Staatliche Gewalt, die ein Individuum strengstens für Geheimnisverrat bestraft; die Ohnmacht und Korrumpierbarkeit des Einzelnen in einem auf Gewalt gebauten Terrorstaat; aber auch die Kraft von Verbundenheit und menschlichem Zusammenhalt im Angesicht schrecklicher Weltereignisse: Das FIND Festival 2022 an der Berliner Schaubühne bietet zum Auftakt eine so welthaltige Mischung an Theater wie auf einer Berliner Bühne lang nicht mehr gesehen. Alljährlich blickt das der Neuen Internationalen Dramatik gewidmete Festival an der Berliner Schaubühne über den Tellerrand der deutschsprachigen Theaterszenen. Den beiden „Amerikas“ gewidmet, sind bei der Ausgabe 2022 Produktionen aus den USA, Chile und Kanada als Gastspiele eingeladen.
Wider die Befindlichkeit
Festival Die Schaubühne in Berlin bietet Stücken aus Nord- und Südamerika eine Plattform. Keine leichte Kost, aber endlich frischer Wind
s This A Room“: Kammerspiel staatlicher GewaltDokumentarisch arbeitet die New Yorker Regisseurin Tina Satter. Aufgegriffen hat sie in der Inszenierung Is This A Room mit ihrem Ensemble Half Straddle einen exemplarischen Fall von Whistleblowing: Die Air-Force-Linguistin Reality Winner leakte 2017 ein streng geheimes Dokument des US-Geheimdienstes NSA, das die russische Einmischung in die US-Wahlen 2016 belegte. Bei Drohneneinsätzen in Afghanistan hatte sie übersetzt und dazu beitragen, Ziele zu identifizieren, für einen Einsatz vor Ort hatte sich die Mittzwanzigerin trotz ihrer Sprachkenntnisse in Dari, Farsi und Paschtu bislang vergeblich beworben. Sie saß fest im Büro, wollte lieber humanitäre Hilfe leisten. Diese möglichen Motive Winners spielen in der Inszenierung nur am Rande eine Rolle: Als Text verwendet Regisseurin Tina Satter die Aufnahme des Verhörs, das am 3. Juni 2017 bei Reality Winner zuhause stattfand. Zwei FBI-Mitarbeiter stehen plötzlich vor ihr, als sie mit Einkäufen nachhause kommt – nur einen schmalen Rucksack trägt in der Inszenierung die Schauspielerin Katherine Romans, die in kurzen Jeans und Hemd sehr jung und privat wirkt. Kein Requisiten-Realismus, die Bühne von Parker Lutz ist schlicht: eine weiße, laufstegartige Spielfläche, an deren zwei Seiten das Publikum platziert ist.In diesem Weißraum entfaltet sich ein Kammerspiel staatlicher Gewalt gegen ein Individuum. Perfide ist, wie die FBI-Mitarbeiter ihre Überlegenheit qua Amt ausspielen. Anfangs sind sie professionell freundlich, dann verschärft sich ihr Spiel aus Good Cop (Pete Simpson), der sich beschwichtigend der zunehmend überführten Delinquentin zuwendet, und dem Bad Cop (Will Cobbs), der mit hartem Gesichtsausdruck das Haus durchsucht, auf Antworten drängt.Psychologisch genau gearbeitet ist, wie Reality Winner kooperativ bleibt und versucht, Haltung zu bewahren, über die Grenzen des für sie Erträglichen hinaus. „Oh, yeah“, sagt sie fast eifrig zum Vorschlag der beiden FBIler, ihren Hund in den Zwinger zu sperren – ein von der Straße gerettetes Tier, das sie eben erst wieder an den Hof gewöhnt hatte. Auch eine Katze ist im Haus, und den beiden Tieren gehört ihre panische Sorge, als der jungen Frau zunehmend klar wird, dass ihr bisheriges Leben in der Zeitspanne des Verhörs endet. Fast bricht ihre Stimme, ein leichtes Zittern und Zusammensacken schleicht sich auch sonst in die Körpersprache von Katherine Romans, wenn sie sich unbeobachtet wähnt. Am Schluss ertönt eine Audioaufnahme, in der Reality Winner ihre Strafe zusammenfasst: Fünf Jahre für Geheimnisverrat. 2021 ist sie wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden, seither sitzt Reality Winner im Hausarrest. Is This A Room ist ein Sittenbild nicht nur der Trump-Ära und der USA als Weltmacht, die innere Feinde wie Edward Snowden, Chelsea Manning oder eben Reality Winner erbarmungslos verfolgt und in den Strafvollzug aussondert.„Oasis de la Impunidad“: Lektion für die WirklichkeitLässt In This Room eine Einzelne an der Staatsmacht zerschellen, zeigt Oasis de la Impunidad von Marco Layera und seinem Teatro La Re-sentida aus Santiago de Chile höchst stilisiert eine durch und durch von Gewalt geprägte, abgestumpft brutale Gesellschaft. Neun gleich kostümierte Darsteller:innen tapsen wie eine ferngesteuerte Zombie-Einheit über den goldfarbenen Bühnenboden – und malträtieren einander mit zwar abstrahierter, aber doch schwer aushaltbarer Grausamkeit. Ein Pfiff aus der Trillerpfeife – sie gehen einander an die Gurgel, zerren an ihren Haaren. Ein Pfiff – sie lassen voneinander ab, marschieren weiter in grausigem Unisono. Und so fort: Popsong folgt auf Popsong, Gewalttat auf Gewalttat. Leichen werden gefleddert, Opfer verhöhnt, Münder sind zu starrem Grinsen verzerrt. Folter assoziiert man unweigerlich, wenn Lucas Carter sich nackt direkt vors Publikum im Studio der Schaubühne stellt und mit einer Zange erst seine Haut vom Gesicht zieht und dann Zahn um Zahn aus dem Mund bricht. Als die Prozedur überstanden ist, reckt er mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht die Arme in die Höhe wie ein posierender Bobybuilder. Er hat überlebt: Der Bezug zu den teils gewaltsam niedergeschlagenen Protesten in Chile 2019 und 2020 ist in Oasis de la Impunidad eindeutig. Als abstrahierter Reigen der Grausamkeiten verweist das chilenische Gastspiel aber auf jedes Unrechtsregime in Gegenwart und Vergangenheit.Was das mit uns zu tun hat? Marco Layera und La Re-sentida finden in den Schlussszenen eine deutliche Antwort. Carolina de la Maza spielt eine Mutter, die haltlos weint, als fünf gefühllose Horror-Puppen in Samtkleidchen den Sarg eines Kindes hereintragen. Naturalistisch, nicht stilisiert spielt sie das Weinen – für Zuschauer:innen des dem Pathos nicht zugeneigten deutschen Theaters schwer erträglich. Doch Marco Layera, der schon an der Schaubühne gearbeitet hat und die hiesigen Befindlichkeiten kennen dürfte, wendet das Gefühl der Distanznahme gegen uns: Carolina de la Mazas Figur wird kurzerhand ermordet, entkleidet, Lucas Carter wirft sie sich über die Schulter und trägt sie durch Reihe 3 auf einen freien Platz, wo er sie wie ein Stück Fleisch auf den Sitz fallen lässt. Ihr Kopf neigt sich dem neben ihr Sitzenden zu, Carolina de la Maza bewegt keine Körperfaser, bleibt ganz in der Darstellung der Leiche, die nun zusammengesackt zwischen uns saturierten Schaubühnen-Besucher:innen sitzt.Unbarmherzig richtet sich ein Scheinwerfer auf die Nackte in Reihe 3, der jemand alibimäßig einen Schal umgelegt hat. „Heute ist hier kein Recht ergangen“, niemand von uns Zusehenden habe die Party in dieser Oase der Straflosigkeit beendet, heißt es im eingespielten Audio. Ja, wieder einmal haben wir uns nicht gerührt, als sich vor unseren Augen schreckliche Szenen abspielten. (Die Fotos aus Butscha werden am Auftaktwochenende von FIND publik.) Das Theater erteilt der Wirklichkeit eine Lektion – eine starke, Gänsehaut verursachende Setzung von Marco Layera und dem Teatro Le Re-sentida.„Seven Streams of the River Ōta“: Theatrales Erzählen in PerfektionFast wie l’art pour l’art wirken da die Seven Streams of the River Ōta, ein Mammutwerk des kanadischen Regisseurs Robert Lepage, der als Künstler im Fokus von FIND 2022 steht. 1996 uraufgeführt, wurde sein siebenstündiges Epos 2019 wiederaufgenommen – und aus heutiger Sicht nehmen die Seven Streams of the River Ōta an Dichte und erzählerischem Aufwand frappierend das Format von Netflix-Miniserien vorweg. Im japanischen Hiroshima startet die über Jahrzehnte angelegte und über sieben Episoden die gesamte Personnage miteinander verflechtende Narration. US-Soldat Luke O’Connor (Christian Essiambre), der die Schäden des Atombombenwurfs fotografisch dokumentiert, lernt die Überlebende Nozomi (Myriam Leblanc) kennen, deren Gesicht durch die Explosion versehrt ist. Ein Foto für ihre Beerdigung wünscht sie sich von ihm. Aus der Begegnung ergibt sich eine Liebesbeziehung, aus der ein Kind hervorgeht: Jeffrey (Umihiko Miya) trägt denselben Namen wie sein Bruder (Christian Essiambre) im fernen New York.Auf der Veranda und in den Zimmern eines traditionellen japanischen Holzhauses zeigt der erste Teil „Moving Pictures“ die zarte Annäherung von Luke und Nozomi. Im zweiten Teil, „Two Jeffreys“, begegnen sich die beiden Brüder in einem New Yorker Apartmenthaus, dessen höchst realistisch dargestellte dreckige Räume in das Holzhaus hineingerückt sind. Im Gemeinschaftsbad tobt sich eine Post-Beatnik-Combo aus, während der japanische Jeffrey Kontrabass übt und der amerikanische Jeffrey seinen an Leukämie erkrankten Vater pflegt. „Jeffrey Zwei“ wird seinem Vater nichtbegegnen, aber seinem Bruder hinterlässt er bei der Rückkehr nach Japan ein Erkennungszeichen. Daraus entwickelt sich offenbar eine brüderliche Nähe: In Episode Vier, „A Wedding“, wohnt „Jeffrey Zwei“ mit seiner Schwester Hanako dem assistierten Selbstmord seines an AIDS erkrankten Bruders in Amsterdam bei. „Jeffrey Eins“ hat Ada geheiratet, um als niederländischer Staatsbürger legal sein Leben beenden zu dürfen. Und Adas Sohn wiederum wohnt Jahre später als Untermieter bei Hanako in Hiroshima, als er Butoh-Tanz studiert.Jeder Erzählstrang in Seven Streams of the River Ōta ist sorgfältig angelegt, jedes Detail hat im Verlauf der Geschichte seinen Sinn. Befremdlich kulminiert dieses narrative Prinzip der Perfektion in Episode Fünf, „The Mirror“. Hier erscheinen die KZ-Baracken Theresienstadts der Künstlerin und späteren Zen-Nonne Jana Čapek hinter einer Spiegelwand. Ein dekoratives Kabinett schrecklicher Erinnerung, in dem die zeitgemäß in Kleider, Anzüge, Mäntel, Hüte kostümierten Schauspieler:innen Janas Rettung performen – angeblich in der Spiegelkiste des Magiers Maurice, der sie erst in einer Lagervorführung fortzaubert und sie dann in seiner Kiste vor dem tödlichen Transport verschwinden lässt.Verharmlosend wirkt diese Episode, die theatral wider die Kontingenz historischer Ereignisse und für Hoffnung, Humanismus, Heiterkeit trotz widrigster Umstände plädiert. Alles hat einen Sinn? Eine beschwichtigende Botschaft, die das Individuum aus einer Sphäre gesellschaftlicher Widerständigkeit in eine private Sphäre des persönlichen Zusammenhalts entrückt.Vereinzelung, Mittäterschaft, Eingebundensein in größere Zusammenhänge: Die drei Auftaktinszenierungen aus den USA, Chile und Kanada beim FIND Festival zeichnen ein je eigenes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – ästhetisch wie inhaltlich frischer Wind.Placeholder infobox-1
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