Es gibt doch Grenzen

KEHRSEITE Herr Lehner musste immer wieder an diese Frau denken, wie sie da schweigend auf einer der Bänke im farblosen Flur des Sozialamtes gesessen hatte. Sie ...

Herr Lehner musste immer wieder an diese Frau denken, wie sie da schweigend auf einer der Bänke im farblosen Flur des Sozialamtes gesessen hatte. Sie war weder gut noch schlecht gekleidet, sie war so angezogen, wie ein konventioneller Staatsbürger sich die Bekleidung auf dem Gang zum Sozialamt vorstellt. Mochte sie sich noch so elend fühlen, sie säße mitunter gern dort, erzählte sie, hier habe sie ihre Ruhe, brauche niemandem, der sie kannte, Rechenschaft über ihr Dasitzen abzulegen.

Sie konnte in aller Lust dasitzen und darüber nachdenken, ob ihr diese oder jene Bitte sofort oder gar nicht gewährt oder ob sie bis zum nächsten Mal vertröstet werde. So habe sie im Verlaufe der Jahre ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Sozialamt gemacht, die sie nicht missen wollte, die ihr Wissen schließlich sogar bereichert hätten.

Gern erinnerte sie sich daran, erzählte sie Herrn Lehner, wie sie eines Abends ins Kino gehen wollte - die Kinder wusste sie versorgt - und sich vorher noch ein halbes Hähnchen im Wienerwald gekauft hätte. Sie habe solchen Hunger auf Hähnchen gehabt, und zudem gab es keines ihrer Kinder in der Nähe, das ihr das halbe Hähnchen hätte streitig machen können.

Dann habe sie plötzlich aus einiger Entfernung den Beamten Kaufmann auf sich zukommen sehen, der alle Leute in seiner Akte führte, die mit dem Buchstaben "S" begannen. Sie sei innerlich zusammengefahren, weil sie sich doch tatsächlich eingebildet habe, dass der Beamte Kaufmann einen Kontrollgang durch die Stadt unternähme, um festzustellen, was ein Sozialempfänger am Abend außerhalb des Sozialamtes so mache.

Deshalb sei sie schnell den Weg zurückgegangen, habe sich in eine Einfahrt gestellt und habe fortwährend zu dem Beamten hingeschielt, der sie aber zum Glück nicht gesehen hätte. Im stillen hätte sie sich allerdings schon damit abgefunden, dass sie das halbe Hähnchen habe abgeben müssen oder dass ihr der Hähnchenbetrag an ihrer Lebenshilfe abgezogen werde.

Ziemlich vorn, auf einem der billigen Plätze sitzend, habe sie sich dann aber diebisch gefreut, weil das Rascheln des Papiers und ihr Schmatzen auch noch störte. Dieses wunderbare halbe Hähnchen vergäße sie nie.

Als sie Jahre danach dem Beamten Kaufmann eines Morgens diese Geschichte in dessen Zimmer 209 eingestand, erzählte sie, hätte es ihn gereizt, sie wieder einzuschüchtern. Doch da hätte sie sich bereits eine eigene Sozialamtshaut übergestülpt.

Im Grunde, so sagte sie Herrn Lehner, wäre so mancher ihrer Besuche in diesem Zimmer 209 eine Anekdote wert. Hätte sie die Besuche nicht auf dieser Anekdotenbasis handhaben können, wäre sie wahrscheinlich einer permanenten Depression zum Opfer gefallen. Da hatte sie einmal um eine Kleiderbeihilfe und Schuhe gebeten, und der Beamte Kaufmann habe sie durchdringend angesehen, sie dann freundlich lächelnd angeschaut und schließlich gesagt: "So gut wie Sie möchte ich es auch einmal haben. Einfach zum Sozialamt gehen und mir neue Schuhe verschreiben lassen".

Hatte Frau Schmahl noch gedacht, es sei ein Späßchen zwischen einer Bittstellerin und einem Sozialbeamten, so hatte sie sich getäuscht. Der Beamte Kaufmann hätte das tatsächlich so gemeint. Sie sei immerfort seinen perfiden und sarkastischen Bemerkungen ausgesetzt gewesen, erzählte sie, denn der Beamte Kaufmann habe rasch in ihr ein Opfer für seine Launen und Langeweile gewittert.

Eines Tages wurde ihr von ihrem Lebensunterhalt ein größerer Betrag einbehalten. Unverzüglich ging sie zum Sozialamt und zu ihrem Erstaunen erfuhr sie, dass dies der zukünftige, neu festgesetzte Betrag für sie sei. In ihr fragendes Gesicht hinein, bekam sie die Antwort: "Weil eines ihrer Kinder sechzehn Jahre alt geworden ist."

"Ja aber", stotterte sie, "der Junge geht doch noch zur Schule."

"Schon, aber er geht auf ein Gymnasium, noch dazu auf das Humanistische. Ihr Sohn kann sich ab sofort selbst versorgen."

"Soll er für sich selbst kochen und selbst seine Wäsche waschen?"

"Nein, das nicht, er kann aber arbeiten, mit unseren sozialen Mitteln hat er nicht das Recht, eine höhere Schule zu besuchen. Es gibt doch Grenzen."

Sie erzählte Herrn Lehner, sie habe so viele Male eine Menge unliebsamer Gespräche und Verhandlungen auf dem Sozialamt erlebt, die sie nie vergessen habe. So hätte sie, als noch junge geschiedene Frau, den Antrag auf einen Gasherd gestellt. In ihrer Küche sei ein alter Gasherd gestanden, derart ramponiert, dass das Kochen auf diesem Ding ihr keine Freude mehr bereitete. Das sei lange vor der Zeit des Beamten Kaufmann gewesen. Dieser andere Sozialbeamte wäre der erste, den sie auf dem Sozialamt kennenlernte. Sie musste den Antrag einige Male stellen, denn der Beamte war nicht bereit, ihr den Gasherd zu bewilligen.

Für Frau Schmahl waren das peinliche Gänge, und sie wusste, das wäre alles nicht passiert, wenn der Ehemann sie und die Kinder nicht verlassen hätte. Und das, ohne ihr einen Pfennig Unterhalt zu garantieren. Für jedes Kind überwies er lediglich den geringfügigen Betrag von einhundert Mark. Er hatte sie also buchstäblich ins Sozialamt getrieben. Und hier wurde ihr der Begriff Schmerzgrenze eine Freundin.

Stolz und Scham nutzten ihr nichts, diesen Weg nach Canossa musste sie immer wieder antreten, wollte sie als alleinerziehende Mutter etwas für ihre Kinder bewegen. Und höflich hatte sie zu bleiben und mitunter wenigstens eine Spur devot.

Beim exakt fünften Antrag sagte dieser Beamte, er habe jetzt eine Lösung für ihr Gasherd-Problem gefunden, nahm aus einer Schublade einen Zeitungsausschnitt und las der verblüfften Frau Schmahl die Verkaufsanzeige eines Gasherdes vor. Die Verblüffung tat ihr gut, sie hatte doch tatsächlich den Mut, diesem Beamten zu widersprechen. Das tat sie mit dem Erfolg, dass sie drei Monate nach ihrem ersten Antrag einen neuen Gasherd kaufen konnte.

Sie wurde systematisch zur Minderheit degradiert: Für jeden Antrag hatte sie Nachweise vorzulegen. So auch für die Hausleiter und das Bügelbrett, die sie beantragt hatte. Es wurde ihr mitgeteilt, dass eine Beamtin in ihre Wohnung käme, das zu überprüfen. Sie sagte, in ihrer Glaubwürdigkeit verletzt, der Besuch sei beleidigend, sie verzichte deswegen auf die Gewährung des Antrags, fügte hinzu, sie löge nicht. Was solle sie denn auch mit zwei Hausleitern und zwei Bügelbrettern?

In der Zwischenzeit hatte Frau Schmahl begonnen, die Grenzen innerhalb der sozialen Ungerechtigkeiten zu studieren. Da hatte sie zufällig von einem vordem gammelnden und heruntergekommenen Engländer - der jetzt in allerbester Kluft vor ihr stand - erfahren, dass er all diese schönen neuen Sachen durch den Antrag auf einem Kölner Sozialamt bekommen habe. Das machte sie fassungslos, ebenso die betuliche Art, in der die Hippies jener Zeit auf Staats- und Stadtkosten - ohne Nachweise zu erbringen - betreut bis verhätschelt wurden. Sie waren die attraktiveren Armen, das war ihr bewusst. Was ist eine geschiedene Mutter dagegen? Sie hätte sich ja nicht scheiden lassen brauchen. Und hatte sie als weibliches Mitglied der Minderheit dieselben Rechte wie die modernen Bittsteller?

Irgendwann hatte Herr Lehner sie angesprochen, und Frau Schmahl erfuhr, dass er kein Sozialhilfeempfänger war. Er käme nur gelegentlich, weil er nirgendwo aufschlussreicher und unbestechlicher die Grenzen zwischen echter und falscher Not aufschlüsseln und protokollieren könne. Und ihre Beobachtungen täten ihm gute Dienste, sagte er. Frau Schmahl und das Sozialamt blieben einander treu. Sie gab zu, dass sie sonst vielleicht in der Gosse gelandet wäre, hätte sie nicht diesen festen Halt in ihrer grenzenlosen Neugierde und ihrem grenzenlosen Hang zur Wahrheitsfindung gehabt.

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