Jahr 1 nach Chemnitz

Gesellschaft Nach den gewaltsamen Ausschreitungen in Chemnitz 2018 fand keine Aufarbeitung statt. Dafür wurden Asylgesetze verschärft und ein politischer Schauprozess vollzogen.

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Es wurde gejagt“, hieß es vor einem Jahr als Reaktion auf die gewaltsamen Ausschreitungen nach dem Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. Der mutmaßliche Täter Alaa S. wurde vor kurzem in einem faktischen politischen Schauprozess zu neuneinhalb Jahren verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, H. mit einem Messer ermordet zu haben. Neben der AfD versuchten daraus auch zum Beispiel auch die rechte "Bewegung" Pro Chemnitz politisches Kapital zu schlagen, um ihre rassistischen und migrationsfeindlichen Ideologien zu verbreiten. Eine zentrale Figur der Debatte wurde später der ehemalige oberster Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen, welcher trotz eines eindeutigen Beweisvideos keine „Hetzjagden“ zu sehen vermochte und ihn seiner Verteidigung sich in eine Verschwörungstheorie light verirrte, in dem er baldigst von „linksradikalen Kräften in der SPD“ schwadronierte. Die semantische Frage, ob es eine „Hetzjagd“ war oder nicht, schien in der politischen Aufarbeitung keine unwesentliche Rolle zu spielen, entlarvt allerdings die Krise der herrschenden Klasse und ihr völliges Versagen, dem gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck ernsthaft etwas entgegenzusetzen. Schlimmer noch; anstatt den aufkommenden Faschismus mit aller Härte zu begegnen, entstehen subkutanen Anbandeln sowie einee Verschärfung der Überwachung und schleichenden Kriminalisierung genuinen Antifaschismus‘ und der politischen Linke. Ein Jahr nach Chemnitz zeigt deutlich, dass sich die BRD in eine gefährliche Richtung entwickelt.

Jüngsten Veröffentlichungen von Chat-Protokollen zufolge wurde sich zu Chemnitz vor einem Jahr ganz bewusst zu „Jagden“ verabredet. Besonders in den Protokollen der rechtsterroristischen Gruppe „Revolution Chemnitz“ – welche den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) eine „Kindergartenvortruppe“ bezeichnete – wird die strikte Intention deutlich. In ihr kulminiert eine direkte Gefahr, die in martialischer Sprache den Institutionen den „Krieg“ erklären. Die schiere Diskrepanz der herrschenden Klasse manifestiert sich weiterhin in der schizophrenen Wahrnehmung der materialistischen Voraussetzungen. Mit Stimmen der AfD werden Kommissionen zum Thema „Linksextremismus“ ins Leben gerufen und grundsätzlich eine Verschiebung der Prioritäten vollzogen. Die Absage der Politiker*innen der Christlich Demokratischen Union (CDU) Annegret Kramp-Karrenbauer und Michael Kretschmer an der bürgerlich-antifaschistischen Unteilbar-Demonstration sowie der erwähnte Schauprozess gegen Alaa S. sind hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Besonders die Verurteilung S. treibt die Gewaltenteilung in eine existenzielle Krise, bei der in dubio pro reo von vorneherein ausgeschlossen wurde. Stützend auf einen einzigen, sich widersprechenden Zeugen wurde das harte Urteil von knapp zehn Jahren gefällt, obgleich an der Tatwaffe keinerlei DNA-Spuren von S. entdeckt wurden. Das ist besorgniserregendes Resultat einer Entwicklung, welche in Chemnitz einen Kulminationspunkt erreichte.

Der Springer-Presse, eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Radikalisierung der Massen – obgleich sie selbst einen schwankenden Kurs verfolgt – nahm das Urteil wohlwollend auf und nimmt das eskalierende Vokabular „Messerstecher“ in den Mund. Die Enthumanisierung der Sprache ist ein weiterer Prozess, der sich dort bemerkbar macht und nicht erst seit des offenen faschistischen Vokabulars diverser AfD-Politiker*innen existiert. Die Hemmschwelle des Bürgertums erreicht langsam, doch sicher die unterste Stufe, auch wenn es ihr meist glückt, es hinter gestochener Sprache zu verstecken. Anstatt etwas zum Schutz der Opfer der radikal Rechten und deren selektiven Terrors zu unternehmen, kommt die herrschende Klasse ihnen entgegen und verabschiedet Gesetze, welche die Rechte von Flüchtlingen und Asylant*innen noch weiter beschneiden. Das sogenannte „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ – besser und richtiger bekannt unter „Hau-Ab-Gesetz“ – will flüchtende Menschen in Zentren und (auch nicht straffällige) in Gefängnissen zentrieren sowie ihre ohnehin schon niedrigen Sozialleistungen kürzen. Die BRD als vermeintlich sicherer Staat will sich mittelfristig als unattraktives Ziel präsentieren, bei dem es für Menschen, die vor Krieg, Terror, Elend und Hunger fliehen – das direkt oder strukturell von der BRD finanziert und unterstützt wird – nichts zu holen gibt.

Daran anknüpfend offenbarte Chemnitz den diametralen Charakter der Unionsparteien sowie deren Vertreter*innen. Die ultrakonservative „Werte Union“, ein Flügel der CDU/CSU, steht seit dem Beitritt Maaßens verstärkt im Fokus und will sich als rechtskonservatives Korrektiv der Partei unter Angela Merkel verstehen. Faktisch ist ihr Ziel, eine Brücke zu Kräften in der AfD zu schlagen, auch wenn das offiziell negiert wird. Maaßens Auftritt im Namen der CDU zur Wahl in Sachsen zeigte die Richtung, die sich in den Unionsparteien dort zu entwickeln vermag, wenn die AfD eine spürbare Konkurrenz wird. Der Großteil des Publikums bei seinem Auftritt bestand nicht überraschend aus AfD-Wähler*innen, wo seine migrationsfeindlichen Äußerungen getarnt als Kritik auf fruchtbarem Boden fielen. In ihm manifestiert sich die Sehnsucht des konservativen Rollbacks, der als natürliche Entwicklung in der derzeitigen Krise seine Stimme versucht zu erheben. „Er sei dankbar, dass es gelungen sei, durch die schwierige Zeit in Chemnitz zu kommen“, schreibt der MDR über den Noch-Ministerpräsidenten Sachsens Michael Kretschmer. Die Chemnitzer Normalität scheint wohl eine stark verflachte und selektive zu sein, im Kern haben die Rechte nach einem Jahr Chemnitz die Oberhand sowie Deutungshoheit gewonnen.

Die Gefahr, die mittelfristig zum Bruch des Parlamentarismus führen kann, ist die strukturelle Schwächung der Parteien. Besonders die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) als auch die Linkspartei werden in Konstellationen, die sich gegen die AfD richten soll, unweigerlich die Frage stellen müssen, was explizit getan werden muss. Die Reaktion auf Chemnitz darf es nicht sein, Regierungskoalitionen zum Trotz der Stärke der AfD einzugehen, um so die eigenen Ideale zu verraten und faktisch zur Verwalterin der herrschenden Klasse zu werden. Chemnitz zeigte mehr als deutlich, dass die derzeitige Institution und Regierung keinerlei Antwort hat auf die Faschisierung der Gesellschaft, die bereits ein politisches Mordopfer nach sich zog. Es ist kein singuläres Ergebnis, sondern Teil einer seit Jahren schleichend entwickelten Erhebung und Stabilisierung der schwersten Reaktion gegen die Minderheiten der Gesellschaft, die Frauen*, Muslim*innen, Jüd*innen, doch auch Linke, Feminist*innen und Antifaschist*innen jeglicher Couleur. Die Aufarbeitung sowie darauf abziehende Negation der tiefen Bedeutung, was in Chemnitz geschah und sich herauskristallisierte, muss Warnung genug sein, dass die BRD nicht die ruhende Oase, das friedliche Paradies in Europa ist, bei dem sich kein Rechtsruck entwickelte. Nach Österreich, Frankreich, Italien, Ungarn, Polen und neuerdings auch Griechenland wird auch die BRD eine autoritäre Entwicklung nach sich ziehen. Das wichtige zu begreifen ist hierbei, dass es sekundär ist, ob die AfD oder ähnliche radikale Kräfte an die Macht kommen. Die Präsenz ihrer Politik und Misanthropie ist genug, um die herrschende Klasse dahinzubewegen, einen protektionistischen, autoritär-nationalistischen Staat zu etablieren. Darin liegt die absolute Gefahr, dass sich Chemnitz normalisiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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