Sehenden Auges in die Katastrophe

Pandemie Die Bundesrepublik hat die Kontrolle über die Corona-Pandemie verloren. Ohne Strategie zu ihrer Bekämpfung bleiben Schulen und Produktionsstätten geöffnet. Freie Bahn für das Virus

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Trotz steigender Infektionszahlen unter den Schüler*innen schließt die Regierung erneute Schulschließungen aus.
Trotz steigender Infektionszahlen unter den Schüler*innen schließt die Regierung erneute Schulschließungen aus.

Foto: INA FASSBENDER/AFP via Getty Images

Mit fast 100.000 Toten, einer Inzidenz von 400 und 17,4 % Covid-Erkrankten auf den Intensivstationen befindet sich die Bundesrepublik mitten in der vierten Welle. Man konnte es kommen sehen, Wissenschaftler*innen haben gewarnt, doch handeln wollte mal wieder niemand. Bereits am 22. Juli 2021 legte das Robert Koch-Institut (RKI) Modellrechnungen vor, die deutlich zeigten, was bei einer stagnierenden Impfquote passieren würde. Deutschland, die Schweiz und Österreich haben die niedrigsten Impfquoten Europas. In Deutschland liegt sie derzeit bei 68 %, erst bei einer Quote von 85 %, so das Robert-Koch-Institut, wäre die Pandemie „in den Griff zu kriegen“. Selbst die in den Modellrechnungen erhofften 75 % wurden bei weitem nicht erreicht, was die Modellrechnungen des RKI retrospektiv sehr konservativ geschätzt aussehen lässt. Denn: es ist tatsächlich viel schlimmer geworden als erwartet. Die Planung der sogenannten „Booster“-Impfungen für den nun einbrechenden Winter, wurde im Sommer versäumt, wodurch immer mehr (noch) Vollgeimpfte eine ausreichende Schutzfunktion gegen das Virus verlieren. Impfdurchbrüche und Reinfektionen können nicht mehr ausgeschlossen werden. Deutschland spielt global seit vielen Tagen ganz vorne mit, wenn es um die Zahl der täglichen Neuinfektionen geht. Erwartungen, dass im Dezember die Marke von täglich 100.000 bestätigten Neuinfektionen erreicht wird, werden sich sehr wahrscheinlich bestätigen. Der Virologe Christian Drosten geht sogar davon aus, dass sich die derzeitigen Todeszahlen verdoppeln werden: Bis zu 100.000 Covid-Toten mehr seien nicht unwahrscheinlich.

Während im ganzen Land die Inzidenz steigt, geht das (gesellschaftliche) Leben scheinbar ungestört weiter. Dass die designierte „Ampel“-Koalition die epidemische Lage auslaufen lassen lässt, ist dabei ein katastrophales Signal. Die neue Rechtslage zielt (derzeit) mehrheitlich auf die Gruppe der Ungeimpften ab. So wird das Narrativ verbreitet, Geimpfte und Genese seien nicht die Treiber der Pandemie und der Gefahr einer (schwerwiegenden) Infektion nicht ausgesetzt. So wird in der aktuellen Debatte einzig der „schwere Verlauf“ und die Toten, die das Virus fordert, in den Fokus genommen. Anders als zu Beginn der Pandemie im März/April 2020 scheint die Regierung das SARS-CoV-2-Virus in seiner Gänze kaum noch ernstzunehmen. Eine Durchseuchung der Bevökerung wird von ihr wissentlich in Kauf genommen. Dabei ist nach wie vor noch nicht vollständig erforscht, wie sich beispielsweise Long-Covid-Symptome langfristig bemerkbar machen. Überhaupt sind Patient*innen mit „leichtem Verlauf“ einer Corona-Erkrankung, in der Öffentlichkeit viel zu wenig repräsentiert; ihre Unsichtbarmachung dient scheinbar der Selbstgewissheit, dass das Virus unter Kontrolle zu bringen sei. Die Corona-Pandemie ist allerdings schon vor einigen Monaten außer Kontrolle geraten.

Dass der bürgerliche Staat und die kapitalistische Produktionsweise einen völlig anderen Weg vorsehen, als der notwendige, ist nicht verwunderlich. In Deutschland wird bis zur letzten Spritze das Schulwesen offengelassen, Produktionsstätten werden weiter betrieben und es wird alles daran gesetzt, Pandemiebekämpfung und eine funktionierende Wirtschaft unter einen Hut zu bekommen. Dass das nicht möglich ist, wird seit dem Ausbruch der Pandemie unter Beweis gestellt; Lockdowns und Beschränkungen griffen primär in das Privatleben ein, derweil die Wirtschaft nonchalant für infektionsfrei erklärt wurde. Die Arbeitswege ohnehin. Debatten über 3G oder 2G können nicht darüber hinwegsehen, dass es sich hierbei nur um eine Symptombekämpfung handelt, die, wie bereits erwähnt, der Illusion verhaftet ist, eine Impfung alleine sei der Hauptfaktor der Pandemiebekämpfung. Freilich ist sie unausweichlich, und Diskussionen über eine Impfpflicht sind notwendig. Trotzdem wird die Wissenschaft selektiv politisierend instrumentalisiert, um die neoliberale Ideologie des Leistungsdrucks und Konkurrenzkampfes aufrechtzuerhalten. Es ist wie es ist, und um diese Erkenntnis kommt man nicht umhin: Die BRD lässt ihre Bevölkerung offiziell durchseuchen und bekommt teilweise Rückendeckung von Gewerkschaften, die unter anderem das Schulwesen ausdrücklich geöffnet haben wollen.

Bei Kindern und Schüler*innen ist der Inzidenzwert exorbitant hoch, in einigen Landkreisen teils vierstellig. Mit Blick auf die Festtage bleibt einem nichts anderes mehr, als den Kopf zu schütteln. Die Bundesrepublik hat die Kontrolle über die Pandemie vollends verloren. Ad-hoc-Entscheidungen, wie sie in den vergangene Tage getroffen wurden, trösten über diese Tatsache nicht hinweg. Sie sind vielmehr Ausdruck einer globalistischen Krise des Systems, das durch seinen inhärenten Charakter der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zugrunde gehen wird. Virologisch-wissenschaftlich ist das Vorgehen der Politik eine Katastrophe: Die Regierung ist gefangen im Widerspruch zwischen liberalistischem und autoritärem Wesen zur Überwindung der Pandemie. Stellt sie die Freiheit über alles stellen, wird das Virus noch ewig wüten. Schottet sie die Gesellschaft komplett ab, kann zwar das Virus eingedämmt werden, wird jedoch der Widerstand einiger Bevölkerungsgruppen enorm sein und (weitere) Radikalisierungen nach sich ziehen. Die aktuelle Politik pendelt zwischen beiden Extremen, ohne eine Lösung anbieten zu können. Diese ist dabei so simpel wie ungemein schwierig: Zur Bekämpfung des Virus ist eine Überwindung des maroden kapitalistischen Systems unausweichlich, um die Produktion vollends auf die Pandemiebekämpfung auszurichten. Dann wird auch die Impfpflicht keine kontroverse Angelegenheit mehr sein: denn sie muss irgendwann kommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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