich strukturelle Mechanismen von gesellschaftlich-urbaner Unsichtbarmachung sichtbar zu machen sucht. Weapon of Choice von Fritz Ofner und Eva Hausberger hebt im Duktus einer reißerischen VICE-Reportage an, mausert sich dann aber zu einer fesselnden, souverän erzählten und minutiös recherchierten Spurensuche rund um den Waffenhersteller Glock, der seit den achtziger Jahren von Deutsch-Wagram in Niederösterreich aus die Welt mit Waffen beliefert – größter Exportschlager Österreichs neben Rechtsextremismus, witzelt der Moderator vor dem Film.

Den Großen Preis der Diagonale in der Kategorie Dokumentarfilm erhielt Die bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter: eine Ortsbegehung am Brenner, im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich, zwischen Nord- und Südtirol; dort, wo Österreich 2016 Grenzzäune wieder errichten wollte, um illegal Einreisende abzuhalten. Geyrhalter fragt Menschen vor Ort – Polizisten und Jäger, Bergbauern und Wirtsleute, Mautkassiererinnen und senegalesische Bauarbeiter – nach der Bedeutung von Grenze und Einwanderung, und fast jedes Interview nimmt eine unerwartete Wendung. Einziges Manko dieses klugen Films, der Ambivalenzen auslotet statt Stereotypen festzuschreiben und ein feines Gespür für das Absurde im Ernsten hat: Die Flüchtlinge, über die endlos Reden produziert werden, bleiben auch hier abwesend, eine Leerstelle.

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