Von den Geistern, die Europa rief

Klimawandel Warum die Klimakrise auch eine Krise des westlichen Denkens ist

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Der Mensch versucht, sich die Natur untertan zu machen
Der Mensch versucht, sich die Natur untertan zu machen

Foto: Ina Fassebender/AFP/Getty Images

Wegen meiner fehlenden Tugend erlitt das Volk diese Übel [gestörte Planetenbahnen, Erdbeben und Überschwemmungen] und ich bin deshalb zutiefst besorgt. Ich habe bereits den Guangludaifu mit Urkunden ausgestattet entsendet, damit er Särge für die 3000 Gestorbenen kaufe. Sein Befehl lautet, die vom Hochwasser zerstörten Kreisstädte und ihre Kreise (...) gänzlich von den diesjährigen Steuern zu befreien.“ So liest sich ein rund zweitausend Jahre altes Edikt des chinesischen Kaisers Ai (7-1 v. Chr), in dem jener auf eine Reihe von Naturkatastrophen reagiert. Noch bis ins 19. Jahrhundert verfassten chinesische Kaiser offizielle Entschuldigungsschreiben, wenn es in ihrem Hoheitsgebiet zu Ereignissen wie Erdbeben oder Überflutungen kam. Hinter diesen Zeitdokumenten steht die Jahrtausende alte Logik des Himmelsmandats. Ähnlich wie im feudalen Modell der Herrschaft von Gottes Gnaden wurde die Autorität der chinesischen Kaiser seit Jahrtausenden durch ein ihnen vom „Himmel“ zugesprochenes Mandat legitimiert. Naturkatastrophen wurden als Zeichen der Unzufriedenheit des Himmels mit der Politik des Herrschers gedeutet. Jene hatten mit einem Politikwandel zu regieren, wie Kaiser Ai, der in seinem Edikt umfassende Steuerbefreiungen für die Betroffenen ankündigte.

Heutzutage wünscht man sich oft, Politiker*innen würden Extremwettereignissen und dem Klimawandel mit ähnlich viel Ernst begegnen wie die Herrscher der chinesischen Kaiserzeit. Im Gegensatz zu letzteren sind die Eliten des 21. Jahrhunderts nämlich durchaus wesentlich mitverantwortlich für die Dürren, Stürme und Erdbeben, die das Klimajahrhundert prägen.

Doch die Entschuldigung des Kaisers ist mehr als nur eine kuriose historische Anekdote: Sie belegt, wie sehr das Verhältnis einer Gesellschaft zur Natur von grundlegenden philosophischen Prämissen der jeweiligen Kultur abhängig ist. Im Falle des kaiserlichen Chinas war das die alte konfuzianische Logik des Himmelsmandats. Im Europa der Aufklärung hingegen, deren philosophisches Erbe noch immer die Grundlage der europäischen (und weltweit exportierten) Gedankenwelt bildet, stand stets der Mensch im Mittelpunkt. Die Natur nahm bestenfalls eine Nebenrolle ein. Sie sollte zergliedert, gemessen und erforscht werden – natürlich, um letztendlich vom Menschen besser genutzt und ausgebeutet zu werden. „Möge nur das menschliche Geschlecht erst sein Recht über die Natur wiedergewinnen, welches ihm nach der göttlichen Verfügung gebührt“, schrieb beispielsweise der Philosoph Francis Bacon, einer der Wegbereiter der Aufklärung. Bacons französischer Zeitgenossen René Descartes ist bis heute für seine Position bekannt, Tiere seien lediglich gefühllose Maschinen. Während Bacon und Descartes noch von einem gewissen religiösen Pathos geleitet waren, ging der spätere säkulare Humanismus einen faustischen Pakt ein. Er schaffte es, die Befreiung des Menschen von höheren Mächten theoretisch zu begründen und zu begleiten, ohne das aus dem Christentum übernommene Axiom der kosmischen Einmaligkeit und Wichtigkeit des Menschen zu hinterfragen. Die Natur wurde zur „Umwelt“, ein Begriff, der wie kein anderer die Zentralität des Menschen festschreibt. In vielerlei Hinsicht wurde diese künstlichen Hervorhebung des Menschen aus seiner natürlicher Umgebung durch den säkularen Humanismus erst vollkommen realisiert. Im Humanismus lösten die Menschen Gott an der Spitze der Pyramide der Wesen ab, ohne aber die Logik einer solchen Pyramide selbst in Frage zu stellen. Kants berühmte vierte philosophische Frage - “Was ist der Mensch?” - zum Beispiel wurde von westlichen Philosophen fast ausschließlich als Frage nach der Bestimmung des Menschen in Abgrenzung zu Tier und Maschine verstanden. Die unausgesprochene Annahme war dabei stets, dass der Mensch sich kraft seines Geistes oder anderweitig von allen anderen Lebewesen und Dingen so unterscheidet, dass er sich als separate Entität denken und analysieren lässt. Dass diese Prämisse nur bedingt haltbar ist, zeigt unter anderem ein Blick in die Biologie: So demonstrieren Studien, dass nur etwas weniger als die Hälfte unserer Körper überhaupt aus menschlichen Zellen bestehen – der Rest sind Bakterien, Viren, Pilze und andere Kleinstlebewesen. Menschen sind also von Grund auf symbiotische Wesen. Auch andere Disziplinen beschäftigen sich zunehmend mit den Verflechtungen menschlichen Lebens mit anderen Lebensformen. Die Anthropologin Anna Tsing beispielsweise untersucht in ihrem jüngsten Buch die Beziehung zwischen Menschen und Matsutake-Pilzen, während Historiker*innen sich über die Rolle Landwirtschaft in der Entstehung des Staates als Verwaltungseinheit streiten.

Fast alle anderen philosophischen Traditionen – ob in Asien, Amerika oder Afrika - haben die Einbettung des Menschen in seine natürliche Umgebung besser thematisiert und theoretisiert als die westlichen Denker*innen in der Tradition der Aufklärung. Nach der metaphysischen Auffassung vieler mesoamerikanischer Gedankensysteme beispielsweise der Philosophie der Maya - teilen Menschen und Tiere eine gemeinsame Substanz. In der philosophischen Tradition der westafrikanischen Yoruba ist die Verantwortung des Menschen für seine Mitmenschen, für anderes Leben und für die Natur eine wichtige Prämisse. Und auch in den alten und reichen philosophischen Traditionen Chinas und Indiens finden sich zahlreiche Ansätze, die diese Vernetztheit konzeptionell erfassen. So zum Beispiel der Terminus Qi aus der klassischen chinesischen Philosophie: Qi ist eine universelle Lebenskraft, die alle Lebewesen verbindet und ausgetauscht wird. Luftverschmutzung, aber auch Ausbeutung bringen Qi aus dem Gleichgewicht. Bis heute beziehen sich Demonstrant*innen in China in ihren Argumenten auf Qi, um ihre Forderungen zu rechtfertigen. Oder die aus der indischen Philosophie stammende Vorstellung von der Verbundenheit aller Lebensformen, die in Konzepten wie Dharma und Karma verankert ist.

Wie der Historiker Peter Park aufzeigt, wurden viele nicht-europäische philosophische Ansätze bis ins 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich auch in europäischen Philosophie-Lehrbüchern diskutiert. Das änderte sich jedoch mit dem Aufkommen eines vom kolonialen Imperialismus angetriebenen wissenschaftlichen Rassismus. Nicht-Europäischen Menschen wurde per se das Vermögen abgesprochen, überhaupt kritisch denken zu können und in der Folge wurden viele ihrer Beiträge aus den Geschichtsbüchern gestrichen. Die Folgen dieser Exklusion bestehen bis heute fort, zum Beispiel in eurozentrischen Lehrplänen, in rassistischen Strukturen und in der Exotisierung nicht-westlicher Denkansätze.

Dass diese theoretischen Ignoranz des Westens auch ganz praktische Auswirkungen haben kann, zeigt sich heutzutage in aller Deutlichkeit. Nach Jahrhunderten des Wirtschaftens in einem System, das mehr als mit jedem anderen mit dem Namen Adam Smith, ebenfalls Philosoph der Aufklärung, verbunden ist, ist klar: Die Ressourcen der Erde sind erschöpft. Denn der Kapitalismus hat es zwar geschafft, historisch beispiellose, wenn auch ungleich verteilte Reichtümer zu kreieren. Er sieht aber keinen Mechanismus vor, die Interessen der Nicht-Menschen und zukünftigen Generationen zu berücksichtigen. Nicht zufällig fiel beispielsweise die formelle Abschaffung der Sklaverei mit dem Beginn des Zeitalters der fossilen Brennstoffe zusammen, schreibt der Historiker Jean-Francois Mouhot. Ganz im Sinne der der europäischen Philosoph*innen der Aufklärung ist das eine Befreiung des Menschen auf Kosten der Unterdrückung und Ausbeutung der Natur.

Auf die Probleme einer solchen Logik wiesen schon früh die Kritiker*innen des Kapitalismus hin. Friedrich Engels schrieb 1883 in seiner Dialektik der Natur: „Wir werden mit jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außerhalb der Natur steht … Der Mensch ist ein Teil der Natur.“ Aber Engels Worte verhallten ohne viel Echo, nachdem sie erst 1925 in der Sowjetunion veröffentlicht wurden. Ein gutes Jahrzehnt später warnten Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung davor, die ökonomischen Mächte trieben „die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe“. Für Adorno und Horkheimer war diese Entfremdung des Menschen von der Natur in jedoch in erster Linie ein psychologisches Problem. Dass sie ganz konkrete, physische Folgen in dem katastrophalen Ausmaße haben kann, wie wir sie nun erleben, konnten die Denker nicht vorausahnen.

Die Klimakrise ist deshalb auch eine philosophische Krise – die Krise einer Vernunft, die sich wortwörtlich selbst das Wasser abgräbt. Sie konfrontiert das westliche Denken damit ganz real mit seinem eigenen Versagen, die fundamentale Abhängigkeit des Menschen von der Natur anzuerkennen: In einer toten Welt wird Denken nämlich zur Unmöglichkeit. Selbstverständlich lässt sich darüber streiten, inwiefern unser Denken sich nicht erst aus den Verhältnissen ergibt (oder umgekehrt). Aber der alte Disput zwischen Idealismus und Materialismus sollte nicht ablenken von der Notwendigkeit, sich im Zeitalter der Klimakrise mit dringend benötigten radikal neuen Denkansätzen auseinanderzusetzen.

Um zur Ausgangsanekdote dieses Textes zurückzukehren - die chinesische Kaiserherrschaft wurde 1911 durch eine Revolution beendet. Das chinesische Wort für revolution, geming, lässt sich sinngemäß als „Entziehen des (Himmels-)mandats“ übersetzen. Ähnlich geht es dem Kapitalismus und der Moderne heute – der „Himmel“ (metaphorisch gesehen) entzieht ihnen gerade zunehmend die Legitimation. Des nackten Überlebens willen brauchen wir dringend eine neue Philosophie – neue Ansätze in Ethik, Ontologie, Metaphysik und politischer und Sozial-Philosophie. Hierfür ist es imperativ, über den Tellerrand westlicher Theoriebildung hinauszublicken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elias König

Elias König lebt in Berlin. eliaskoenig@protonmail.com

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