Die estnische Hauptstadt Tallinn, das US-amerikanische Kansas City, die Stadt Monheim am Rhein und das Land Luxemburg haben eines gemein: Sie gehören zu den weltweit 140 Orten, die einen kostenlosen Nahverkehr anbieten. Das von Staus geplagte Luxemburg will mit seiner neuen Politik unter anderem die Luftverschmutzung bekämpfen und den Individualverkehr entlasten, während der Bürgermeister von Kansas City mit seinem Programm einen ‘Kulturwandel’ anstoßen will. Zwar steckt der Teufel häufig im Detail (beispielsweise müssen Nicht-Einwohner*innen in vielen der genannten Städte weiterhin bezahlen); dennoch haben diese Städte verstanden, dass eine radikale Mobilitätswende nötig ist, um Klimaziele zu erreichen und urbane Räume lebenswerter zu machen.
Nicht nur unter Klimagesichtspunkten ist der Nulltarif eine klasse Idee. Auch aus sozialer Perspektive spricht vieles dafür. Denn die oft signifikanten Mobilitätskosten im ÖPNV wirken in der Praxis wie eine regressive Steuer – das heißt, dass Menschen mit einem geringeren Einkommen oft einen erheblich größeren Teil ihres Einkommens für Mobilität ausgeben müssen als Gutverdienende. Überall sind Menschen zum Einkaufen, Arbeiten, und im Alltagsleben auf den ÖPNV angewiesen. Eigentlich sollte ihre Mobilität ein Menschenrecht sein. Doch wer sich die regelmäßig steigenden Ticketpreise nicht leisten kann oder das falsche Ticket kauft, begeht in vielen Bundesländern eine Straftat. Deutschlandweit sitzen mehrere tausend Menschen wegen Schwarzfahrens im Gefängnis. Die Bearbeitung ihrer Verfahren kostet Justiz und Polizei Millionenbeträge. Insbesondere Geflüchtete und Migrant*innen mit einem ohnehin prekären Aufenthaltsstatus müssen sich vor der Fahrscheinkontrolle fürchten – in einigen Fällen reicht der Vorwurf des ‘Erschleichens von Leistungen’, wie Schwarzfahren auf Beamtendeutsch heißt, aus, um eine Abschiebung zu begründen.
Eine öffentliche Finanzierung des öffentlichen Nahverkehres würde viele dieser Ungerechtigkeiten adressieren. Diejenigen, die ohnehin mehr verdienen oder mit ihren Autos wesentlich mehr öffentlichen Raum einnehmen und zur Luftverschmutzung beitragen, würden auf diesem Wege endlich angemessen an den Kosten einer gerechten und klimafreundlichen Mobilität beteiligt werden. Denn natürlich heißt “kostenlos” nicht “kostenlos” und ein ohnehin schon oft überlasteter Nahverkehr müsste ausreichend finanziert werden. An Ideen, wie eine solche Finanzierung aussehen könnte, mangelt es nicht. Viele europäische Städte, unter anderem London und Stockholm, verlangen beispielsweise seit Jahren von Autofahrer*innen eine City-Maut. Das spült nicht nur Geld in die Kassen der Städte, sondern reduzierte auch die CO2-Emissionen der Städte um 14-16 Prozent. Menschen, die aus verschiedenen Gründen auf ein Auto angewiesen sind, könnten von der City-Maut ausgenommen werden. Auch Tourist*innen könnten durch eine leicht erhöhte City Tax an den Kosten eines öffentlichen Nahverkehrs beteiligt werden. Schließlich macht ein solches Angebot die Städte gerade für Besucher*innen attraktiver. Eine weitere Idee kommt aus Frankreich: Dort finanzieren die Städten Dunkerque und Aubagne ihren öffentlichen Nahverkehr über eine Unternehmerabgabe für Betriebe mit mehr als 11 Beschäftigten. In Kombination mit weiteren Maßnahmen wie der City-Maut wäre ein kostenloser Nahverkehr ein wichtiger Schritt in Richtung der dringend notwendigen Verkehrswende. Einwohner*innen der Stadt Augsburg beispielsweise können seit dem 1. November 2019 für 79 Euro eine Mobilitätsflatrate erwerben und damit Bus, Bahn, Carsharing und Leihräder der Stadt benutzen.
An Finanzierungsmodellen und kreativen Ideen scheint es also nicht zu mangeln. Auch politische Mehrheiten für die Idee sind durchaus denkbar. Piraten, Linke und Grüne fordern den kostenlosen ÖPNV bereits seit Jahren und selbst die Bundesregierung ließ nach einer Rüge durch die Europäische Kommission 2018 verlauten, dass sie den kostenlosen ÖPNV für eine gute Idee hält. Die Ausfinanzierung des ÖPNV muss jedoch zunächst auf kommunaler Ebene erkämpft werden. Zuletzt machte die LINKE während der Hamburger Bürgerschaftswahl den kostenlosen ÖPNV ab 2025 deshalb zu einer Kernforderung im Wahlkampf.
Warum also gibt es ausgerechnet in der Bundeshauptstadt Berlin noch keine breitere Debatte zu diesem Thema? Eigentlich ist der Zeitpunkt günstig. Die rot-rot-grüne Landesregierung steht unter Zugzwang und muss zeigen, dass sie ihre sozial- und klimapolitischen Versprechen umsetzen kann. Mit der Entkriminalisierung des Schwarzfahrens und der Einführung des kostenlosen Schüler*innentickets sowie des 365-Euro-Jahrestickets hat sie Schritte in die richtige Richtung gemacht. Außerdem haben der Mietendeckel und der bisherige Erfolg der Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen gezeigt, dass der Senat durchaus auf Druck von der Straße reagiert. Dass ein Einzelticket in der deutschen Hauptstadt trotzdem weiterhin satte 2,90 € kostet, dass Mobilität für viele ihrer Bewohner*innen immer noch ein Luxus ist, liegt wohl auch an der Abwesenheit einer schlagkräftigen Bewegung, die sich endlich konsequent für einen fahrscheinfreien und öffentlich finanzierten ÖPNV einsetzt. Akteure, die eine solche Kampagne tragen könnten, gibt es viele: Die Klimagerechtigkeitsbewegung, die Recht-auf-Stadt-Bewegung, die Gruppe Berlin Autofrei, Fahrradfahrer*innen, Studierende, antirassistische und feministische Gruppen, sowie NGOs wie der VCD, um nur einige zu nennen. Doch bis jetzt scheinen die Bedenken groß zu sein. Eine Angst ist, dass die Beschäftigten der BVG dem kostenlosen Nahverkehr ihre Unterstützung verweigern könnten, aus Angst, diese Regelung würde zunächst zu noch überfüllteren Bussen und Bahnen und Finanzierungslücken führen. Argumente, die ernstzunehmend sind, die jedoch eher die Umsetzung eines kostenlosen ÖPNVs betreffen, als seine Einführung. Völlig klar ist auch, dass einzig und allein die Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV noch keine Verkehrswende macht und nur im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen effektiv wirkt. Doch als Kernforderung, die von 71% deutschen Bevölkerung unterstützt wird, hat das Motto ‘Freie Fahrt für Alle’ ein wesentlich höheres Mobilisierungspotential als abstrakte Rufe nach einer ‘’Verkehrswende”.
Anderorts erreichten Proteste für einen kostenlosen ÖPNV gar revolutionäre Dimensionen. Im Jahr 2013 beispielsweise brachte eine Bewegung für kostenlosen Nahverkehr (Movimento Passe Livre) in Brasilien Millionen Menschen auf die Straße – die größten Demonstrationen des Landes seit dem Ende der Militärdiktatur der 1980er-Jahre. Zentrum der Proteste war die Großstadt Sao Paulo, wo täglich hunderttausende Menschen auf die Straße gingen und Verkehrsknotenpunkte und öffentliche Plätze besetzten. Auch die aktuell heftigen Proteste in Chile entzündeten sich an einer Erhöhung der Metro-Ticketpreise in Santiago de Chile, wo ärmere Familien durchschnittlich 13-28 Prozent ihres Einkommens für Mobilitätskosten ausgeben. Aus einem Ticket-Streik junger Student*innen erwuchs in Santiago innerhalb weniger Wochen eine Bewegung, die das ganze Land paralysierte, mehrere führende Politiker*innen ihren Job kostete und den chilenischen Präsidenten dazu zwang, ein Verfassungsreferendum anzusetzen. In New York City finden seit letztem Jahr regelmäßig fare strikes für einen kostenlosen Nahverkehr und gegen rassistische Polizeigewalt statt. In Schweden ruft die Gruppe Planka seit 2001 Menschen zum Schwarzfahren auf, anfallende Strafen werden aus einem gemeinsamen Topf bezahlt. Überall auf der Welt elektrisiert das Thema kostenloser Nahverkehr Menschen und inspiriert Massenaktionen des zivilen Ungehorsams, warum nicht auch in Berlin?
Die Einführung eines kostenlosen ÖPNV in Berlin würde nicht nur deutschlandweit ein Zeichen setzen, sondern die Stadt auch international zu einem Leuchtturm der gerechten und nachhaltigen Mobilität machen. Es ist höchste Zeit, dass sich auch Berliner*innen organisieren, international vernetzen und fordern: Freie Fahrt für Alle!
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