Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) kämpft gegen ihren eigenen Untergang. Nachdem Andrea Nahles als Parteivorsitzende zurückgetreten ist, übernahmen die Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz – Manuela Schwesig und „Malu“ Dreyer – sowie der Landesvorsitzende der SPD Hessen, Thorsen Schäfer-Gümbel, kommissarisch den Vorsitz. Alle drei beteuerten, sich nicht auf den Vorsitz der Partei zu bewerben. Die Diskussion über eine paritätische Doppelspitze – wie sie auch bei den Grünen und der Linkspartei vorhanden ist – wurde stets präsenter. Jüngst sind nun die Namen des Juso-Chefs Kevin Kühnert und Gesine Schwans gefallen, die die Partei „erneuern“ sollen, um gewissermaßen sowohl die Jungen als auch die Alten anzusprechen. Die Personalie ist nicht uninteressant, so repräsentieren sowohl Kühnert als auch Schwan mehr oder minder einen dezidiert linken Flügel, der beispielsweise der Großen Koalition kritisch gegenübersteht. Dennoch wird eine paritätische Besetzung nichts an der Ausgangslage der SPD ändern – wenn es nur dabei bleiben soll, ohne eine theoretische Neuausrichtung. Das Instrument der Doppelspitze ist alles andere als ein sicherer Garant, dass sich etwas zum Positiven ändert. Nichtsdestoweniger zeugt es von einem Anflug von Mut, die erwähnten Politiker*innen zum Vorsitz vorzuschlagen, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass er bürgerliche Journalist*innen in Atemnot bringen könnte.
Der Vorschlag, Kevin Kühnert zum Vorsitzenden der angeschlagenen Sozialdemokratie zu wählen, scheint einen Richtungswechsel anzudeuten. Der Juso-Chef ist besonders durch seine Kampagne „Tritt ein, sag’ Nein“ bekannt geworden, bei dem er Menschen dazu aufrief, der SPD beizutreten, um gegen eine Neuauflage der Koalition mit den Unionsparteien zu stimmen. Die als rebellisch anmutenden Aktion stieß auch in der eigenen Partei auf Ablehnung. Mit Blick auf seine politischen Positionen lassen sich noch weitere Schnittmengen mit genuin sozialdemokratischer Politik erkennen – von der sich die SPD schon vor Jahrzehnten verabschiedete. Nicht nur forderte er zum 1. Mai 2018 eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde, auch kritisiert er besondere Instrumente der arbeiterfeindlichen Agenda 2010. Obgleich nicht als konsequenter Kritiker der Hartz IV-Regelung auftretend, will er die Bestrafungsmaßnahmen – Sanktionen – der Behörden abschaffen und sieht es als wenig förderlich, die arbeitslose Menschen in Maßnahmen zu zwingen, die gegen ihre Interessen und Bedürfnisse sprechen. Bedingt durch die radikale Diskursverschiebung nach Rechts klingen solch harmlose Forderungen wie der Ruf nach einem neuen Sozialismus – man denke nur an den Moment, als er die noch anhaltende Debatte anstieß, öffentlich über Enteignungen nachzudenken. Spätestens da versuchten höhere Funktionäre der SPD, Kühnert zurückzupfeifen und konterkarierten nicht weniger als das eigene SPD-Parteiprogramm.
Die Personalie Gesine Schwan ist dahingehend interessant, als dass sie Russland-Sanktionen kritisch gegenübersteht. In einem mittlerweile zehn Jahre alten Interview mit Spiegel Online versuchte sie, einen neutralen Blick auf Russland zu wahren und hielt „Sonderbeziehungen“ für kontraproduktiv. Besonders durch den ehemaligen Bundeskanzler und Parteigenossen Gerhard Schröder gibt es enge Verbindungen zu Putin. Innerhalb der fast letzten 15 Jahren entwickelte sich die SPD jedoch zu einer obligatorischen antirussischen Partei, die demselben bürgerlichen Widerspruch verfallen ist, das Völkerrecht – mit Blick auf die Krim – einseitig und subjektivistisch auszulegen. Ihre Funktion als Schirmherrin der „Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa“ sowie dem Filmprojekt „Stereo Cultura“ von „Trialog – Netzwerk junger Ideen“ unterstreicht Schwans Bemühen, gute Beziehungen mit osteuropäischen und besonders russischen und belarussischen Menschen aufzubauen. Schwan selbst machte innerhalb ihrer Parteikarriere eine graduelle Linksentwicklung durch. Sie selbst bezeichnet sich in den 1980er Jahren als „SPD-Rechtsaußen“, welche einen strikt antikommunistischen Kurs vertrat. Ihre Wandlung zur „Linken“ konterkariert sie allerdings unfreiwillig mit ihrem Bekenntnis zu Agenda 2010. Sie unterstreicht dasselbe Argument wie Kühnert, dass lediglich am Sanktionsregime „gearbeitet“ werden müsste, die kapitalistische Produktionsweise jedoch in Zeiten der Krise keinen anderen Schluss zuließe.
Was bedeutet der Vorschlag nun konkret für die SPD? Auf den ersten Blick scheint sich ein Linksschwenk bemerkbar zu machen, wobei konstatiert werden muss, dass sich dieser in den Grenzen der Sozialdemokratie manifestiert. Allerdings wird gerade der Schwerpunkt der SPD – die Sozialpolitik – kaum hinterfragt, sondern lediglich akzentuiert bemängelt. Eine Doppelspitze bestehend aus Kühnert und Schwan würde weiterhin an den desaströsen Hartz IV-Gesetzen festhalten, deren Sprengkraft nicht im Sanktionsregime mündet. Markus Wehner für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) indes sieht die Gefahr im Bruch mit der Koalition. Die Spielerei wird gerade auch durch den Altersunterschied der möglichen Bewerber*innen gedämpft, zumal Kühnert laut Status noch zu jung sei. Es bleibt hiernach bei einem Manöver der SPD, in Zeiten des Untergangs die Möglichkeit eines Wandels anzudeuten, ohne ihn tatsächlich umsetzen zu müssen. Die Grundproblematik liegt nicht in der Ausrichtung der SPD und den Köpfen, die getauscht werden können, sondern einer theoretischen und historischen Bewältigungsproblematik, der jede Sozialdemokratie der westlichen Welt anheimfällt. Sie kann ihrem Wesen nach keine weiteren Antworten mehr geben, denn ihr reformistischer Weg ist vollends ausgeschöpft, so dass sie in Zeiten spätkapitalistischen Formation nur temporäre Verwalterin des Scheins einer sozialen Ader ist. Die Einheit der Linken kann nicht mehr unter dem Banner der Sozialdemokratie vonstattengehen, denn eine Partei, die sich vehement gegen das eigene Programm stellt, wenn zu konkreten Themen konkrete Alternativen angeboten werden, kann nicht regieren.
Kommentare 9
Anscheinend ist es nun das Ziel der Sozialdemokraten, dass jedes Parteimitglied irgendwann mal Parteivorsitzender werden muss. Dadurch, dass man Kevin Kühnert zum Parteivorsitzenden hochredet, signalisiert die SPD, dass sie jetzt das letzte Aufgebot mobilisiert. In der Spätphase eines fast verlorenen Krieges trifft es ja auch immer die Jüngsten. Die Wahl von Kühnert würde übrigens auch nicht dazu führen, dass die Konfrontation zwischen "Linken" und "Seeheimern" sich verringert. Es drohte dann immer noch die Spaltung der SPD in linke Oppositionelle und Groko-Befürworter.
Gesine Schwan wäre da evtl. eher eine Integrationsfigur. Allerdings ist sie als Gallionsfigur, welche die Wählermassen für die SPD mobilisieren könnte, ungeeignet, da in der Bevölkerung kaum bekannt. Schwan und Kühnert zeichnen zudem aus, dass beide über keinerlei Regierungserfahrung verfügen. Wie soll der Wähler denen dann zutrauen, dass sie einen komplizierten Tanker wie die Bundesrepublik auf Kurs halten können? Dieses Personalmodell taugt überhaupt nur, falls sich die SPD für lange Zeit in die Opposition verkriecht und den Grünen allein die Option auf Machtausübung und Gestaltungshoheit in Regierungsverantwortung überläßt.
Es gäbe eine Personalie, die über Regierungserfahrung und Sympathie in der Bevölkerung verfügt und die den angeblichen Markenkern "Gerechtigkeit" der SPD glaubhaft rüberbringen und in Regierungsverantwortung durchsetzen könnte. Ich denke dabei an Walter Borjans, den ehemaligen Finanzminister von NRW, der durch seinen Ankauf von Steuer-CDs bundesweit bekannt und geachtet wurde. Allerdings sehe ich nicht, dass er bei den derzeitigen Personalüberlegungen der SPD eine Rolle spielt.
RRG ist tot . Es lebe "GRR" ... und die Einheit im Schwinden.
Gesine Schwan ist die einzige Sozialdemokratin, die sich bisher traut, sich um den Vorsitz zu bewerben. In welcher Partei gibt es sonst noch eine derartige Verweigerungshaltung, die Parteiführung zu übernehmen. In der derzeitigen SPD-Troika sitzt sogar einer, der im Herbst aus der Politik ganz ausscheidet. Ein Zeichen, dass die SPD noch lebt, wäre doch, dass mehrere Kandidaten, die das Zeug dazu hätten, in der öffentlichen Diskussion gehandelt würden. Aber da ist nx, rein gar nix.
Spekulationen! – Nichts als Spekulationen und eine Autorin, die auf Heilsbringer wartet.
Die Erneuerung der SPD muss vom Kollektiv aktueller plus potenzieller Parteimitglieder erfolgen. Bisher starren alle immer noch auf das Podium und die Neuerscheinungen dort.
Dass die 76-jährige Gesine Schwan offensichtlich in Ermangelung geeigneten Personals ins Gespräch gebracht wird, ist für mich eine Bankrotterklärung. Gerhard Schröder ist ebenfalls putinfreundlich gesonnen und hat die SPD doch ruiniert. Das war nur möglich, weil die ganze Republik diesen Hasardeur über zwei Dekaden wie einen Heilsbringer verehrte und seine Lehre selbst dann noch politisch umsetzte, als er selbst schon nicht mehr in zur ersten Reihe gehörte.
Selbst noch Martin Schulz erschien als SPD-Kanzlerkandidat 2017 Arm in Arm mit Gerhard Schröder und Franz Müntefering zum Wahlparteitag und wollte sich doch als alternativ verkaufen und attackierte eine Kanzlerin, die von Beginn ihrer Kanzlerschaft an die schrödersche Politik fortsetzte.
wer mag an eine SPD-hoch-zeit von gesine mit kevin glauben?
"Spekulationen! – Nichts als Spekulationen und eine Autorin, die auf Heilsbringer wartet."
Da widerspreche ich Ihnen diesmal. Ich sehe in dem Artikel eher eine Bestandsaufnahme der Autorin, die zurecht in ein ganz klares Fazit mündet: "Die Einheit der Linken kann nicht mehr unter dem Banner der Sozialdemokratie vonstattengehen, denn eine Partei, die sich vehement gegen das eigene Programm stellt, wenn zu konkreten Themen konkrete Alternativen angeboten werden, kann nicht regieren."
Habe keine Probleme, das so stehen zu lassen!
Gute Analyse, vielen Dank.
Wenn Kühnert nach dem Statut zu jung ist, muß es eben geändert werden. Ist ja bei Habeck auch gegangen. Was soll's, Kühnert ist ungefähr gleichaltrig mit Sebastian Kurz.
Parteiausschlußverfahren gegen Schröder - ein interessanter Gedanke. So weit wäre ich nicht gegangen...