Die bürgerliche Moral

Standpunkt Die Moral dient stets als Instrument der Verteidigung der eigenen Herrschaft. Sie ist hiernach niemals objektiv, gleichwohl objektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfen.

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Moral oder Moralismus gilt als richtungsweisender Anker der Klassengesellschaft. Sie existiert seit sich die Menschheit ihrem Geschlecht bewusst ist und ist den stetigen Wechselbeziehungen verschiedener Kämpfe ausgesetzt. Die darauf fußende Ethik ist darüber hinaus nicht nur Spiegelbild des herrschenden Duktus, sondern gleichermaßen Instrument und Waffe zugleich. Sie kann hernach niemals objektiv funktionieren, sondern ist Resultat subjektiver Entscheidungen, die sich jedoch auf objektive Verhältnisse bezieht. Die allgegenwärtige Frage ist, inwieweit eine moralische Herangehensweise ein Mittel zur Problembewältigung werden kann, ohne sich selbst zu negieren. Die Hauptproblematik ist die erwähnte Subjektivität, die qua definitionem Konflikte anheizt, ermöglicht oder auslöst. Die Französische Revolution wird als Usurpation des aufklärerischen Willens des heraufsteigenden Bürgertums genutzt, in dem ein richtungsweisender Moralismus erkämpft wurde, der in vielen Punkten noch im 21. Jahrhundert Anwendung findet. Eng verknüpft damit sind die ethischen Grundwerte der bürgerlichen Klassengesellschaft, in der formal Menschenrechte definiert und garantiert werden, doch de facto eine Klassifizierung unausweichlich ist. Daran gemessen spielt die dialektische Deutungshoheit keine unwesentliche Rolle, obgleich sie alleine durch die Existenz als solche sich erübrigt. Der Sieg des Bürgertums manifestierte nicht nur gesellschaftliche und ökonomische Fortschritte, sondern maßte es sich auch an, die Philosophie zu erobern, respektive ihr gewahr zu werden, der strukturellen Idealisierung verpflichtend.

Der bürgerliche Moralismus ist dabei kein starres Moment, sondern den gesetzmäßigen Schwankungen, Kämpfen und Negationen ausgesetzt wie jeder anderen Klassengesellschaft auch. So war beispielsweise die Sklav*innenschaft über die Frau* auch in den frühen Tagen des Bürgertums eine moralische Notwendigkeit (hier abstrahiert durch ökonomische, politische und soziale Errungenschaften). Die bedingte Ethik wurde zu einem progressiven Subjekt ihrerselbst, da der bürgerliche Rahmen die Emanzipation zuließ und dadurch auch eine Neuausrichtung des Moralismus selbst zuließ. Die inneren Konflikte sind geknüpft an den ökonomischen Faktoren. Existentielle Krisen sind ein natürlicher Faktor, ungeachtet der Klassenzugehörigkeit. Widersprüchlichkeiten sind sonach dem Namen selbst keine, sondern logische Kontinuitäten des jeweils zu behandelnden Subjekts. Militarismus und Pazifismus sind beispielsweise in der bürgerlichen Moral keine Gegensätzlichkeiten, sondern duale Ausprägungen eines ökonomischen Zustands. Das erlaubt den bürgerlichen Staaten einerseits Kriegsverbrechen zu ächten, die sie selbst nicht zu verantworten haben beziehungsweise Jahrzehnte in der Vergangenheit zurückliegen, andererseits jedoch im selben Atemzug eben solche zu begehen. Natürlich ist es naiv und völlig falsch, den Imperialismus als rein moralisches Subjekt zu definieren. Allerdings ist die ethische Konstante keine unwesentliche. Die 1948 entworfenen Menschenrechte verkommen dadurch zu einer Auslegungssache, die den strikten Regeln der ökonomischen Interessen und der selbst negierenden Ethik unterworfen sind.

Nun hat diese Ermächtigung ein großes Legitimationsproblem. Die postulierte Gewaltfreiheit beziehungsweise anti-militaristische Ader unterliegt dem Glauben, durch Selbstradikalisierung sich zu behaupten. Das heißt: der Völkermord in Serbien durch die NATO wurde dadurch legitimiert, um eine serbische Aggression selbst zu konterkarieren. Kriegsbegeisterungen wie in Afghanistan, Irak und Syrien konnten nicht durch ökonomische Faktoren begründet werden, sondern erfolgten durch moralisierende Aussagen wie herbei fabulierten Massenvernichtungswaffen, Leid und Elend der dort lebenden Bevölkerungen. Der Tod beziehungsweise der inhärente Terrorismus unterliegt dadurch einem doppeltem Vorbehalt. Enthauptungen durch den Da'ish erfahren eine moralische Empörung, doch westlicher Terror wie Drohnenangriffe auf Zivilist*innen und Krankenhäuser oder die offenen, aggressiven Äußerungen, souveräne Staaten zu attackieren werden als Instrument der Moral verstanden, sprich den schon lange nicht mehr progressiven Faktor. Das menschliche Geschlecht suhlt sich in der Utopie des Pazifismus, den sie als höchste Form der Moral verstanden wissen möchte, doch ignoriert die Tatsache, dass diese Moral Resultat der Unterdrückung anderer ist: die bürgerliche Moral – jede Moral als solche – ist verankerter Faktor eines jeden Staates und somit Akteur der Unterdrückung.

Besonders radikal wird diese Sichtweise in den Protesten in Frankreich. Diese Form der Gewalt ist de facto die Negation der bürgerlichen Moral, doch in ihr geschlossen Produkt einer anderen. Die Subjektivität der Moral ist längst zur herrschenden Meinung geworden, wonach sich Gesetze richten. Individuelle Zerstörung von Produkten werden als terroristische Akte bezeichnet, derweil kollektive Zerstörung von Leben als Errungenschaft bezeichnet wird. Die dadurch kolportierte selbstbestimmte Freiheit erfährt eine konfrontative Negation, nicht nur in der marktradikalen Schicht. Die Deutungshoheit der bürgerlichen Moral ist tief verankert auch in der politischen Linken, bei der es Menschen gibt, die sich prophylaktisch von Akten distanzieren, die dem Duktus widersprechen. Die (verbale) Jagd auf Menschen, das Applaudieren von Toten in den Seen, die Massaker in arabischen Staaten im Namen der (bürgerlich-demokratischen) Freiheit; all das subsumiert sich unter der Meinungsfreiheit und der darin begründeten moralischen Überlegenheit. Die Kritik an den herrschenden Zuständen, auch bedingt durch direkte Aktionen wie Belagerungen von Straßen, Besetzungen von Häusern, Forderungen nach Sozialismus wiegt absolut höher und ist als der Terror der Massen betitelt. Gewiss ist dadurch die Reinhaltung der Moral besonders in der BRD der Unterwerfung der eigenen Geschichte unabdingbar. Die Empörungswelle ist dabei eine unverständliche, denn jede Gesellschaft stieg durch Negation der alten empor, d. h. der Anwendung von Gewalt. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte ständiger Gewaltauseinandersetzungen, bis ins Jahre 2019. Die Befreiung der Sklav*innen erfolgte durch die Bekämpfung der Herren, die Üeberwindung der Monarchie durch das Bürgertum erfolgte durch die Guillotine, die Konsolidierung des Bürgertums durch zwei verheerende Weltkriege und es wendet nach wie vor Gewalt an, gegen die eigene oder fremde Bevölkerungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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