Jahrzehnt der Pandemie

Coronavirus Nicht die Frage, ob es eine Impfpflicht oder nicht geben muss, ist zentral. Sondern wie man verhindert, dass es weitere unkontrollierbare Pandemieausbrüche gibt.

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Die „zweite Welle“ des Coronavirus' schlägt gnadenlos zu. Am heutigen Dienstag (22. Dezember 2020) vermeldet das Robert Koch-Institut (RKI) weitere 19.528 Neuinfizierte und 731 Tote mehr als gestern. Die Befürchtungen, wie sie auch Karl Lauterbach (SPD) hat, dass Anfang des Jahres die Zahlen erheblich weiter steigen werden – besonders die Todeszahl – scheint nicht mehr illusorisch zu sein, auch in Hinblick auf graduelle Lockerungen über die christlichen Feiertage. Auch steuert die BRD bundesweit auf den empfindlichen 7-Tages-Inzidenzwert von 200: Der Landkreis Bautzen in Sachsen steht mit einem Wert von 638 an der traurigen Spitze. Ein wenig Hoffnung scheinen erste reguläre und Notfallzulassungen in einigen Staaten von Impfstoffen zu sein, die eine relativ hohe positive Wirkung haben. Auch in der BRD ist geplant, bereits nach den christlichen Feiertagen priorisiert mit den Impfungen zu beginnen. Doch wird alleine der Impfstoff das Allheilmittel sein, um die Pandemie in Griff zu bekommen? In Südafrika und Britannien wurden erste Mutationen des Virus' festgestellt, die eine erheblich höhere Ansteckung verursachen. Zwar wird in erster Instanz die Wirksamkeit des aktuellen Stoffs nicht infrage gestellt; doch in Hinblick auf die noch magere Informationslage und die bestehende Gefahr einer permanenten Mutation gilt es die Ursache der Pandemie, die mittlerweile 1.700.000 Tote weltweit zu verzeichnen hat, an einer anderen Stelle zu suchen: denn nicht das Virus ist die Gefahr, sondern der Mensch und sein Handeln.

Wenngleich ein Impfstoff ein probates und wirksames Mittel ist, um die Pandemie wieder unter Kontrolle zu bringen, ist selbst dieser kleine Schritt alles andere als in Stein gemeißelt. Eine zentrale Debatte, die im Jahr 2021 stattfinden muss, ist das Verhältnis zwischen positiver und negativer Freiheit und der Abwägung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen und einer kollektiven Verantwortung. Die BRD-Regierung betont, dass es keine Impfpflicht geben wird und verweigert sich mit dieser Kategorisierung bereits eines notwendigen Diskurses, der ausgetragen werden muss, dessen Dilemma jedenfalls von der Bundeskanzlerin nicht verschwiegen wird: wenn sich zu wenige Menschen impfen lassen, wird eine Beibehaltung diverser Maßnahmen, besonders des Mund-Nasen-Schutzes und, je nach Entwicklung, auch gesellschaftlicher Beschränkungen unausweichlich bleiben. Die kontradiktorische Herangehensweise der Skeptiker*innen und ausgewiesenen Coronaleugner*innen kommt hier besonders hervor: die vermeintliche Verteidigung einer positiven Freiheit bei Verweigerung notwendiger Schritte. Dass das in Fällen der Verschwörungstheoretiker*innen und radikalen Coronaleugner*innen ein anderes Erklärungsmuster ist ist selbstverständlich. Daher ist mit dieser Auseinandersetzung in einer höheren Stufe eine Aufforderung verbunden, besonders die Würde des Menschen an sich und an anderen nicht weiterhin mechanisch zu verteidigen, sondern in seiner Wechselbeziehung besonders im Umgang mit der Natur und seiner Umgebung zu betrachten.

Dies bedeutet besonders bei der Impfbereitschaft eine Abwägung der erwähnten Freiheit angesichts weiterer Eigenschaften, das man kaum leugnen kann, dass die Coronapandemie die letzte ihrer Art sein wird. Hier muss ein komplettes ökonomisches und gesellschaftliches System hinterfragt werden, das mit Pandemieausbrüchen unmittelbar verbunden ist. Der Ausbruch des Coronavirus' ist nicht als Einzelfall unabhängig jeglicher Bewegungsgegensätze zu verstehen, sondern ein Entwicklungsprozess der kapitalistischen Ökonomie, die ununterbrochen das Ziel verfolgt, die Natur anzueignen. Dass diese Aneignung durch den Menschen die Möglichkeit erhöht, durch die Begegnung und Konfrontation mit dem, was die Natur bietet, weitere Epidemien und Pandemien auszulösen, wird von der Wissenschaft kaum bezweifelt: die Zerstörung der Ökosphäre, die steigende Klimakatastrophe und die Vernichtung weiterer Lebensgrundlagen für Mensch, Tier und Natur macht den Ausbruch und eine schnellere Ausbreitung pandemischer Entwicklungen wahrscheinlicher. Die Maßnahmen und Erklärungsmuster der Industrienationen, die den Zusammenhang zwischen Umweltkatastrophe und Pandemie nicht einsehen wollen und weiter an der kapitalistischen Produktionsweise mit ihren verheerenden Auswirkungen festhalten, zeichnen ein Szenario, das von keiner Impfdose aufgefangen werden kann.

Die zentrale Debatte der notwendigen Impfung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um eine schleichende Symptombekämpfung handelt, die einen weiteren Verteilungskampf zulasten jener provozieren wird, die ohnehin schon unter dem Kapitalismus leiden. Eine moralische Herangehensweise, beispielsweise ob es eine Verpflichtung des Impfens geben soll, wird ebenfalls nur einen Nebenschauplatz eröffnen, der die Grundproblematik und eigentliche Gefahr nicht einbeziehen kann, denn: in einer von Leistungsdruck und permanent postulierter „Selbstverantwortung“ definierten Gesellschaft und Ökonomie ist jede generelle Verpflichtung unvereinbar mit dem eigenen Dogma. Nichtsdestoweniger muss besonders in Hinblick auf den Erhalt der Natur für den Grundstein, eine wirklich befreite Gesellschaft zu erkämpfen, diese Kontroverse aufgegriffen werden und von allen moralischen, ethischen und auch juristischen Betrachtungsweisen befreit werden – und hier wird die höhere Stufe des Dilemmas betreten: Eine Verpflichtung kann nur an positiven oder negativen Sanktionen gebunden werden, was eine vulgäre Zuspitzung gesellschaftlicher Gegensätze bedeuten würde, welche alles andere als zum Nutzen der Menschheit gewertet werden kann; die freie Entscheidung erfordert demgegenüber eine Überzeugungsarbeit, die im hiesigen System nur paradoxerweise mit der „Selbstverantwortung“ stattfinden kann und die kollektive Problematik dahinter verschleiert als auch konsequente Gegner*innen in ihrem Zutun bestätigen.

Es ist also ersichtlich, dass die eigentliche zentrale Debatte über die Impfung stark hinausgehen muss und die Wurzel dessen benennt, wie man in so eine Situation erst gelangen konnte. Pandemien wird es freilich immer geben und der Mensch ist und bleibt ein sterbliches Wesen, wonach es eine Unmöglichkeit ist, den Einzelnen im Namen aie Phase eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich nicht mehr halten kann. Die Coronapandemie ist Ausdruck und Resultat des Kapitalismus im 21. Jahrhundert, der von einer Klimakatastrophe flankiert wird, welche von Pandemien nicht zu trennen ist. Es gilt hier also dasselbe, wie so oft und permanent gefordert wird: Das System muss sich ändern. Anders ist die Coronapandemie nicht zu bewältigen, so hoffnungsvoll und notwendig eine Impfung auch ist. Doch das schließt sich freilich nicht aus. Der Selbsterhaltungstrieb der Menschheit wurde durch die faktisch internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit deutlich, ein Mittel gegen ein tödliches Virus zu finden. Es bleibt nun die politische und soziale Aufgabe den nächsten Schritt zu machen und das Grundübel aller endlich zu überwinden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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