Arbeitszwang oder Sanktion

Hartz IV Das Bundesverfassungsgericht verhandelt darüber, ob Sanktionen rechtswidrig sind. Doch es sollte um viel grundlegendere Fragen gehen

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Die Zukunft braucht vor allem neues Denken – und kein Hartz-IV-System
Die Zukunft braucht vor allem neues Denken – und kein Hartz-IV-System

Foto: Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Seit dem 15. Januar 2019 verhandelt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe darüber, inwieweit Hartz IV Sanktionen rechtswidrig sind. Die Frage stand schon Jahre im Raum, doch nachdem das Sozialgericht Gotha die Praxis grundsätzlich in Frage gestellt hatte, rief es das BVerfG an, welches nun darüber verhandelt. Innerhalb der letzten zehn Jahren (2007-2017) wurden Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II (Alg II) 9.915.901 mal sanktioniert, wobei eine Person mehrmals sanktioniert werden kann. Seit 2012 werden durchschnittlich 950.000 bis 1.000.000 Sanktionen ausgesprochen. Konstant etwa 70% betreffen sogenannte „Meldeversäumnisse“, das heißt die Nichtwahrnehmung von Einladungen durch die Jobcenter. Die stets postulierte Äußerung von Verfechter*innen der Sanktionspraxis, nur eine „Minderheit“ würde durch direkte Weigerung einer Angebots- oder Arbeitsannahme bestraft, ist oberflächlich nicht von der Hand zu weisen. Faktisch muss jedoch davon ausgegangen werden, dass jene Menschen, die einen Termin „versäumen“, sich der Struktur und Unterdrückung durch das Jobcenter mehr als bewusst sind und von der Möglichkeit einer Dunkelziffer ausgegangen werden muss, die aus psychischen und psychosomatischen Gründen einen Termin gar nicht wahrhaben können. Das Robert-Koch-Institut verwies darauf, dass Arme und von Armut gefährdete Menschen von „chronischen Krankheiten, psychosomatischen Schmerzen, Unfallverletzungen und Behinderung betroffen“ seien. Doktor Utz Anhalt bricht diesen Widerspruch auf, indem er erklärt, dass der soziale Status mittels Bestrafungen und der fehlenden Integration in die Gesellschaft unweigerlich kausal zusammenhängt. „Wer möchte, dass Erberwerbslose häufiger an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen, der muss sich für eine soziale Sicherung engagieren.“

Bereits kurz nachdem die Hartz-Regelungen 2005 in Kraft traten, gab es sozialen Widerstand und Kritik. Die durch die Schröder-Fischer-Regierung forcierte Neoliberalisierung des Sozial- und Arbeitsmarktes führte zwangsläufig zur Kapitalisierung jener Bereiche. Der im Grundgesetz verankerte Passus, die BRD sei ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ wurde zunehmend ausgehöhlt. Es wurde über die Jahre faktisch eine neue soziale Klasse erschaffen, die sich als Subproletariat oder Prekariat bezeichnen lässt. Das autoritäre Wesen von Hartz IV schränkt nicht nur die Rechte und Bedürfnisse der betroffenen Menschen ein, sondern liefert der sogenannten „freien Wirtschaft“ bedingungslose und stets austauschbare Arbeitskraft, deren Kosten im Namen des Kapitals gedrückt werden. Bezieher*innen von Hartz IV werden mittels „Eingliederungsvereinbarungen“ gezwungen, tariflose und schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, denn Aufgabe muss es stets sein, die Kosten des Staates so gering wie möglich zu halten. Diese Entwicklung der immer weiter treibende „Flexibilisierung“ führte dazu, dass im Jahre 2018 etwa 1,1 Millionen Menschen in Arbeit mit Hartz IV „unterstützt“ werden mussten, da ihr Entgelt nicht ausreicht. Der dadurch forcierte Klassenkampf brachte eine Spaltung innerhalb der arbeitenden Bevölkerung mit sich. Bezieher*innen von Hartz IV werden durch die ständige Propaganda von Medien sowie rechten und liberalen Politiker*innen als „faule Menschen“ bezeichnet, die auf „Kosten der Steuerzahler*innen“ ein schönes Leben hätten. Die Realität ist - wie so oft - eine andere.

Die Verhandlungen am BVerG beziehen sich oberflächlich einzig auf die Sanktionen. Die Frage, ob Hartz IV prinzipiell und radikal menschenverachtend ist, wird nicht gestellt. Eine Debatte darüber ist unweigerlich an die Arbeit im 21. Jahrhundert geknüpft, die jedoch von der Wirtschaft und ihren politischen Bittsteller*innen geleitet wird. Der Einzug der digitalen Revolution in die Arbeitswelt stellt eigentlich eine ernstzunehmende Entlastung der arbeitenden Bevölkerung dar. Die Fetischisierung der Arbeit wird leider bis in weite Teile der Linke vorangetrieben, bei der das Dogma zentral ist, dass Arbeit den Menschen ausmacht. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings muss Arbeit von Grund auf neu definiert werden, denn die Industrialisierung und der damit einhergehende Kapitalismus hat das Bild der Arbeit verzerrt und negativ besetzt. Sie wird als etwas existentielles, doch unschönes bezeichnet. Die Losung, der Mensch lebt, um zu arbeiten, hat sich längst in den Köpfe der Bevölkerung und der Erziehung der neuen Generation manifestiert: Der Wert eines Menschen wird daran gemessen, ob er einen Arbeitsplatz hat oder nicht. Hartz IV hat diesen Grundgedanken radikalisiert und als Mantra verewigt, indem Bezieher*innen einem faktischen Arbeitszwang unterworfen sind, obgleich jener explizit verboten ist.

Ein autoritärer Staat

Es handelt sich hierbei um einen dialektischen Schachzug der Regierung, der zentral in Karlsruhe behandelt wird. Aktuell wird bei einer Verweigerung der euphemistisch bezeichneten „Mitarbeit“ eine Sanktion verhängt, die das (sozio-kulturelle) Existenzminimum kürzt. In schweren Fällen kann es komplett gestrichen werden, was zu Obdachlosigkeit führen kann, die auch größtenteils das soziale Netzwerk angreift, da der innere Klassenkampf instrumentalisierend das Proletariat gegen das Subproletariat (Prekariat) stellt. Alg II Bezieher*innen "werden von ihrem Jobcenter gegängelt, drangsaliert und schikaniert“, schreibt der Armutsforscher Christoph Butterwegge in seiner neusten Publikation, und bezeichnet die Praxis als „totalitär“. Der Kapitalismus kann in seiner Ausprägung nur durch Arbeitszwang überleben, hiernach arbeitet die BRD daran, den Zwang per se zwar zu negieren, doch sie knüpft eine Arbeitsverweigerung an einen finanziellen Ruin. Diese Entwicklung hat aus dem propagierten „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ einen in der Sozial- und Arbeitspolitik autoritären Staat gemacht. Dass das Verbot des Arbeitszwanges vielen Politiker*innen im Weg steht, zeigen mehrere vergangene Äußerungen wie bei Guido Westerwelle („Im Sozialstaat gibt die Allgemeinheit das Geld. Da kann man von jedem erwarten, dass er auch etwas zurückgibt. Daran ist nichts Entwürdigendes.“) oder Ralf Stegner („Jeder, der arbeiten kann, der muss auch arbeiten.“). Hauptprofiteur der ganzen Praxis bleibt die deutsche Wirtschaft, die durch den erfolgten Niedriglohnsektor „wettbewerbsfähig“ bleibt und durch die Jobcenter stets neue Arbeitskraft zugeschickt bekommt.

Hartz IV ist ein Produkt des Kapitalismus und sollte demnach auf die selbe Weise kritisiert werden. Es obliegt den Klassenstrukturen von Parteien wie der Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen, wenn sie eine grundsätzliche Kritik am System vermissen lassen. Bezieher*innen von Hartz IV wurden auf eine Stufe gezwungen, in der eine stetige Entmenschlichung stattfindet. Daran eng geknüpft ist eine notwendige Arbeitskritik, die die Arbeit des Menschen neu definieren muss, frei von ökonomischen Profitstreben. Der uralte Spruch, man arbeitet, um zu leben ist wichtiger denn je, denn er muss die Technologisierung der Arbeitswelt für die Menschheit nutzen, um eine zentrale Wirtschaft zu ermöglichen, die langfristig eine Teilzeit zur Normalität werden lässt, bei der ein Betrieb theoretisch nach zwei Wochentagen bereits das Wochenpensum erreichen könnte, wonach der Mensch im Anschluss frei sein kann. Hartz IV ist eine Waffe der Mächtigen, die die Bezieher*innen dessen erniedrigt und für ihren Zustand selbst für schuldig erklärt. Das BVerfG verhandelt darüber, ob die Sanktionen gesetzeswidrig sind. Das ist der falsche Ansatzpunkt. Es steht nur eine Frage im Raum, welche essentiell: ist es wert, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Armen für ihre Armut bestraft werden und die Schere zwischen Arm und Reich bis in die Unkenntlichkeit auseinanderreißt? In der Zivilisation entspringt die Armut aus dem Überfluss, sagte einst der Frühsozialist Charles Fourier. Und das ist die grundlegende Kritik, die all die Erscheinungen, wie das autoritäre Hartz IV, betreffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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