„Es hat sich viel verändert. Und teilweise hat sich auch nichts verändert.“ So paradox schätzt Lea Goebel, Dramaturgin am Schauspiel Köln und Kuratorin des Netzmarktes beim Heidelberger Stückemarkt, die Entwicklungen im Digitaltheater der vergangenen zweieinhalb Jahre ein. Wie kann das sein? Einerseits, sagt sie, hätten die Stadt- und Staatstheater ihre Berührungsängste mit dem Digitalen verloren. „Wir sind mittlerweile weiter als die damaligen Argumente – ‚wir sind überrollt worden, mussten uns erst mal orientieren, wissen nicht, wie Streaming funktioniert‘ –, erklärt die Dramaturgin. „Einige Theater verstetigen das Digitale, denken mittel- und langfristig, sodass es mehr ist als eine Notl
Endlich WLAN: Entdeckt das Theater der Zukunft die Digitalisierung?
Aufbruch Die Pandemie zwang die Bühnen zur Digitalität, viele Theater mussten neue digitale Formate aufstellen. War all das provisorisch? Oder ist es die Zukunft? Und vor allem: Was bleibt davon?
ösung. Das ist erfreulich.“Andererseits merke sie beim Kuratieren für den Heidelberger Netzmarkt, der seit 2021 im Rahmen des Festivals für zeitgenössische Dramatik auch wegweisende Digitalproduktionen zeigt, dass ihre Longlist kürzer ist als in den vergangenen beiden Jahren. Letztlich gebe es weniger Zuwachs als erhofft im Kreis der Enthusiasten, die das Digitale – und mithin so unterschiedliche Technologien, Plattformen und Ansätze wie Virtual und Augmented Reality, Live-Streaming auf Zoom oder Twitch und hybride Produktionen, die digitale Praktiken in die Live-Aktion auf der Bühne einbinden – als eine wünschenswerte bis unabdingbare Ergänzung zu analogem Theater sehen.VR-Brillen per PostEine Enthusiastin der ersten Stunde ist Tina Lorenz. Seit zehn Jahren trommelt sie für digitales Theater – und wurde im Juli 2020 als Projektleiterin für Digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg angestellt. Als erstes deutschsprachiges Theater bekannte sich Augsburg damit personell verbindlich zu einer digitalen Sparte. Lorenz kam mit ihrer bis dato seltenen biografischen Verbindung aus Sozialisation im Chaos Computer Club und Studium der Theaterwissenschaft mit anschließenden Jobs als Dramaturgin und Referentin für digitale Kommunikation an ein Haus, das bereits vor der Pandemie erste ernsthafte Erfahrungen mit Virtual Reality (VR) gemacht hatte. Für eine Operninszenierung, die wegen einer Sanierung nicht auf der großen Bühne stattfinden konnte, schaffte das Augsburger Theater 2020 einen Satz VR-Brillen an – 500 Stück, für jede:n Zuschauer:in am Spielort eine.Diese Investition soll sich jetzt im Spielplan von „vr-theater@home“ lohnen. In allen Augsburger Sparten – Schauspiel, Oper, Ballett – entstehen eigens digitale Produktionen. Ansehen kann man sie sich deutschlandweit: Das Staatstheater verschickt VR-Brillen per Post. Und baut langsam, aber zielsicher, ein Repertoire für diese Spielform des Digitaltheaters auf. Form und Inhalt nähern sich dabei immer weiter an – Augsburg ist über die Experimentierphase hinaus. 2023 hat etwa Unser Leben in den Wäldern Premiere. In dem Roman von Marie Darrieussecq verwirrt die Erzählerin ihre Leser:innen mit unklaren Eindrücken einer wandelbaren Welt. Im Augsburger Digitaltheater soll eine an die Generative Kunst angelehnte Videoästhetik diese Schilderungen einer irrealen, instabilen Umgebung vermitteln. Bäume hängen wurzellos einen halben Meter über dem Boden, Dinge morphen ineinander und „alles flickert und flackert“, sagt Tina Lorenz.Beim Nichtstun zuguckenDas wirkt zwar nachhaltig und durchdacht, doch kostet viel Geld. Augsburg hat sich dazu entschlossen und wird von den Fördergebern unterstützt. Aber es sind wenige Häuser in Deutschland, bestenfalls zwei Hand voll, die sich Digitaltheater ernsthaft auf die Fahnen schreiben. Begründet ist das auch in den strukturellen Herausforderungen, die Lea Goebel beschreibt: „Das sind wie immer die Ressourcen, das Geld, die Proberäume, die Jahresdisposition.“ Hier brauche es ein echtes Bekenntnis – und dann personelle und finanzielle Zuweisungen. „Es gilt, dem Digitaltheater die gleichen Bedingungen einzuräumen wie den Produktionen, die an einer analogen Spielstätte stattfinden.“Placeholder image-1Am Schauspiel Köln hat man die Einrichtung einer digitalen Sparte durchgerechnet und kam auf mehrere Hunderttausend Euro, hochgerechnet auf mehrere Spielzeiten. Eine Summe, die sich das Haus nicht leisten kann. Jetzt, da die zahlreichen Digitalförderungen aus der Corona-Zeit auslaufen, wird die Finanzierung von digitalen Produktionen wieder kompliziert, es muss in Anträgen nach mehreren verschiedenen Förderquellen gesucht werden. Also bleibt es in Köln vorerst bei einer Digitalproduktion im Jahr. 2021 kam die Twitch-Inszenierung Oblomov Revisited des im Regietheater seit Jahrzehnten erfolgreichen Luk Perceval heraus. Hier lässt sich die Hauptfigur von den Follower:innen wie ein Internet-Star live zusehen – beim Nichtstun und Verweigern, dem Roman von Iwan Gontscharow entsprechend. Dazu entsteht ein Film, denn Twitch löscht Videoinhalte nach einiger Zeit. In dieser Spielzeit wird die Auseinandersetzung mit Twitch weitergeführt. Inszenieren wird Roman Senkl, der als Referent für Digitale Künste am Theater Dortmund und Spezialist für Mixed-Reality-Performances ebenfalls zu den Pionieren des Digitaltheaters zählt. Autor Wilke Weermann wiederum, an den der Stückauftrag für den digitalen Raum vergeben wurde, war Stipendiat des Instituts für Digitaldramatik (IDD) am Nationaltheater Mannheim.Dort sollen Schreibweisen für digitale Räume erprobt werden – für die Kommunikation mit Bots zum Beispiel, die, wie der Dramaturg Sascha Hargesheimer erzählt, keine linearen Texte sein können, sondern Baumdiagrammen entsprechen; nach jeder Entscheidung der User:innen, einen bestimmten Erzählstrang zu verfolgen, kommen andere Textbausteine ins Spiel, „da braucht man eine Masse an Text, und ich muss mir vorher genau überlegen, wie das Projekt aussieht“. Das erfordert andere Schreibstrategien als bei einem Theaterstück mit Anfang, Mitte, Ende.Acht Stipendien wurden am Nationaltheater Mannheim 2021 mit insgesamt 100.000 Euro aus einem Förderprogramm der Kurzvideo-Plattform TikTok ausgereicht. Daraus entstanden Projekte und Ideenskizzen für Texte auf neuen digitalen Bühnen. Damit ist das IDD aber, scheint’s, schon wieder so gut wie eingeschlafen. Für das Nationaltheater Mannheim, das auf Uraufführungen neuer Stücke und die Zusammenarbeit mit Hausautor:innen setzt, wäre das IDD eigentlich ein guter Ansatz, diesen Schwerpunkt auf neue Dramatik ins Digitale zu erweitern. Aber es scheint an dem gemangelt zu haben, was Lea Goebel als unabdingbar sieht für ein Haus, das sich dem Digitaltheater widmet: Ressourcen, finanziell wie personell. Das IDD könnte ein einmalig durchgeführtes Projekt bleiben. Mitnichten ein Institut.Für Evelyn Hriberšek, die als Regisseurin und Medienkünstlerin Erfahrung vor allem mit immersiven XR-Installationen hat, aber auch zu den Vordenker:innen eines digitalen Theaters zählt, passt das ins Bild. „Ich bin erstaunt, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, auf eine überstürzte, unreflektierte Weise. Da hätte ich mir manchmal mehr Bedacht gewünscht.“ Kritisch sieht sie etwa die Förderung durch das Videoportal TikTok: „Das ist ein Aufpolieren des Images von TikTok.“ Für Hriberšek ist die Abhängigkeit von Plattformen wie TikTok, Zoom oder Twitch auch eine digitalethische Frage: „Wozu laden wir unser Publikum ein? Wer steckt hinter der Soft- oder Hardware, die wir benutzen? Entsprechen die Tools, die wir verwenden, unserer Haltung oder auch einfach nur der DSGVO?“ Diesen Fragen werden sich die Theater stellen müssen.Teuer, aufwendig, ethisch mitunter fragwürdig – warum ist es dann überhaupt wichtig, dass sich Theater mit Digitalität und somit auch mit den existierenden Plattformen befassen? Tina Lorenz antwortet, ohne groß nachdenken zu müssen: „Die digitale Transformation ist die größte gesellschaftliche Transformation seit der Industriellen Revolution. Als Theater haben wir die Aufgabe, Diskurse zu begleiten, und das geht nur aus einer wissenden Perspektive. Ich kann nichts kritisieren, über das ich nichts weiß.“ Wissen zu generieren, auch künstlerisch, ist für sie damit ein gesellschaftlicher Auftrag. Lorenz selbst sieht einiges kritisch: „Ethik und Moral in KI-Forschung, ,racial bias‘ in neuronalen Netzwerken, das Metaverse, die Idee eines ohne demokratische Prinzipien und Kunstfreiheit operierenden Internets. Das sehen wir ja gerade bei Twitter, wohin es führt, wenn Einzelne quasi oligarchisch eine Plattform besetzen.“Was ist also geblieben von zweieinhalb Jahren digitaler Forschung an den Stadt- und Staatstheatern? Weniger Vorbehalte, mehr Erfahrungen, eine bessere Infrastruktur. Zum Beispiel gibt es nun auch auf Probebühnen WLAN; in den frühen Tagen der Pandemie waren Live-Streams und digitale Produktionen oft kaum möglich. Zugleich mangelt es nach wie vor an fest verankerter Expertise – Programmieren gehört, anders als Texteschreiben, nicht zu den Standardqualifikationen von Dramaturg:innen. Zugleich ist wieder eine klare Hinwendung zum Live-Event zu beobachten, Klagen über zu wenig Publikum inklusive.Aber: „Die letzten zwei Jahre sind nicht verpufft, sondern da bewegt sich etwas, das bleibt“, ist sich Tina Lorenz sicher. „Jetzt sind wir an dem ganz spannendem Punkt, wie sich das nachhaltig in die Betriebe einschreiben wird“, sagt auch Lena Wontorra, die in Mannheim am Institut für Digitaldramatik mitgearbeitet hat. Wie Lea Goebel vom Schauspiel Köln beobachtet sie einen Trend hin zu hybridem Theater, also zu Live-Aufführungen in Kombination mit digitalen Tools wie VR oder Aufführungen, die parallel vor Ort und im Netz stattfinden. Gänzlich einstellen sollte das Theater die digitale Forschung und die Suche nach Narrativen mit und in virtuellen Welten nicht, mahnt Lea Goebel: „Das sind Technologien, mit denen junge Menschen aufwachsen. Wenn wir uns nicht damit befassen, sind wir als Theater nicht mehr zukunftsfähig.“