Erzogen zur Freiheit

Waldorfpädagogik Sind Waldorfschulen dogmatisch? 13 Jahre – und keine Stunde klärte über ihren Gründer Rudolf Steiner oder Anthroposophie auf. Eine Suche nach Erklärungen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Farbig abgedämpftes Sonnenlicht fällt durch tiefblaue Baumwollvorhänge, in dem mehrkantigen Raum mit dem holzgetäfelten Boden herrscht eine angenehme Atmosphäre. Meine Eltern unterhalten sich mit dem Waldorfpädagogen und ich, ein sechsjähriges Mädchen, balanciere über einen drei Finger breiten Holzbalken.

Diese Szene könnte als Urbild meiner Waldorflaufbahn herhalten. Wir waren zum regulären Einschulungsgespräch im Eurythmiesaal geladen. Der Anthroposoph der Schule erzählte mir von meinem kommenden ersten Schuljahr und meinen Eltern von den Grundprinzipien der Waldorfpädagogik. Das Gebäude, das Licht – das alles vermittelte mir ein gutes Gefühl. In diesem geschützten Raum, diesem harmonischen Lernambiente, würde ich die nächsten dreizehn Jahre bis zum Abitur verbringen. Hier galten andere Maßstäbe als in der äußeren, grobschlächtigen Welt.

Heute, mehr als sechzehn Jahre später, kehre ich in meine Heimatstadt zurück, um meine Waldorfvergangenheit aufzuarbeiten. Denn nach dem Schulabschluss drängte sich mir eine Frage immer wieder auf: Was macht die Essenz der Waldorfpädagogik eigentlich aus? Warum kommt es mir so vor, als könnte ich das Wesentliche meines Bildungshintergrunds nicht in Worte fassen, obwohl ich alle dreizehn Klassen durchlaufen habe? Keine Stunde klärte uns Schüler über Rudolf Steiner, Waldorfpädagogik oder Anthroposophie auf – die theoretische Basis. Genügt es, die Waldorfpädagogik ausschließlich über die Form vermittelt zu bekommen?

Schon die Ankunft im Haus meiner Eltern ist eine Rückkehr zu meinen schulischen Wurzeln. Auf dem Bücherregal im Wintergarten windet sich eine schlanke, steinerne Knospe dem Licht entgegen, hellgrün, fast weiß. In der zwölften Klasse brachte ich den kopfgroßen Speckstein in stundenlanger Arbeit in diese Form – mit Raspel, Feile und Schmirgelpapier – bis er mir als Ganzes harmonisch erschien. Neben der Knospe: ein dunkelgrüner Stein auf hölzerner Basis. Diese Figur aus kugeligen, sich vermehrenden Elementen steht auf der Spitze, der Schwerkraft trotzend. Auch meine ältere Schwester bearbeitete einen Speckstein, auch sie besuchte die Waldorfschule. Ich erinnere mich, wie mein Werklehrer sagte, jeder Stein könne eine ganze Geschichte erzählen von dem Menschen, der ihn bearbeitet hat. Was weiß mein Stein über den jungen Menschen, der ich damals war – mit siebzehn, in der zwölften Klasse?

Wenn mir jemand etwas von Rudolf Steiner und seiner Philosophie erzählen kann, dann der Anthroposoph der Schule, der Mann aus meiner Erinnerung. Wir spazieren über den Schulhof, vorbei an der alten Schuleiche, entlang der großen Spielwiese, einmal durch den Schulgarten. Ich frage nach der theoretischen Grundlage der Waldorfpädagogik: Was macht die Anthroposophie in ihrem Kern aus und wo ist sie in der Waldorfpädagogik, im Schulalltag wiederzufinden?

Anthroposophische Basis

„Das Wesentliche ist der Blick, mit dem man den Menschen anschaut, in jeder Lebenslage. Daraus entsteht eine gewisse Gesinnung, eine Haltung. Das ist die anthroposophische Basis“, erklärt der passionierte Waldorfpädagoge. Ein anderer Grundgedanke der Anthroposophie sei die Annahme einer ewigen Individualität des Menschen. Erzieher hätten die Aufgabe, die Kinder auf die Erde zu bringen, von der geistigen in die materielle Welt. Mit anderen Worten – man glaubt an die Möglichkeit der Reinkarnation.

Kinder seien Erwachsenen weit voraus, was das Geistige betrifft. Sie hätten eine tiefere Verbindung zu Engeln, zur Natur, könnten es aber nicht sagen. Wisse man um diese Fähigkeit der Kinder, bekomme man Ehrfurcht vor ihnen, meint der Anthroposoph. Er frage sich oft: „Vielleicht sind sie auch mir an Kraft überlegen?“ Die Aufgabe von Waldorfpädagogen sei es nun, den Schülern dabei zu helfen, ihre geistige Lebensspur und schließlich das eigene Lebensziel wiederzufinden. Deshalb sollte die Frage der Lehrer nicht lauten „Was muss ich in dich hineinfüllen?“, sondern: „Was will aus dir heraus?“

Diese Auffassung kommt mir bekannt vor. Für mich war Schule lange mit der Vorstellung eines geschützten Raumes verknüpft – sicher, aber eigenartig begrenzt. Besonders in den ersten Klassen wurde nichts einfach nur als falsch bewertet. Unterrichtsarbeiten, Bilder oder erzählte Geschichten wurden mit einer achtsamen Haltung betrachtet, besondere Verhaltensweisen der Schüler respektiert.

Sonnengelb sind die Wände des Klassenzimmers, in das mein Gesprächspartner und ich mittlerweile umgezogen sind. Vor dem Fenster wiegen sich Gräser im Wind, Kinderstimmen aus der Nachmittagsbetreuung sind zu hören und das Gackern der umherlaufenden Hühner – sonst ist es ruhig. Ich stelle eine der zentralen Fragen, die mich hergeführt haben: Warum lernten wir nie etwas über Rudolf Steiner, selbst nicht in fortgeschrittenem Alter? Hängt der Anthroposophie – und damit auch der Waldorfpädagogik – vielleicht etwas Exklusives, etwas Sakrales an?

„Der Anspruch der Waldorfschulen ist nicht, die Anthroposophie zu lehren. Das war von Steiner nicht vorgesehen“, lautet die Antwort. Natürlich seien alle Schüler berechtigt zu wissen, was sich hinter diesem Grundgerüst der Waldorflehre verberge, fügt der Lehrer schnell hinzu. Einige Schüler der dreizehnten Klasse hätten ihn kürzlich zu Steiner befragt. „Das ging ganz von ihnen aus – also kam ich in die Unterrichtsstunde und habe erzählt.“

Waldorfkenner, -skeptiker, -fremde

Nächstes Thema: Waldorf-Ressentiments. Waldorfkenner, Waldorfskeptiker und Waldorffremde – alle Menschen dieser Welt könnte man auf dieser Skala unterbringen. Neulich hatte ich es mit der letzten Kategorie zu tun: „Waldorfschule?“ Der ratlose Blick meines Gegenübers genügte – er hatte noch nie von dieser Schulform gehört. Sein Ausdruck signalisierte ungetrübtes, ehrliches Interesse, war frei von jener vorurteilsbehafteten Miene, die das Gesicht des Waldorfskeptikers zu verdunkeln pflegt und ihn als solchen entlarven würde.

Den populärsten waldorfkritischen Vorurteilen haftet eine ironische Note an. Im Linienbus riefen uns Nachbarschüler mit beeindruckender Ausdauer Kommentare wie „Baumschüler“, „Stimmt es, dass ihr nur mit Kartoffeln rechnet?“ oder „Tanz mal deinen Namen!“ hinterher. Das Spektrum der Anschuldigungen erweiterte sich um ernstzunehmende Vorwürfe: Steiner sei ein Rassist, ein Antisemit gewesen und Waldorfschulen seien Brutstätten seiner anthroposophischen Ideologie. Weltfremd und sektenhaft – das seien Merkmale dieser Schulform.

Der Anthroposoph vor mir weiß um diese Kritikerstimmen. Etwa zwanzig Sätze aus Steiners Werk seien immer wieder zu hören, zitiert würden nur die krassesten. Ob bei solchen Aussagen der Stenograph etwas falsch verstanden habe oder ob ein Satz auf einen missglückten Scherz zurückzuführen sei, könne man heute nicht mehr nachprüfen. „Sicher ist, dass Steiner an anderer Stelle gesagt hat, heute noch in Rassen zu denken, ist gefährlich. Seine Haltung war freiheitlich und anti-rassistisch – und trotzdem gibt es da diese Sätze.“

Vielleicht ist es das Wissen um die Front der Waldorfskeptiker, das in mir regelmäßig den charakteristischen Waldorf-Rechtfertigungsreflex auslöst. Scheinbar automatisch folgen der eingeübten Waldorfrhetorik diese eingespielten Trotzdem- und Aber-Sätze. Als müsste ich mich für etwas entschuldigen. Für einen fehlenden Bildungsstandard, der nicht vom Staat – nicht vom Lehrplan des Bildungsministeriums – vorgegeben wird? Für die Freiheiten der Lehrer, denen die Verantwortung der pädagogischen Erziehung der Schüler anvertraut wird? Womöglich für das Arbeiten mit Materialien wie Holz, Wolle und Erde?

Mir fehlt das Vokabular, um meiner Bildungsherkunft eine fundierte Form zu geben. Mir fehlt die Wortgewalt theoretischer Erklärungen, um verbreitete Vorurteile gründlich auseinanderzunehmen. Wie soll ich einem Waldorffremden eine rationale Beschreibung des Waldorfsystems geben, wie einem Waldorfskeptiker von dieser untergründigen Essenz der anthroposophischen Erziehung erzählen können? An diesem Punkt kapituliere ich – ich komme an das Herzstück der Waldorfpädagogik nicht heran.

Dogmatismus und die Verbreitung einer anthroposophischen Weltanschauung sind verbreitete waldorfkritische Vorwürfe – doch das Gegenteil scheint mir der Fall. Reflektiere ich heute meine Schulzeit, scheinen die meisten Lehrer peinlich darauf bedacht gewesen, die Anthroposophie bloß nicht zum Gegenstand des Unterrichts zu erklären. In einer Studie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie der anthroposophischen Alanus-Hochschule aus dem Jahr 2007 zur Lebensgestaltung ehemaliger Waldorfschüler heißt es: „Der Waldorfschule wird keine aktive Bedeutung als Vermittler anthroposophischer Vorstellungen zugesprochen, aber eine hohe religiöse und weltanschauliche Offenheit attestiert.“

Die Mehrheit der Ehemaligen habe sogar eine „indifferente, skeptische bis negative“ Einstellung der Anthroposophie gegenüber. Laut der Studie absolvierten 61 Prozent der Befragten das Abitur, fast 49 Prozent schlossen anschließend eine Hochschulausbildung ab. Lediglich 2,4 Prozent entschieden sich für eine anthroposophische Berufslaufbahn und gingen beispielsweise als Eurythmie- oder Klassenlehrer zurück an die Waldorfschule.

Wortloses Verständnis

Treffen ehemalige Waldorfschüler aufeinander, ganz egal in welchem Kontext sie sich begegnen und in welcher Stadt sie unterrichtet wurden, ist da ein gewisses gegenseitiges Grundverständnis. Eine subtile Vertrautheit, die keiner Worte bedarf und der das Wissen über den gemeinsamen Waldorfhintergrund inhärent ist. Es besteht etwaige Übereinstimmung über essenzielle schulpädagogische Erfahrungen im wohlbehüteten Raum des Waldorfkosmos, man ist sich des analog gegangenen Bildungswegs bewusst.

Klassentreffen zwei Jahre nach dem Abitur. Von 23 Abgängern sind gerade mal neun der Einladung zum Wiedersehen in einem verrauchten Partykeller gefolgt. Es sind vertraute Gesichter, sie hier zu sehen, umgeben von massiven Eichengarnituren und holzvertäfelten Wänden, erscheint unwirklich. Der Kontrast zum harmonischen Raum der Waldorfschule könnte kaum größer sein.

Uns alle verbindet die gemeinsame Schulzeit, jetzt kommen wir aus verschiedensten Lebenslagen wieder zusammen. Wie haben die anderen den Einstieg ins Studium, in eine stärker staatlich regulierte Bildungsinstitution erlebt? Hat ihre Waldorfvergangenheit sie an irgendeinem Punkt eingeholt? „Auffällig finde ich, dass Leute mich um meine Waldorflaufbahn beneiden“, erzählt Jenke. Natürlich seien da immer wieder dieselben Klischees: Tanz mal deinen Namen! Ein Leben lang werde sie das hören. Politik und Wirtschaft seien zu kurz gekommen, sagt eine andere Stimme. Laufend müsse man erklären, was Waldorf eigentlich ist. „Ich spreche dann vom Handwerk, von der Eurythmie. Dass der Mensch bei uns im Mittelpunkt stand.“

Kaffeetrinken mit meiner ehemaligen Klassenlehrerin. Sie verließ die Waldorfschule vor einigen Jahren, nach einer Zwischenstation in einer Montessori-Schule arbeitet sie mittlerweile in einer Gesamtschule. „Die Kollegen von der Waldorfschule unterrichteten mit einem besonderen Engagement für den Menschen, das vermisse ich.“ Die herkömmliche Pädagogik sei für manche Kinder einfach nicht gemacht, die Herangehensweise zu kognitiv, es gebe zu wenig Arbeit für die Hände.

Eine ideale Schulform könne für sie nur eine Mischung sein: „Die Perlen der Waldorfschule, ihrer Pädagogik und einige Elemente aus der Montessori-Schule.“ Ihr Vorbild ist die neue Gesamtschule Schule im Aufbruch der Berliner Pädagogen Margret Rapsfeld und Gerhard Hüter. „Ich glaube, dass man keine Waldorfschule, keine Montessori-Schule braucht – aber menschliche Beziehungen, die brauchst du.“

Eines Sonntags, wieder zurück in Berlin, wage ich einen Versuch. Ich ziehe ein verstaubtes Buch aus meinem Regal, setze mich auf den sonnigen Balkon und atme tief ein – Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie. Vergilbte Seiten, raues Papier. Neun Kapitel, der letzte Titel scheint passend: Skizzenhafte Darstellung des Ausblickes auf eine Anthroposophie. In diesem 1914 veröffentlichten Buch hat Steiner anhand einer ersten gedanklichen Fixierung den Grundstein der Anthroposophie gelegt. Fünf Jahre später würde die erste Waldorfschule in Weimar eröffnet werden.

Ich überfliege das Vorwort. Die Naturwissenschaft konkurriert gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker mit der Philosophie – diese Annahme bildet die Basis von Steiners Überlegungen. Ein Weltbild sei nötig, in dem sich innere Erlebnisse der Menschenseele ebenso finden wie die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft. Der Autor stellt in Aussicht, in seinen Skizzen Antworten auf das Streben nach einer neuen Wahrnehmungsform zu geben, die von Naturerkenntnissen nicht verdrängt werde – innere Seelenerlebnisse, die dem Suchen der neueren Philosophien Erfüllung bringen können. Die neue Weltanschauung wolle eine Wissenschaft des Geistes sein.

Daß dieser Weg, wenn er zu Ende gegangen wird, zum Erleben in einer geistigen Welt führt, und daß die Seele durch dieses Erleben ihre eigene geistige Wesenheit sich auf eine Art zum Bewußtsein bringen kann, die unabhängig ist von ihrem Erleben und Erleben durch die Sinnenwelt: das ist, was die Darstellung dieses Buches zu erweisen versucht. (S. VI)

Vielleicht muss ich mich fürs Erste mit diesen Annäherungen an die Essenz der Waldorfpädagogik begnügen. Die kritische Beschäftigung mit dem Vater der Anthroposophie und seinen Vorstellungen von der neuen Weltanschauung, die er recht hochmütig der herkömmlichen Philosophie voranstellt, ähnelt einer Ahnengalerie in der eigenen Familie: Jeder gelesene Satz, jede neu gewonnene Information und jede geschlagene Brücke zwischen anthroposophischer Theorie und Praxis erzählt mir gleichzeitig mehr über mich selbst.

Fest steht: Die Waldorfschule ist nicht nur Teil meiner Ausbildung, sondern auch Teil meiner Identität. Eine Zeile meines Lebenslaufs zeigt an, dass ich eine waldorfpädagogische Erziehung erfahren habe, gewissermaßen einen Waldorfkern in mir trage. Das theoretische Wissen über seinen Ursprung hat die Waldorfschule mir vorenthalten – und damit auch die Mittel, um Autonomie über meine Bildungsherkunft gewinnen zu können. Undogmatisch, aber auch problematisch ist dieses Prinzip des Nicht-Aufklärens – ich werde weiter nach Erklärungen suchen müssen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisabeth Bauer

Studium der Slawistik & Kunstgeschichte in Berlin/St. Petersburg. Waldorf-Schullaufbahn in Mönchengladbach. Redaktionspraktika bei taz und ZEITmagazin

Elisabeth Bauer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden