Gibt es die Moral?

Debatte Die Moral scheint über allem zu stehen und ist doch ein umkämpftes Feld der Deutungshoheit. Doch kann es überhaupt eine allgemeingültige Moral geben?

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Moralkonzeptionen gibt es schon ewig, bereits bei den Alten Griechen spielte es eine Rolle. Die Moral und seine Konzeptionen und Grundlagen wird in der herkömmlichen Tradition als Teil der Praktischen Philosophie behandelt, das heißt, sie bestimmt unser Handeln, die soziale und gesellschaftliche Interaktion. Daran geknüpft ist besonders die Frage, ob sie seinsfundiert, also unabhängig vom Menschen oder subjektabhängig, also abhängig vom Menschen ist. Vor der Aufklärung und des Anspruchsmonopols der Kirchen konnte eine seinsfundierte Moralkonzeption leicht mit der Existenz Gott begründet werden: Die Erklärung, weshalb man nicht töten solle, wurde mit Verweis darauf, dass Gott es so entschied, abgehandelt. Solch theonome Konzeptionen spielen auch in der bürgerlichen Moral und der intuitiven eine gewichtige Rolle weiterhin, auch wenn man die Existenz Gottes nicht mehr annehmen würde. Dass nicht getötet werden soll, scheint auch denen verständlich, die Gott negieren.

Die Frage ist nun also, wie sich die Moral dann erklärt respektive woher das Gebot kommen soll, nicht töten zu sollen. Im Zuge der Aufklärung wurde versucht, eine objektive Moralkonzeption zu erarbeiten, die die Gottesannahme braucht, ohne Gott anzunehmen. Da solch objektivistische Konzeptionen jedoch auch bei bürgerlichen Philosoph*innen tatsächlich auf viel Widerstand stoßen, gibt es tatsächlich wenig Vertreter*innen, die eine wirklich seinsfundierte, vollkommen von der Menschheit abgekapselte Moral verteidigen.

So sind der Utilitarismus und die Philosophie Immanuel Kants auch nicht seinsfundiert, sondern stark subjektabhängig. Leo Trotzki beispielsweise geht auf den Utilitarismus ein und beschreibt ihn als „jesuitisches Prinzip“. Der Utilitarismus ist eine Moralkonzeption, die vom Nutzen und/oder Glück des Einzelnen abhängig von der Gemeinschaft ist. Moralisch wertvoll sei all das, was das eigene Glück, also die Negation von Unlust und Leid, abstrahiert vom gesamtgesellschaftlichen Glück bezweckt. Besonders nach John Stuart Mills ist der Utilitarismus als Konzeption zu verstehen, die eine ziemlich widersprüchliche Annahme der Moral an sich macht. Das Glücksprinzip, also wenn man etwas moralisch gutes tue, was auch allen zugutekommt, kann aufgehäuft werden, was die Entgegnung zulassen muss, dadurch utilitaristisch nicht-moralische Dinge ausdrücklich machen zu dürfen. Also: wenn man einem Menschen das Leben rettet und am nächsten Tag erneut einem Menschen das Leben rettet, könnte man nach utilitaristischer Prämisse am dritten Tag einen Menschen töten, denn die Reduktion des Glückskontos wäre nur -1, bei +2 moralisch guten Handlungen.

Diese extrem mechanische Herangehensweise verweigert dabei eine dialektische Erklärung völlig, weil sie sich auf die Konklusion stützt, dass der Mord das gesamtgesellschaftliche Glück nicht erhöhen kann, da es einen vermeintlich inhärenten Widerspruch zwischen der „Natur des Menschen“ und der Moral an sich hat. Das Dogma „das Zweck heiligt die Mittel“ verweigert dabei jegliche weitergehende Beantwortung der Frage, wovon die Moral an sich nun abhängig ist. Dass sie subjektabhängig ist, ist ersichtlich, doch wie definiert der Mensch, die Gesellschaft, was moralisch erlaubt und was moralisch verboten ist? Hier kommt man unweigerlich wieder an die theonome Konzeption, die es einst mit Gott begründete, wodurch die nicht-theonome Konzeption nun im erwähnten Dilemma steckt, Gott zu negieren bei Bejahung seiner moralischen Autorität.

Immanuel Kant und das Prinzip des kategorischen Imperativs spielt dabei eine ähnliche Rolle. Die kantische Moralphilosophie wird von bürgerlichen und idealistischen Philosoph*innen wie ein Sakrileg vorangetragen und gegen jede philosophische Replik verteidigt. Doch auch Kant hat sich dem Anspruch verschrieben, eine Moralkonzeption ohne Gott zu formulieren, kommt dabei also zum Entschluss, dass absolut jede moralische Handlung kategorisch ist, hiernach keiner weiteren Erklärung bedarf. Auch er greift auf eine Formulierung zurück, die ein quasi-religiöses Dogma aufgreift: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Allerdings greift dieses Prinzip auch moralische Handlungen auf, die andere Konzeption als falsch verstehen würden. Die Moral verkommt hier nicht zu einer wertend normativen Maxime – wenngleich Kant in seinem Spätwerk mit obskuren Gottesbezügen sich da etwas im Weg steht – eruiert jedoch in den Konflikt mit der „Natur des Menschen“. So negiert Kant ausdrücklich, dass man wollen kann, sich umzubringen, denn die „Natur des Menschen“ sei ausgelegt darauf, leben zu wollen.

Man sieht also mehrere Probleme hier: Erstens wird die Moral nicht abstrahiert und erklärt, sondern als faktisches Axiom, als Prinzip hier, aufgegriffen. Zweitens entsteht durch Aufzeigen einiger Beispiele schnell die Notwendigkeit der Kontradiktion im nicht-dialektischen Sinne, was Kant aber durch das Prinzip als Axiom eben verfestigt. Hier hat man es mit einem extrem mechanischen und idealistischen Konzept zu tun, deren Grundauffassung kein Novum ist, aber der erneute Versuch, eine Moral zu konzipieren, die für alle gleichermaßen gilt, ohne Gott zu bemühen, was fehlschlägt. Diese Konzeption der Allgemeingültigkeit der Moral für alle wird im praktischen Wirken und in einer Klassengesellschaft ohnehin permanent über Bord geworfen, da faktisch nicht anwendbar. Das Tötungsverbot, wonach eine Tötung aus Notwehr moralisch anders gewertet wird als eine Tötung aus Lust, offenbart das Dilemma. So muss sich die bürgerliche Moral die Frage stellen lassen, inwieweit das mit einer Allgemeingültigkeit, oder, wie es Kant formuliert, mit der imperativen Kategorisierung zu vereinbaren ist.

Fei finden die bürgerlichen und idealistischen Moralist*innen darauf eine Antwort und bedienen sich eines weiteren nichtssagenden Prinzips des „Ausnahmen bestätigen die Regel.“ Damit entzieht man sich jeder kritischen und notwendigen Replik und zieht sich stattdessen auf den bürgerlichen Elfenbeinturm zurück, in dem Ausnahmen anerkannt werden und immer dann auch notwendigerweise existieren, um das Axiom oder das Prinzip völlig zu entfalten. Die eigentliche Genialität beispielsweise eines Kants und seiner Moralkonzeption liegt in der faktischen Nichtbegründung seines Prinzips des kategorischen Imperativs, bei der eine Annahme respektive These als Faktum angewandt wird.

Man sieht hier also das fatale Wirken der bürgerlichen und idealistischen Moral, sich als allgemein und kategorisch zu definieren, bei subkutaner Beibehaltung der Hierarchisierung unter Verweis auf Ausnahmen. Doch die Moral ist niemals objektiv beziehungsweise seinsfundiert, sondern dialektisch und immer Ausdruck der herrschenden Meinung und hiernach Moral sowie auch im Klassenwiderspruch die Moral der jeweiligen Klasse. Das bedeutet: Es gibt nicht eine, die Moral, sondern es existieren in einer Klassengesellschaft notwendigerweise verschiedene Konzeptionen, die in ihrer Begründung der Verteidigung der eigenen Interessen die Existenzberechtigungen abstrahieren.

Man muss sagen, dass die Moral immer eine Klassenmoral und hiernach notwendigerweise dialektisch ist. Um sie als Instrument in der Auseinandersetzung innerhalb der Klassenwidersprüche im Sinne der herrschenden Klasse nicht als Waffe und Instrument zu verbrämen, spricht man also von der Kategorisierung der Moral, der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, dem Axiom, nicht töten zu dürfen, weil es gegen die Natur des Menschen gestellt und daraus eine Unverständlichkeit formuliert, die die bürgerliche Moralphilosophie als erstaunlich hohe Kunst und Wissenschaft und als Königsdisziplin der Philosophie zu verkaufen, wobei sie nichts Weiteres ist als eine von vielen Waffen im Klassenkampf und der Unterjochung der Unterdrückten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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