Armut ist kein Verbrechen

#unten Der Freitag hat eine längst überfällige Debatte ausgelöst. Soziale Diskriminierung und Armut muss offen benannt werden. Auch die Autorin ist davon seit Jahren betroffen

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Das musste für einen Monat reichen
Das musste für einen Monat reichen

Foto: imago/Photocase

Der Freitag hat eine längst überfällige Debatte angestoßen: die Sichtbarmachung der Unsichtbaren. Unter dem Hashtag #unten melden sich Menschen, die tagtäglich unter Armut, sozialer Diskriminierung und Ausgrenzung litten und leiden. In der BRD gilt Armut als selbstverschuldet, was durch die Regierung Gerhard Schröders mittels der Agenda 2010 juristisch zementiert wurde. Anstatt etwas gegen den strukturellen Klassismus zu unternehmen, werden erwerbslose Menschen speziell durch Behörden schikaniert und wie moderne Sklav*innen behandelt. Einerseits wird das Selbstbestimmungsrecht zwar geachtet, und es wird stets monoton erwähnt, dass alles auf freiwilliger Basis von statten ginge. Doch diese Freiwilligkeit wird durch die Androhung von Kürzungen und Sanktionen konterkariert. Die darauf fußende Residenzpflicht zwingt diese Menschen, jede längere und entferntere Abwesenheit anzugeben, die bei Nichterfolgung ebenfalls sanktioniert wird. Das „Fordern und Fördern“ der herrschenden Klasse ist die bewusste Erweiterung der gesellschaftlichen Spaltung. Es entstand in den letzten 20 Jahren ein Subproletariat, das durch befristete Arbeitsverträge, Aufstockungen und 1-Euro-Jobs gekennzeichnet ist. Das ist Arbeit in einem reichen Land, die zusätzlich durch den Staat aufgestockt werden muss. Die Debatte #unten greift ein schon ewig währendes Problem auf, deren Unsichtbarkeit jedoch an einem bestimmten Punkt gesetzt war: Man spricht nicht über Armut, weil es sich anfühlt, man hätte etwas falsch gemacht.

Offiziell wurden im Oktober 2018 2,2 Millionen Erwerbslose gezählt. In dieser Statistik wird jedoch ein nicht unwichtiger Teil der Menschen, die ebenfalls keiner geregelten Arbeit nachgehen, nicht mitgezählt: Teilzeit-Beschäftigte, die weniger als 15 Stunden die Woche arbeiten, und hernach eine Aufstockung benötigen; Krankgeschriebene, Personen ab dem 58. Lebensjahr, die seit zwölf Monaten ALG II beziehen sowie der Teil der Personen, die laut Definition der tagesschau „eine Vermittlung erschweren, weil sie ihre Pflichten bei der Jobsuche nicht erfüllen“. Die Menschen der letzten Gruppe sind Personen, die schikanös behandelt werden, sich gegen eine aufoktroyierte Unterbeschäftigung wehren, größere Reisewege nicht akzeptieren wollen oder weitere Punkte, die ein freier Mensch eigentlich zu entscheiden hat. Doch die Freiheit der Menschen der Armut ist eine illusorische. Sie werden vom alltäglichen Leben regelrecht ausgegrenzt. Die Teilnahme und -habe an Kultur und Freizeit wird an der Nichtbeschäftigung gemessen, was auch von den Personen selbst, die nicht unter Armut leiden, internalisiert wurde. Klassistische Diskriminierungen greifen die direkte Unfreiheit des Menschen an und führen zur gesellschaftlichen Ausgrenzungen. Aussagen wie, dass Bezieher*innen von „Hartz IV“ grundsätzlich faul, nicht intellektuell und unhygienisch sind, werden tagtäglich über die privaten TV-Sender transportiert. Die dort dargestellte Armut dient der einzigen weiteren gesellschaftlichen Spaltung und der Selbstbestätigung derer Menschen gleichermaßen, derweil nicht reflektiert wird, wodurch die Armut produziert wird. Dieses Vorurteil hat sich fest verankert in den gesellschaftlichen Massen und wird wie ein Stigma angewandt, mittels der schlichten Losung: wer „Hartz IV“ bezieht, ist ein*e „Versager*in“.

Diese soziale Ungleichheit wird stets weiter auseinandergerissen und führt nachweislich zu psychischen Problemen, Angstzuständen und Depressionen. Armut macht krank, wie die Caritas Deutschland 2012 mittels einer Statistik beipflichtet. Erwerbslose Menschen sind länger und häufiger krank. Das Gesundheitssystem ist allerdings nicht auf die Armut zugeschnitten, sondern privilegiert die Nicht-Armut. Das ist allerdings nicht verwunderlich, denn die sogenannte Zwei-Klassen-Medizin ist de facto ein Produkt und hernach Mittäterin der sozialen Diskriminierung. Im Falle einer Nichtbefreiung der Gebührenpflicht können die Zuzahlungen von fünf Euro schmerzlich werden. Je länger man in der Falle dessen ist, desto eher eignet man sich Strategien an, jeden Tag auf neuste zu überleben. Gerade ältere Menschen greifen in Großstädten auf das Sammeln von Pfandflaschen auf, doch auch immer jüngere Menschen erblickt man dabei. Jeder Cent wird umgedreht und es wird überlegt, ob das Erwerben dieses Produkt nun so notwendig ist. Dadurch versklavt man sich selbst, weil die Wahl einem genommen wird. Eine wirkliche Teilhabe am Leben wird dadurch verunmöglicht. Selbst der Konsum von Energy-Drinks unter jüngeren Menschen wird zur strukturellen, sozialen Diskriminierung herangezogen: der*die das günstige Produkt des Discounter konsumiert, wird als der Armut unterworfen geoutet.

Die Debatte, die der Freitag hier nun anstößt, muss dabei zwei Kanäle öffnen: Erstens muss der Klassismus direkt benannt, diskutiert und folglich bekämpft werden und zweitens steht die Frage für die Politik im Raum, wie mit dieser Unsichtbarkeit umgegangen werden muss. Die Realität indes ist eher trist, auch mit Blick auf die potentiellen Kandidaten für das Bundeskanzleramt der CDU Friedrich Merz, der sich 2008 in einem Artikel bei der WELT für eine drastische Kürzung des „Hartz IV“-Satzes aussprach. Die Benennung der sozialen Diskriminierung, Armut und Ausgrenzung wird von der herrschenden Klasse stets anhand der Kosten abstrahiert: Selbstverständlich sei dies alles nicht sonderlich schön, doch wer soll das bezahlen? Die bittere Ironie hat die Antwort darauf schon längst gegeben, wenn im nächsten Zug wieder Milliarden für Banken und Militär zur Verfügung gestellt wird. Armut ist ein Produkt der neoliberalen Ordnung und ihr inhärent. Es führt daher kein anderer Weg vorbei, als diese Gesellschaftsforum zu hinterfragen und letztlich zu überwinden. Der Profit der wenigen Reichen darf nicht die tödliche Armut der Vielen privilegiert überdauern. Doch auch die gesellschaftliche Sensibilisierung ist unabdingbar. Es muss über Armut gesprochen werden. Armut ist kein Verbrechen. Das zu benennen und nicht zu unterdrücken ist das wichtigste.

Die Perspektive der Ich-Erzählung meide ich eigentlich in Blogs, aber hier ist sie notwendig. Ich selbst wurde in einer Familie mit drei Geschwistern geboren. Seit frühester Kindheit an bezogen wir „Hartz IV“, das sich in mehreren Punkten und Situationen niederschlug. Geschenke und Kleinigkeiten gab es ausschließlich an Geburtstagen und zur Weihnacht. Spontan einen Döner oder ähnliches in der Stadt zu besorgen war schlicht unmöglich, denn das Budget für die Nahrungsversorung wurde monatlich ausgerechnet. Man hat uns die Armut von außen nicht direkt angesehen, jedoch war sie stets existent. Besonders schulische Aktivitäten, die eine finanzielle Mitbeteiligung der Eltern erzwangen, wurden bei vier Kindern schnell zu einem Problem. Ich konnte jede Klassenfahrt mitnehmen, auch die ins Ausland. Doch das verwendete Geld wurde an anderer Seite eingespart, an Geschenken beispielsweise. Der Satz „Das ist dann dein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk“ wurde fast obligatorisch. Die Taschengeld-Diskussion offenbarte dann eine Ungerechtigkeit, die das Kind auch erfährt und versteht: Fünf Mark/Euro im Monat, mehr war nicht drin. Bei anderen Kindern war das das Wochen-Taschengeld. Besuche von Theatern, Kinos oder Schwimmbädern markierten immer ein Höhepunkt, denn es war etwas besonderes. Das Gefühl, Geld wirklich beiseite zu haben, hatte ich bis dato nie. Die Hoffnung, am Ende des Monats noch einstellig da zu stehen, war und ist das einzige, was zählt. Diese von mir verinnerlichte Normalität darf keine Normalität bleiben und sein. Besonders Armut in der Kindheit und Jugend hat einen unwiderruflichen Einfluss auf deren Sozialisation und Entwicklung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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