Satellitenleib und Gruppenseele

Wie sich Gemeinschaften bilden Konflikte zwischen Religionen entstehen, weil die Götter eifersüchtig sind

Die neuerdings wieder heißen Diskussionen über die Religion werden meistens von zu kühlen Theoretikern geführt. Für sie ist das Thema eigentlich schon erledigt, weshalb sie die neuesten Vorfälle eher aus einer abgeklärten, überlegenen Warte heraus kommentieren. Diejenigen, die da sprechen, sind nicht mehr betroffen, sind schon fortgeschritten, der Leimrute der Religion entkommen. Im Großen und Ganzen ist es entweder der moralische und ethische Standpunkt, der die Argumente diktiert, oder das Bedauern der Rückständigkeit derjenigen, die Hals über Kopf immer noch in der Religion stecken und noch nicht gemerkt haben, dass sie nur ihre symbolische Funktion vergegenständlichen, wie Christina von Braun es formuliert hat (s. Freitag 33/2002). Von der moralischen Warte erscheint es unverständlich, wieso die Religionen sich untereinander nicht höher schätzen und auch fremde Götter interessant finden können. Aber so lange paradoxerweise, ganz gegen die aufgeklärte Idee einer Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, die Religionen weiterhin im Plural vorkommen, sollte man vielleicht einmal versuchen zu verstehen, warum die Religionen die Konversion fordern.

Die Konversion zu einer Religion bedeutet eine mehr oder weniger bedingungslose Hinwendung, die die Aversion gegenüber anderen Religionen zur Folge hat. Man darf annehmen, dass die Aversion umso tiefer ist, je heftiger die Konversion zur eigenen ausfällt. Man wohnt also, wenn man der Entstehung einer Religion zusieht, auch der Entstehung einer "Gruppenseele" bei, weshalb ich versuchen möchte, die Herstellungsmodalitäten einer solchen Gruppenseele einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Dabei werden es vor allem folgende Dinge sein, die unsere Aufmerksamkeit fordern: erstens die Ausrichtung der Vorstellungskraft der Gruppenmitglieder auf den selben Gegenstand, das heißt das Auftauchen eines starken, mitteilbaren "Gebildes", zu dem alle dieselbe Beziehung aufnehmen; zweitens die Synchronisierung der Gruppenmitglieder in Ritual und Liturgie und ihre Wirkung; drittens das Verhältnis der "Pole der Synchronisierung", als der jeweils Verehrten, Höchsten untereinander, was dann Auskunft gibt über die Abstoßungsreaktionen unter den Gruppen und - auch wenn es merkwürdig klingt - die Abstoßungsreaktionen unter den Göttern selbst.

Als erstes möchte ich in Erinnerung bringen, womit die Bildung solcher Gruppen, wie wir sie in der Religion vor uns sehen, begonnen hat: mit dem Totemkult. Die Menschen haben in ihm die Überzeugung allgemein werden lassen, dass sie von einem Tier herkämen, von einem besonderen Tier, das Ahn und Schutzherr(in) zugleich sei. Dieses hat beispielsweise ein Recht auf eine ehrenvolle Bestattung, falls es tot aufgefunden wird, und auf Beweinung. Auch Religionen, mit ihrer Herkunft aus dem Totemkult, erkennen ein Fremdartiges als "Höheres Eigenes" an und richten eine fragile Beziehung zu einem mehr oder weniger unberechenbaren Anderen ein. Durch seine Exzellenz, also sein Überragen der gewöhnlichen Verhältnisse, kann dieses Totemtier die Mitglieder dieser Gruppe mit sich verwandt machen, welche Verwandtschaft wiederum eigentümliche Rückwirkungen auf die neuen Verwandten hat: sie bilden eine Gruppe, deren Merkmal gerade diese ungewöhnliche, nicht-biologische Verwandtschaft ist. Diese neue Verwandtschaft setzt sogar die biologische aus, sie ist im Rang höher und beansprucht unbedingte Geltung. Mit diesem Totemtier ist die Ebene der religiösen und der politischen Organisationsmöglichkeit von Subjekten erreicht. Es besitzt ausdrücklich die wesentlichen Eigenschaften des zukünftigen Königs, eines Wesens, das hauptsächlich in seinem zweiten, die Verwandtschaftsgrade mit dem Volk regelnden Körper lebt. Gewissermaßen profitieren dann von dieser Bresche, die von dem Totemtier geschlagen worden ist, alle anderen höheren Wesen, indem sie nach seinem Muster eine neue Verwandtschaft und Familie stiften, die zuvor Unverwandtes dazu bringt, sich auf ungewöhnliche Weise zusammengehörig zu fühlen. Das Totemtier ist so der Erfinder der corporate identity, eines Symbolkörpers, in dem, wie etwa auch im Falle von Haupt und Gliedern der Kirche, die gewöhnliche Anatomie zu Ende und ein erweiterter Leib ins Spiel kommt, in dem die gesamte Gruppe Platz findet.

Das höhere Wesen sorgt dafür, dass dieser Gruppenkörper in seiner relativen Balance verbleibt, während es die gesamte Anlage sich auf es hin polarisiert. Pol dieser Anlage zu sein bedeutet, eine Art über alle Gruppenmitglieder sich spannender Überleib zu sein, ein "Satellitenleib", der immer und überall die Ur-Beziehung garantiert. Er ist einer, der über den unter ihm versammelten Individuen eine Brücke schlägt wie beispielsweise Nut dies tut, die ägyptische Himmelsgöttin. Man könnte hier einwenden, dass ein solcher Satellitenleib doch eine Projektion sei, dass das Totemtier schon eine solche seitens der frühen Menschheit gewesen sei. Aber man gewinnt mit einem solchen Einwand nichts. Es ist ganz gleichgültig und nicht zu beweisen, ob es sich um eine Einbildung handelt oder nicht; denn in jedem Fall kommt das zustande, was uns interessiert, nämlich ein Schwingen der Gruppenmitglieder, die sich innerhalb des Versammlungsbogens befinden, in denselben Amplituden. Hier entsteht das, was ich eine Gruppenseele nenne: nämlich die Beziehung zwischen synchronisierten Gläubigen, die sich auf denselben Pol ausgerichtet haben, und sich interferierend verstärken. Auch wenn es noch andere Aspekte der Religion gibt, so ist diese Entstehung einer Gruppenseele gewiss ihr Patent, das sie aber, wie man sieht, auch zu weniger heiligen Zwecken ausleiht.

Was nun die Synchronisierung selbst angeht, so bildet wohl die Ausrichtung auf ein Höchstes, ob es nun ein Tier, eine Gottheit oder ein höchstes Gut, wie etwa eine Seligkeit, oder ein den Geburten für immer Entkommen ist, die Bedingung und den ersten Schritt. Dann aber setzt ein breitgefächertes Instrumentarium die Gruppenmitglieder in den Stand, die selben Gesten, Riten und Gebete auszuführen, so dass die Synchronisierung vertieft und in Wiederholungen stabilisiert werden kann. Die Religion ist auch dazu da, Menschen auf einer einfachen Seinsebene zu versichern, sie mittels Ein- und Abstimmung "aufzubessern", das heißt die Obertöne im "gemeinsamen Singen" - im übertragenen Sinne - klingen zu lassen. Im Chorgesang werden die Einzelnen gestärkt. Im Chor singen auch weniger Begabte besser. Dieser "Chorgesang" bedeutet den Zusammenhang der Liturgie und der mit ihr in Verbindung stehenden Handlungsformen, die Herstellung eines sozialen Zusammenhangs auf der Grundlage einer religiösen Tatsache. Leider schert sich die zeitgenössische Soziologie oder auch Theorie des kommunikativen Handelns nichts um solche "musikalische" Formen der Interaktion.

Über Synchronisierung ist viel gerätselt worden; man fragt sich, warum, wenn mindestens zwei oder drei etwas mit einiger Hingabe tun, auch andere damit anfangen werden. Man fängt zu weinen und zu lachen an, wenn die anderen es tun, und bezeichnet die Sache als Ansteckung. Wenn man zugeben will, dass diese Synchronisierung, wenn sie in Schwung geraten ist, die Synchronisierten in Hochform bringt und zweitens bestätigen, dass dies durch die Resonanz mit einer gemeinsamen Sache, mit dem "Satellitenleib" geschieht, dann beginnt man, etwas vom Wesen der Religion zu erfassen. Die Aussetzung der sogenannten Realität in diesen Vorgängen hat natürlich System, denn niemand wird sich für etwas Reales so begeistern, dass ihm das dann andere nachmachen; wenn jemand angesteckt wird, dann wird er von der Sache und dem Zustand, in dem der Ansteckende sich befindet, ergriffen, also schon von mindestens zweierlei affiziert. Das Hochgemüt der Religiosi der Welt, ihre vollendete Konversion, bedeutet also zugleich ihre Dauer-Infizierung nach Innen und Immunität, unter Umständen auch aktive Repulsion, nach Außen. Von daher versteht sich, dass die Ursachen jener außerordentlichen Zuständlichkeit, die göttlichen Akteure, nur in sehr beschränktem Umfang untereinander Kontakt haben und diesen wollen.

Es gibt natürlich Systeme und Mengen von unter einem bestimmten Begeisterungspol angeordneten göttlichen Personen, den griechischen Olymp, das hinduistische Pantheon, die Himmel und Ränge der buddhistischen Religion, die Heilige Familie und die Legion des himmlischen Personals. Aber man legt sehr viel Wert darauf, dass erstens diese nicht durch Fremde unterwandert werden und zweitens sich nicht die Falschen an ihnen begeistern. Die Synchronisierungs- und Begeisterungswirtschaft hält es also - womit ein allbekanntes Prinzip jeder primitiven Religion ausgedrückt wäre - nur mit "absolutely the best", und jene Besten sind eifersüchtig. Man kann sich leicht vorstellen, dass nun Vorkehrungen getroffen werden. Jede Religion als solche Begeisterungseinheit wird sich bemühen, einen unsichtbaren Zaun stärkster, dabei subtilste Stromschläge austeilender Tabus um sich herum zu errichten. Bei einigermaßen klarem Blick ist nicht zu übersehen, dass es viel weniger die streitlustigen Gläubigen sind, die zum Angriff auf die Gegenpartei blasen, als die Gottheiten selbst, die sich nicht grün sind, und die über den Synchronisierungspol, ja ihr Synchronisierungsmonopol, wie man auch sagen könnte, ihre Aversion in die Infektion der Gruppenmitglieder einfließen lassen. Gottheiten scheinen also unter einem Leistungsdruck zu stehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann, und der um so größer ist, je deutlicher ihnen noch Ähnlichkeiten zu anderen, gegenwärtigen oder auch untergegangenen Gottheiten anhaften. Für jede Beste und für jeden Besten muss eine Verwechslung mit anderen vollkommen ausgeschlossen werden können, weshalb solche Ähnliche, falls es sie gibt, sofort der condamnatio memoriae anheimfallen müssen, der Unterdrückung im öffentlichen Gedächtnis. Es hat einen skandalösen Ton, wenn man zwischen Maria als Mutter Gottes und der ägyptischen Isis eine solche Ähnlichkeit aufstellt, zwischen Weihnachten und den Mithras-Mysterien. Stellt man die Verbindung her, ist man sofort als Outsider disqualifiziert, als eine, die eben nichts glaubt.

Die Verbannung des Tieres, von dem ich gesprochen habe, aus dem Zentrum des Kultes, lässt sich im Lichte dieser Überlegungen als Anordnung der jüngeren Götter begreifen, als Eifersuchtshandlung der neuen Generation, die sich selbst ihre Schäfchen und Jünger sichern will. Die Annullierung der älteren und fremden Götter funktioniert offenbar nicht; unbrauchbare Götter sind "nicht entsorgbar", sind gewissermaßen Problemmüll. Dieser unangenehme Sachverhalt ist den in ihrer Konversion zu ihrem Besten schwingenden Gruppen durchaus - wenn auch meist latent - präsent. Er bleibt der Konstruktion der Religion eingeschrieben, die deshalb an diesem Punkt leicht zu gewisser Gereiztheit und zur Entzündung neigt, mit denen sie dann die Irritation ihres "Satellitenleibes" mitteilt. Es ist also weniger der Appell an die Humanität, an die neue kantische Stimmung, der die Religiosi der Welt davon abhalten wird, sich etwas anzutun, als eine tiefsinnige Meditation über den Verbrauch von wirklichen Symbolkörpern, Satellitenleibern und Synchronisierungspolen, über diese endlose Abfolge von Hochverehrten und Ausgespieenen. Falls sich die Theologie endlich einmal ihrer Aufgabe als universaler Abfall- und Verdrängungswissenschaft gewachsen sähe, dann könnte ein neuer Horizont aufgehen. Unter diesem würde ein Verstehen religiöser Aversion dämmern, dem sich dann wiederum eine entsprechend komplexe Politik der Religion nachordnete.

Elisabeth von Samsonow ist Philosophin und Bildhauerin und lehrt philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der Künste in Wien.

Mit der nächsten Folge wird Gerburg Treusch-Dieter die Reihe abschließen. Im nächsten Jahr wird die Religionsdebatte um einiges erweitert auch als Buch erscheinen.

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