Ein Tag am Meer

Ausflug Urlaub am Strand – den wollen Frauen aus Israel palästinensischen Kindern bieten. Zu Hause im Westjordanland sind aber längst nicht alle Eltern von der Idee begeistert

Muhamed Ameera hat das israelische Meer zwischen den Polstern seiner Couch versteckt. „Sonst spielen die Kinder damit“, sagt er. „Und dann geht noch was verloren.“ In Ni’lin, 40 Kilometer hinter dem Meer und ein paar Meter hinter der Mauer, ist Muhamed der Hüter der Tagesvisa. Israelische Aktivistinnen haben sie für einige Kinder seines Dorfes organisiert. Sie dürfen für einen Tag ans Meer am Strand von Tel Aviv. Einen unbeschwerten Tag sollen sie verbringen und sehen, dass es auch Israelis gibt, die nicht Soldaten oder Siedler sind.

Eine Farce sei das, heißt es in Nabi Saleh, 20 Kilometer nördlich von Muhameds Couch. Hier nimmt niemand an dem Friedensprojekt teil. „Wir akzeptieren doch nicht, dass Israel uns das Meer verbieten und erlauben kann, wie es will“, sagen die Bewohner. Sie wollen keine gute Besatzung, sie wollen gar keine. Muhamed sieht das anders: „Wir freuen uns immer sehr, wenn wir auf der anderen Seite Leute finden, die an unsere Rechte glauben.“

Den Kindern ist die politische Absicht ohnehin egal. Sie tanzen um das windige, alte Auto, mit dem Muhamed die Staubstraßen Ni’lins abfährt und 58 Reisevisa unter 4.500 Einwohnern verteilt. „Muhamed, Muhamed, nimmst du mich mit ans Meer?“ Ausgewählt zu sein, verheißt ein Kinderabenteuer. Es nicht zu sein, bedeutet Tränen. „Es ist immer besser, fünf Kinder in einer Straße glücklich zu machen als keins“, sagt Muhamed. Der Lehrer für Naturwissenschaften spricht gerne in Aphorismen. Er sagt zum Beispiel auch: „Wenn du in der Wüste durstig bist, dann solltest du trinken. Es kommt nicht darauf an, wer dir das Wasser gibt.“ Der Tag am Meer sei ein Angebot – was die Leute dann daraus machten, sei ihre Sache. Im vergangenen Jahr kamen einige Mütter vom Meer zurück und waren ganz erstaunt: „Wenn Israel so schön ist und sie Tel Aviv und das Meer haben: Was wollen die denn mit unserem trockenen Land?“ Auch eine Erkenntnis, Muhamed lacht.

Muhameds eigenes Land mit seinen Olivenbäumen haben sich die israelischen Siedler schon genommen. Ebenso das Land von 124 weiteren Familien in Ni’lin. Insgesamt kontrollieren sie mittlerweile 40 Prozent des Westjordanlands. 2008 hatte Ni’lin begonnen, gegen den Bau der Mauer zu demonstrieren, friedlich, die Bewohner dachten dabei an die Kraft der Bewegungen von Gandhi und Mandela. Seitdem hat es fünf Tote gegeben, gestorben an den Verletzungen von Gummi- und Tränengasgeschossen. Die Ni‘liner demonstrieren immer noch, jeden Freitag. Es sind nicht mehr so viele Teilnehmer, und es fliegen nicht mehr so viele Geschosse. Doch sie wollen ihr altes Land zurück, es sind 600 Hektar.

Muhamed gehört zum Volkskomitee, das die Proteste organisiert. Deswegen darf er selbst nicht mit ans Meer fahren, Israel traut ihm nicht über den Weg. Erst vergangenen Monat wurde er wieder bei einer Demonstration verhaftet: Eine Woche Gefängnis und gut 600 Euro Strafe. Muhamed sagt, er habe einfach friedlich demonstriert. Das Militär sagt, er würde die Leute aufwiegeln.

Auf den Straßen Ni’lins begegnen ihm die Leute mit großem Respekt. Sein Wort zählt. In einem Haus versteckt eine wütende, für nicht reisewürdig geprüfte Tochter das Tagesvisum ihrer Mutter, die als Begleitperson zugelassen wurde. Die Aufregung ist groß, doch der ruhige Muhamed kann vermitteln, und die Bescheinigung taucht im Kühlschrank wieder auf.

Nabi Saleh sagt Nein

An die Grenzen seiner Vermittlungsfähigkeit stößt er, wenn er seinen vier Kindern die Situation erklären soll. „Es bringt mich immer ein wenig in Verlegenheit, wenn sie mir Fragen stellen.“ Warum gehört ihr früheres Land jetzt einem Siedler? Was soll er dazu sagen? Er will schließlich keinen Hass in sie pflanzen, sondern ihnen vermitteln, wie wichtig es sei, ohne Gewalt zu protestieren und mit der anderen Seite zusammenzuarbeiten. Das klingt gut, ist aber nicht einfach, der Tag am Meer vielleicht eine Möglichkeit.

Für die Menschen von Nabi Saleh ist er keine Möglichkeit. Das 500-Einwohner-Dorf ist ein einziger Protest gegen die Besatzung. Auch hier gehört jeder Freitag der Demonstration. Dann liefern sie sich ein lebensgefährliches Katz- und Maus-Spiel mit der israelischen Armee, die mit Tränengas- und Gummigeschossen gegen sie vorgeht. Noch samstags kann man auf der kleinen Dorfstraße das Gas riechen. Gemessen an der Härte, mit der das Militär gegen die Demonstranten vorgeht, ist es beinahe verwunderlich, dass bisher erst ein Mensch ums Leben kam. Mitte Dezember starb Mustafa Tamimi, 28, nachdem ihm ein Soldat aus kurzer Entfernung eine Tränengaskartusche ins Gesicht geschossen hatte. Tamimi hatte Steine auf einen gepanzerten Jeep geworfen.

Der Tag am Meer passt nicht zum Protest von Nabi Saleh, sagt Manal Tamimi. Sie ist eine der Wortführerinnen und saß deswegen schon zweimal im Gefängnis. „Wenn wir ans Meer fahren würden, wäre das, als würden wir 364 Tage im Jahr gegen die Regeln der israelischen Regierung protestieren und an dem einen Tag nach ihren Regeln spielen. Nach ihren Regeln den Kontrollposten passieren, an ihrer Hand das Meer sehen.“ Das ergebe keinen Sinn.

In Nabi Saleh teilen angeblich alle diese Meinung. Immerhin teilen sich hier auch alle einen Nachnamen: Tamimi. Man hält zusammen. Es gibt die Tamimi-Press, die Videos von den beschossenen Demonstrationen ins Netz stellt. Und jeden Freitagabend richtet eine andere Tamimi-Familie das große Abendessen aus, das die ausgelaugten Protestierer von Nabi Saleh wieder stärken soll, darunter auch Unterstützer aus Israel und Europa. „Wir brauchen nicht nach Israel zu fahren, um zu sehen, dass es auch Israelis ohne Waffen gibt, Israelis, mit denen man ganz normal reden kann“, sagt Manal.

Die Mutter von vier Kindern hat das Pech, im ersten Haus an der Dorfstraße zu wohnen, da, wo die Soldaten meist ihren ersten Posten errichten. An manchen Samstagen sammelt sie bis zu 60 tennisballgroße Tränengasgeschosse und Patronen in ihrem Haus und Garten ein, nur um am nächsten Freitag wieder beschossen zu werden. Die Nachbarn haben aus ihren eigenen Fundstücken eine Girlande gebastelt und vors Haus gehängt.

Nabi Saleh demonstriert seit Dezember 2009, damals konfiszierten angrenzende Siedler nach Hunderten Hektar Olivenhain auch die Wasserquelle des Dorfes. Seitdem wurde ein Mann getötet, circa 250 Menschen wurden verletzt und knapp 100 verhaftet. Wie oft die israelischen Soldaten in Häuser eindrangen oder sie mit Tränengas beschossen, hat bisher niemand gezählt. Das Militär rechtfertigt sein hartes Vorgehen damit, dass die Siedler Angst um ihr Leben hätten, wenn auf der gegenüberliegenden Seite des Tals regelmäßig demonstriert werde. Außerdem seien immer auch einige Steinewerfer unter den Protestierenden.

Man könnte den Israelinnen des Friedens-Projekts naives Gutmenschentum unterstellen: Vier agile Rentnerinnen aus dem gehobenen Mittelstand suchen sich eine Aufgabe und bringen ein paar schöne Tage in den Nahost-Konflikt. Doch die vier Damen sind keine Charity-Ladys. Ihnen geht es um mehr als ein Kinderlachen. Die israelische Regierung bezwecke mit ihrer Sicherheitspolitik die totale Trennung von Israelis und Palästinensern, sagt Tzwia Shapira. Die 69 Jahre alte Biowissenschaftlerin gründete das Projekt vor zwei Jahren. Mittlerweile bringen sie an 20 Tagen im Jahr etwa 900 Kinder und Begleitpersonen ans Meer. „Die israelische Regierung will uns Angst einjagen vor diesem schrecklichen Etwas, das sich Palästinenser nennt.“ Und die Palästinenser, die sähen nur Soldaten und Siedler, die ihnen ihren Grund und Boden nähmen. Der Tag am Meer solle „diese separatistische Politik“ unterwandern. Manchmal sagt sie zur israelischen Sicherheitspolitik auch: „Apartheid“.

Früher stand Tzwia auf einer Linie mit der Politik ihrer Regierung. Ihr Haus sah aus wie ein einziger Fahnenständer für Israelflaggen. Sie war sehr stolz auf ihr Land. „Aber dann haben mir meine Söhne die Augen geöffnet“, sagt sie. „Meine Söhne waren klüger als ich.“ Der eine kam traumatisiert aus einem Militär­einsatz während der zweiten Intifada zurück. Er konnte nicht ertragen, was seine Einheit den Palästinensern angetan hatte. Der andere weigerte sich, als Pilot der Luftwaffe auf zivile Ziele zu schießen und wurde gefeuert. „Sie fragten mich: Was für eine Nation habt ihr da aufgebaut?“

Der erste Gang ins Wasser

Gegen das Tränengas dieser Nation wappnen sich die Freitagsprotestierer von Nabi Saleh mit Schwimmbrillen und Tüchern. Es soll das Atmen wenigstens etwas erleichtern. Trotzdem husten alle, als das erste Geschoss schon kurz nach der ersten Biegung zwischen den Demonstranten landet. Ein paar Meter weiter zischt es dann von allen Seiten. Das Gas verbreitet sich sofort, man kann nur noch durch einen Tränenschleier sehen. Das Gesicht brennt, die Lunge brennt, Würgereiz. Die Demonstranten fliehen in die nächstbesten Häuser. In abgedunkelten Räumen sitzen sie mit roten Augen auf dem Boden, hustend und nach Luft ringend, um wieder Energie zu sammeln für die nächsten Demonstrationsmeter. Auch einige Kinder blicken stumm aus verheulten Augen.

Wafa dagegen hat sich am Salzwasser verschluckt, sie ringt nach Luft, aber es ist großartig. Dieses Meer macht einfach Spaß. Auch einige Mütter haben sich mit ihren langen Gewändern in die Schwimmreifen gewagt und quietschen mit ihren Kindern um die Wette. Das erste Mal am Meer! Tzwia kümmert sich mit ihren Kollegen um das Glück. Sie cremen ein, verteilen Eis und Kekse, pusten Schwimmreifen auf und halten die Zögerlichen beim ersten Gang ins Wasser an der Hand. Später gibt es Mittagessen in einem Schulzentrum, zwei Clowns begeistern die Sonnenverbrannten mit einer kleinen Vorführung, und zum Abschluss fährt sie ein Schiff durch den alten Hafen von Jaffa und noch ein bisschen aufs Meer hinaus. Am Ende sind die Kinder erschlagen, aber glücklich.

Für manche Erwachsenen wandelt sich das Glück des Tages in einen bitteren Nachgeschmack. „Natürlich hatte ich heute riesengroßen Spaß“, sagt eine junge Mutter, die schon zum zweiten Mal dabei war und sich am Nachmittag mit Gummireifen und Kopftuch besonders weit hinaus gewagt hat. „Aber es macht mich auch neidisch, denn ich möchte ja wieder ans Meer fahren, und ich weiß, dass ich das nicht kann.“ Ihre Schultern zucken. „Im Großen und Ganzen bin ich hinterher wohl frustrierter als vorher. Aber es war einfach großartig.“

5.000 Schekel kostet so ein Tag, gut 1.000 Euro für jeden Tag am Meer, finanziert aus Spenden. 1.000 Euro dafür, dass Israelis, die sich sonst kaum für die andere Seite interessieren, für palästinensische Kinder Kuchen backen. 1.000 Euro dafür, dass palästinensische Kinder einen Tag erleben, an dem sie von Israelis wie kleine Könige behandelt werden.

Die Menschen von Nabi Saleh würden wahrscheinlich anderes mit diesem Geld anstellen. Vielleicht würden sie sich Gasmasken kaufen, vielleicht die Geldstrafen fürs Demonstrieren bezahlen oder ihre zerstörten Fensterscheiben reparieren. Wahrscheinlich würde das Geld nicht einmal reichen. Aber zwischen den kaputten Fenstern von Nabi Saleh und dem Kuchen am Meer von Tel Aviv liegen schließlich weit mehr als die 60 geografischen Kilometer.

Elisabeth Weydt hat den Reportageband An Grenzen (Liebe-Verlag) herausgegeben

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