Idealismus der Mittelschicht

Analyse Der Linksliberalismus ist eine Wohlstandsideologie, die sich nur die westliche Welt leisten kann. Ihr Moralismus ist mit Grund für den gesellschaftlichen Rechtsruck.

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Er hatte es schon geahnt und bewusst provoziert. Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen für Bündnis 90/Die Grünen, veröffentlichte jüngst einen Facebook-Eintrag, in dem er die Deutschen Bahn fragte, „welche Gesellschaft“ ihre Startseite abbilden solle. Neben viel Kritik an der strukturell rassistischen Argumentation reagierte auch die Deutsche Bahn und lehnte die Haltung Palmers ab, dem sie „Probleme mit einer offenen und buten Gesellschaft“ vorhält. Palmer ist bereits öfters mit seinen vermeintlich Grünen-untypischen Äußerungen aufgefallen, was immer wieder dazu führte, eine Trennung zu vollziehen. Ähnliches erfährt auch der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, der ebenfalls Mitglied der Grünen ist, wenn er beispielsweise für die Autoindustrie Partei ergreift. Stellt man Palmer und Kretschmann Robert Habeck und Hans-Christian Ströbele entgegen, vermag man auf den ersten Blick einen Widerspruch erkennen. Dabei handelt es sich bei den Grünen um eine parteipolitische Vereinigung des sogenannten Linksliberalismus, der sich im 21. Jahrhundert als gefühlte Avantgarde einer neuen Gesellschaft versteht. Entgegen dem eigenen Anspruch greift der Linksliberalismus - hiernach die Grünen - jedoch nicht eine Gesellschaft als komplettes Subjekt auf, sondern vermengt Identitätspolitik und negativen Freiheitsfetisch zu einer vermeintlich progressiven Idee, die sich als Speerspitze der Aufklärung und Humanität versteht.

Die Personalie Boris Palmer ist unausweichliche Konsequenz des Charakters eines linken Liberalismus, der sich im Widerspruch der Ideologie wiederfindet. Die Identitätspolitik spielt ein zentrales Moment in der Schaffensweise der Grünen. Neben dem Kampf für die Anerkennung und Rechte von queeren Menschen, Migrant*innen und Frauen* steht das individuelle Bedürfnis nach Freiheit und Wohlstand als zentrales Moment im Fokus jener Politik. Anstelle eines gesellschaftlichen Bewusstseins erschaffen durch das gesellschaftliche Sein wird eine Identifikation mit der Umwelt und sich selbst artifiziell konstruiert, die sich von Klassengegensätze vollends emanzipiert. Dadurch wird nicht nur der historische Determinismus geleugnet respektive ignoriert, sondern auch das Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt auf den Kopf gestellt. Es wird nicht mehr der Entwicklungsstand von der ökonomischen Weite und hiernach gesellschaftlichen abstrahiert, sondern davon ausgegangen, dass es faktisch keine Grenzen gibt, sich selbst zu entfalten. Die freie Entfaltung des Einzelnen steht über sozialen, politischen und historischen Realitäten. Diese Konzentration und Dynamik des Linksliberalismus findet bei den Grünen ein Zuhause, was unter anderem auch die derzeitigen hohen Stimmwerte bezeugen. In Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks wirkt der Linksliberalismus wie ein Hort des Friedens.

Doch obgleich er sich als quasi-messianische Vorhut versteht, bleibt er nicht frei von dialektischen Grundsätzen. Politische Prozesse lediglich zu ignorieren macht sie noch lange nicht unwirksam. Der ökonomische Aspekt des Linksliberalismus offenbart den antagonistischen Charakter und folglich das Paradoxon zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Als Verteidigerin offener Grenzen und der Globalisierung wird auch ein sogenannter freier Markt verteidigt, der je nach Ausprägung eine soziale Einfärbung bekommen soll. Doch grundsätzlich ist der freie Kapital- und Warenverkehr unausweichlicher Bestandteil linksliberaler Politik, die sich dem Warenfetisch vollends unterworfen haben. Die inhärenten Probleme und Katastrophen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem nach sich zieht, werden nicht ignoriert, jedoch lediglich akzentuierend eine Symptombekämpfung angewiesen. Besonders im Fokus liegt die Stärkung des Sozialstaats, die eine gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen erwirken soll. Dass damit der Kapitalismus letztlich gestärkt wird und unweigerlich in weitere Zyklen verfällt, spielt hierbei keine Rolle. Dadurch wird der expansive und quasi-kolonialistische Charakter gutgeheißen, der von den Linksliberalen mittels einer vermeintlich humanen Migrations- und Flüchtlingspolitik beantwortet wird. Anstelle einer langfristigen Korrektur der Verelendung der nicht-industriellen Staaten der Welt wird in Form von „humanitären Hilfen“ erneut das Kapital bedient, getreu dem Motto: sowohl die Kosten der Zerstörung als auch des Wiederaufbaus werden profitabel von den Industriestaaten eingestrichen.

Der Moralismus spielt hierbei eine essenzielle Rolle. Demgemäß wird auch jedem Nationalismus und Protektionismus eine Absage erteilt, derweil die Europäische Union (EU) säkular als die Zukunft der Menschheit gepriesen wird. Der absolut-negative Freiheitswille eruiert dann in idealistischen Träumen einer absolut grenzenlosen Welt, bei der der Leistungsgedanke jedoch weiterhin zählt und die Religion als unantastbar wirkt. Beides sind Spannungsfelder, die der Kapitalismus für sich vereinnahmt, um die Klassengegensätze zu verschärfen. Die Grenzen des Linksliberalismus finden sich in der Verwirklichung des eigenen Traums. Als Vertreterin des gehobenen Bürgertums befinden sie sich auf einer Gratwanderung, den westlichen Freiheitswillen zu wahren. Durch die idealistischen Grenzöffnungen entsteht zwangsläufig ein Spannungsfeld, das besonders auf die Arbeiter*innenklasse drückt, die in einen Konkurrenzkampf gezwängt werden. Durch Verheißungen es Linksliberalismus wird dadurch der Klassenkampf ausgebremst und untereinander forciert. Dessen Resultat ist die Stimme eines Boris Palmer, der die unausweichlichen Entwicklungen des linksliberalen Idealismus in ihre Realität ummünzt. Ironischerweise ist es ein Markenzeichen der Ideologie, sich sowohl von radikal linken als auch radikal rechten Ideen zu distanzieren. In Krisenzeiten kippt der Liberalismus jeglicher Farbgebung jedoch qua definitionem in autoritäre Muster, die sich dann besonders gegen die Menschen richten, derer sich der Linksliberalismus so fleißig ereifert.

Die Grünen sind seit dem Bruch mit dem sozialistischen Flügel in den 1990er Jahren eine Partei eines Phänomens geworden, das sich als Hüter der Humanität versteht. Bei Licht betrachtet entpuppt sich der humanistische Gedanke des Linksliberalismus jedoch als Schutzmechanismus zur Verteidigung eines Wohlstands, der sich nur die westliche Welt erlauben kann. Linksliberale Ideen finden in Staaten, die unter der Weltwirtschaft und den globalen Bestrebungen der westlichen Länder leiden, kaum bis keinen Anklang. Die Kritiker*innen von Rechts und Rechtsaußen befeuern das linksliberale Bild gleichermaßen, wie es von seinen Befürworter*innen propagiert wird. Albrecht Müller betont, dass Blätter wie taz und Stern einst linksliberal waren, doch nun dem Neoliberalismus verfallen. Doch der Schein trügt. Der sogenannte linke Liberalismus war immer dialektische Schwester des Neoliberalismus, denn es handelt sich jeweils um gesellschaftliche und ökonomische Prozesse. Einen Linksliberalismus als wissenschaftliches oder politisches Instrument gibt es strenggenommen nicht, denn er ist ein semantischer Widerspruch. Der progressive Charakter in Bezug der Identitätspolitik ist die schärfste Waffe und gleichzeitig die größte Falle, in die ein politischer Mensch fallen kann. Die Grünen haben kein Interesse daran, ihren Schwerpunkt wie Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Pazifismus wirklich umzusetzen, denn das geht nur auf Kosten ihres eigenen Wohlstands. Es ist das perfekte Spiel der Instrumentalisierung eines Scheinbilds, der die politische Linke schwächt und die politische Rechte durch den Moralismus stärkt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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