Milchschnittenalarm

Medientagebuch "Abnehmen in Essen": Die Grimme-Preis-Doku-Soap ist wohltuend anders

Da sind sie wieder: die fünf Frauen aus Essen, die sich unter den aufmerksamen Blicken der gesamten Nation im vergangenen Jahr um Wespentaille und Waschbrettbauch bemühten. In der ersten Staffel versammelten sich pro Folge rund eine Million Zuschauer vor den TV-Geräten, die abnahmewilligen Frauen avancierten zu Diätberaterinnen der Nation. Kritiker überschütteten die Sendung mit Lob. Die Serie erhielt einen Grimme-Preis und wurde für die Goldene Rose von Montreux nominiert. Für die Frauen hagelte es Einladungen zu Talk-Shows und körbeweise Fan-Post.

Die produzierenden Sender ARTE und WDR reagierten entsprechend, gaben die zweite Staffel in Auftrag und weiteten sie von vier auf sechs Folgen aus. Sicherlich um den Quotenerfolg auszubauen. Schließlich hatte das öffentlich-rechtliche Fernsehen dem Hype und den guten Einschaltquoten von Formaten wie Big Brother, TV Total oder Wer wird Millionär? im vergangenen Jahr wenig entgegenzusetzen. Der große Erfolg von Abnehmen in Essen ließ da hoffen. Also wurde zusätzlich eine CD produziert. Das Buch zur Serie, natürlich ein Diät-Kochbuch, ist ebenfalls in Planung.

Im Mittelpunkt der zweiten Staffel steht der Alltag der Frauen. Sie werden dem Fernsehpublikum als Menschen nähergebracht, die inklusive Übergewicht ein ganz normales Leben führen mit Arbeit, Urlaub, Liebe und Einsamkeit. Die Zuschauer begleiten die fünf dicken Frauen beim Joggen und Fahrrad fahren, bei dem stets heiklen Moment des Wiegens, beim Aufsuchen eines Diätinstituts, wo die natürlich gertenschlanke Geschäftsführerin ihnen erklärt, dass sie nach dieser Methode auf jeden Fall und zuverlässig Gewicht verlieren werden. Und das Publikum erlebt den tränenreichen Moment mit, erstmals unter 100 Kilo zu wiegen, der emotional sicherlich mit der Erfahrung aus der ersten Staffel, sein Schlüsselbein zu ertasten, vergleichbar ist. Fast wie selbstverständlich ist die Kamera auch beim Geburtsvorbereitungskurs von Heike S. und später akustisch bei der Geburt ihres Sohnes Timo dabei.

Die Kamera registriert aber auch die öffentlichen Auftritte der Frauen. Etwa bei der Verleihung des Grimme-Preises 2000, bei der Moderator Roger Willemsen Susanne Begic duzend bittet, unbedingt so zu bleiben, wie sie ist. Der Betrachter erlebt so, was es heißt, plötzlich eine öffentliche Person zu sein, an die sich scheinbar jeder wenden kann, um sich Rat zu holen oder aber auch nur mal "Hallo" zu sagen. Eine der Frauen erzählt, dass sie inzwischen ihren Supermarkt gewechselt habe, da sie in ihrem alten keine dickmachenden Lebensmittel habe mehr einkaufen können. Im Ruhrgebiet kennt die Fünf mittlerweile jeder, sie werden ständig auf der Straße angesprochen und um Rat gebeten. In erster Linie geht es dabei natürlich um Diätfragen. Aber einige Herren fühlen sich ermutigt, den Damen zu schreiben, um sie näher kennen zu lernen. Der Zuschauer erfährt auch, dass es als Medienstar keineswegs einfacher ist, einen Mann fürs Leben zu finden.

Im Vergleich zur ersten Staffel scheint das Vertrauen der Frauen zum Team um Regisseurin Claudia Richarz gewachsen. Sie haben Respekt erfahren durch die Regisseurin und sind nicht, wie manchmal Kandidaten bei den Shows des privaten Fernsehens, auf Kosten von Einschaltquoten benutzt worden. Den Ruhm, den sie durch die Arbeit von Richarz, Carl-Ludwig Rettinger als Produzent und Dramaturg und Cutterin Gesa Marten erlangt haben, können sie in der zweiten Staffel in Form von größerer Offenheit zurückgeben. Wenn sie etwas nicht drehen wollten, wurde das nicht gefilmt, aber sie hätten viel mehr als in der ersten Staffel zugelassen. Als zum Beispiel eine der fünf bei den CD-Aufnahmen für das eigens geschriebene Lied Waschbrettbauch anfänglich nicht mitsingt, weil sie, wie sie meint, keine Stimme habe, bricht keine Teamkrise aus.

Was also macht das Phänomen dieser Sendung und ihrer Protagonistinnen aus? Das Geheimnis von Abnehmen in Essen beruht auf der gekonnten Verbindung von der Lebendigkeit der fünf Frauen mit der Professionalität der Regisseurin und des Dramaturgen sowie der Selbsterkenntnis der Frauen, dass man sich jeweils nur selber helfen kann!

Keine der Situationen vor der Kamera wirkt gekünstelt. Beispielhaft sei hier der Milchschnittenalarm (Folge 9) von Heike H. genannt: Aufgenommen wie in einem Gruselfilm, sieht man sie eines Nachts wie in Trance zum Kühlschrank gehen. Sie macht die Tür auf, nimmt ein Fünferpack Milchschnitten heraus, reißt eine einzelne Packung auf und isst die Schnitte ohne innezuhalten. Dann kommt die nächste Packung dran. Ohne zu überlegen verschlingt Heike H. auch die zweite Schnitte. Allerdings nicht ganz, irgendwie erlangt die Vernunft die Oberhand und die restlichen Schnitten fliegen samt Verpackung in den Abfalleimer: Einmal doch noch den inneren Schweinehund besiegt! Als sie am nächsten Morgen Heike M. davon erzählt, weiß sie froh zu vermelden, dass sich ihr Fehltritt nicht auf der Waage niedergeschlagen habe, sie habe sogar einige Gramm abgenommen.

Dass die Fünf jetzt einen Manager benötigen, ist nachvollziehbar. Wie glücklich sie allerdings mit ihm werden, bleibt abzuwarten. Seine vollmundige Ankündigung "Wir gucken, dass Eure Köpfe noch bekannter werden; denn euer Wert steigt", klingt nur bedingt verlockend, eher wie eine Art Slogan für die dritte Staffel, in der dann die Auf und Ab´s mit Marketingmanagern im Vordergrund stehen könnten.

Verblüffend ist nur, dass ARTE dem Format ganz offensichtlich viel zutraut und die Staffel zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im Programm hat, während die Serie im WDR erst ab 22.30 Uhr zu sehen ist. Wer traut da wem nicht so richtig?

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