Ein (Klima-)Roman für das 21. Jahrhundert?

Literatur Mit seinem Roman „Die Inseln“ setzt Autor Amitav Ghosh neue Maßstäbe im Genre Climate Fiction

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Die Sundarbans von oben
Die Sundarbans von oben

Foto: Nasa/Wikimedia (Gemeinfrei)

Wenige Denker*innen haben die Debatte um die Rolle der Literatur in Zeiten der Klimakrise so geprägt wie der indische Autor Amitav Ghosh, der in seinem 2016 erschienen Aufsatz The Great Derangement (deutsch: Die große Verblendung) bereits eine viel diskutierte literaturtheoretische Auseinandersetzung zu diesem Thema vorlegte. Zu lange habe die (westliche) Literatur die Klimakrise ignoriert, kritisierte Ghosh damals. Dabei seien Erderwärmung und Massenaussterben keineswegs nur naturwissenschaftliche Phänomene – sie seien Boten einer viel tieferliegenden, kulturellen Imaginationskrise. Der Roman im Sinne eines „individuelles moralisches Abenteuers“ (Updike) sei als Literaturform nicht geeignet, jene Realitäten oder gar mögliche Lösungen adäquat abzubilden – ohne neue Erzählweisen bliebe die Klimakrise buchstäblich undenkbar.

Wie Ghosh vor kurzem in einem Interview mit dem US-amerikanischen David Foster-Wallace anmerkte, hat sich seitdem viel getan: Geschichten wie Richard Powers The Overstory (deutsch: Die Wurzeln des Lebens), oder Paul Schraders Filmdrama First Reformed haben der Klimakrise auch auf die Agenda der anglophonen Kulturwelt einen prominenteren Platz verschafft, hinzu kommen soziale Bewegungen wie Extinction Rebellion und das Sunrise Movement. Mit seinem diesen Sommer auf Englisch und im Oktober auf Deutsch erschienenen Roman Gun Island (deutsch: Die Inseln) legt Ghosh nun auch selbst nach und setzt viele der in The Great Derangement präsentierten Anregungen literarisch um. Gun Island ist die Geschichte eines aus Kolkata stammenden, in Brooklyn lebenden Buchhändlers, Dinanath (Deen) Datta. Auf Urlaub in seiner Heimatstadt entdeckt Datta eine alte bengalische Sage über einen von der Schlangengöttin Manasa Devi heimgesuchten Gewehrhändler (gun merchant) – eine Geschichte, die den Ich-Erzähler in ihren Bann zieht. Datta macht sich auf die Suche, die Ursprünge der Erzählung zu erkunden, die er in der Zeit der kleinen Eiszeit im früheren 17. Jahrhundert sieht. Im Kern ist Ghoshs Roman also immer noch ein „individuelles moralisches Abenteuer“, und doch bricht die Geschichte als Klimaepos mit historisch-zyklischer Dimension in erfrischender Weise mit vielen Erzählkonventionen.

Die Kulisse des Buches dürfte Ghosh-Leserinnen dabei bekannt vorkommen: Wie schon Ghoshs früheres Werk Hungry Tide (deutsch: Hunger der Gezeiten) spielt Gun Island in den Sundarbans, dem in Bengal gelegenen größten Mangrovenwald der Erde. Die Sundarbans gehören zu den Regionen, die aufgrund des steigenden Meeresspiegels und der Meeresversauerung weltweit schon jetzt am stärksten von Klimawandel und Umweltverschmutzung betroffen sind. Auch alle weiteren Schauplätze des Buches – das von Waldbränden geplagte Kalifornien, die zunehmend im Meer versinkende Lagunenmetropole Venedig und das Mittelmeer als Schauplatz einer seit Jahren nicht abreißenden humanitären Katastrophe – scheinen ganz bewusst unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt worden zu sein.

Auf der Suche nach der Geschichte des Gewehrhändlers begegnet Ich-Erzähler Datta nicht nur außergewöhnlichen Menschen wie der Venezianer Professorin Cinta, der charmanten Biologin Piya oder dem Klimaflüchtling Rafi, sondern auch immer wieder nicht-menschlichen Akteuren. So wimmelt es in dem Buch von Schlangen und Spinnen, die dem Autor regelmäßig heimsuchen, und Momenten, in denen Fantasie und Realität konvergieren. Sind die Tiere Boten der Schlangengöttin Manasa Devi? Der Rationalist Datta sucht und findet für jede einzelne Begegnung zwar stets eine wissenschaftlichen Erklärung, und doch fühlt sich die Häufung an außergewöhnlichen Ereignissen auch beim Lesen unheimlich an. Die Rolle des „Unheimlichen“ (uncanny) betonte Ghosh schon in The Great Derangement, rekurrierte dabei auf den Klimaphilosophen Timothy Morton und den Aktivisten George Marshall. Ihre Unheimlichkeit mache die Klimakrise letztendlich zu einer Krise, die durch herkömmliche Denkmuster der aufgeklärten Moderne nicht mehr zu fassen sei. So überrascht es nicht, dass in einigen Passagen bisweilen ein durchaus eschatologisch anmutendes Pathos mitschwingt – gerade die Szenen gegen Ende des Buches, in denen die Konfrontation zwischen der italienischen Marine und einem Boot mit Geflüchteten auf dem offenen Mittelmeer geschildert werden. Das Meer fängt vor Dattas Augen plötzlich an zu leuchten (Biolumineszenz), was den Blick auf einen riesigen Schwarm an Delphinen freigibt, während der Himmel gleichzeitig durch einen Sturm von migrierenden Vögeln verdunkelt wird. Vielleicht ein bisschen „over the top“ – aber das ist die Klimakrise ja auch.

Insgesamt bleibt Ghosh zwar in vielerlei Hinsicht den literarischen Konventionen treu – mit einem gut gebildeten, bürgerlichen, männlichen Ich-Erzähler, der sich nach Romantik sehnt und einer Handlung, die zwar in der kolonialen Peripherie beginnt, aber letztendlich zum Großteil in Europa und den USA spielt. Andererseits hält Gun Island auch viele interessante neue Perspektiven bereit – der zyklische Aspekt Erzählzeit, der Fokus auf Klimawandel in seiner Unheimlichkeit, die Inklusion nicht-menschlicher Akteure – die mit Sicherheit nicht unbemerkt bleiben werden. In vielen Ländern hat sich climate fiction, auch dank Autoren wie Ghosh, inzwischen als literarisches Genre einen Namen gemacht. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern sich Klimaliteratur auch im deutschsprachigen Raum als wichtige Literaturdisziplin etablieren kann.

Amitav Ghosh: Die Inseln, Roman.

Karl Blessing Verlag, München 2019
ISBN 9783896676467, Gebunden, 368 Seiten, 22.00 EUR

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elias König

Elias König lebt in Berlin. eliaskoenig@protonmail.com

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