Lockdown wider Vernunft

Coronapandemie Der Entwurf, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, schränkt das Privatleben noch weiter ein. Die Wirtschaft wird erneut verschont und ein radikaler Ausweg verhindert.

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Nachdem die Ministerpräsident*innenkonferenz (MPK) vor den Osterfeiertagen zu keinem zufriedenstellendem Ergebnis kam – und auch die Forderung der Bundeskanzlerin, an zwei zusätzlichen Tagen die Wirtschaft minimal runterzufahren, besonders bedingt durch Kritik der Autolobby, nicht umgesetzt wurde -, präsentierte die Bundesregierung am vergangenen Wochenende einen Gesetzesentwurf, der die dritte Welle begegnen soll. Die heutige MPK wurde abgesagt, was von einigen Länderchefs, darunter Bodo Ramelow (Linke) scharf kritisiert wurde. Um den föderalistischen Flickenteppich zu überwinden, plant die Regierung eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes, das dem Bund erhebliche Macht erteilen soll. Statt den Ländern und Landkreisen die Entscheidung zu überlassen, wie und was getan werden muss, wenn ein gewisser Inzidenzwert überschritten wird, sieht der Entwurf nun vor, eine bundeseinheitliche Regelung zu schaffen. Dass der Föderalismus der Bekämpfung der Pandemie im Weg steht, ist dabei keine neue Erkenntnis. Während beispielsweise das Saarland Öffnungen plant und vollzieht, sind die Regelung in anderen Ländern, wie Bayern, vergleichsweise strenger. Doch da das Virus auch innerhalb eines Staates nicht an den Grenzen halt macht, ist die formale Entscheidung, einen zentralistischen Weg einzuschlagen, primär zu unterstützen. Allerdings lässt sich bei Durchsicht des Papiers schnell erkennen, dass wie so oft aus vergangenen Fehlern und Entwicklungen nicht gelernt wurde respektive die Gewichtung weiterhin unausgegoren und falsch priorisiert wird.

Herzstück des Papiers ist die sogenannte „Notbremse“, die bundesweit ab einer Inzidenz von 100 nach drei aufeinanderfolgenden Tagen greifen soll. Diese „Notbremse“ existiert bereits, wird allerdings kaum bis gar nicht umgesetzt und regional und lokalunterschiedlich ausgelegt. Das soll hiermit unterbunden werden. Allerdings erweist sich die postulierte „Notbremse“ erneut als eine Strategie, die das Private noch erheblicher einschränken soll – derweil das Kapital und die „Wirtschaft“ nur minimal in die Pflicht genommen wird. Der persönliche Kontakt zu Menschen, die nicht dem engen Haushalt angehören, soll auf maximal eine Person reduziert werden. Neu ist hierbei, dass innerhalb von 24 Stunden diese zusätzliche Person fest sein muss; das heißt, es darf sich innerhalb der 24 Stunden nicht mit einer weiteren Person getroffen werden, nachdem das Treffen mit der vorherigen beendet wurde. Dass Kinder bis zu 14 Jahren davon ausgenommen werden, entlarvt das eklektische Spiel der Herrschenden, die wissenschaftliche Erkenntnisse nur ungenügend zu verarbeiten: Die Mutante aus Britannien ist besonders bei Kindern und Jugendlichen stark verbreitet, wonach durch diese Entscheidung die Eindämmung ein Stück weit konterkariert wird. Dabei darf die Lösung nicht sein, auch den sozialen Kontakt bei Kindern bis 14 Jahren einzuschränken, sondern Infektionshotspots zu schließen, die bei dieser Debatte der falschen Priorisierung erneut nicht ernst genommen werden.

Der Inzidenzwert von 100 betrifft lediglich das Private, der Schulbetrieb soll erst bei einem Wert von 200 vollends geschlossen werden. Das Narrativ, wonach die Schulbildung bis zur letzten Möglichkeit aufrechterhalten werden muss, unterstreicht die katastrophale Gewichtung, die dem neoliberalen Konkurrenzkampf geschuldet ist. Denn ähnlich ergeht es Großbetrieben und Unternehmen: hier spielt der Inzidenzwert keine Rolle, wie viele Arbeiter*innen an ihre Stelle gehen müssen, wenngleich erneut ein Appell angestoßen wird, verbindliche Tests anzubieten. Während Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) darauf pocht, die Unternehmen und Kapitalist*innen zu verpflichten, ihre Arbeiter*innen regelmäßig zu testen, will die Regierungspartei CDU davon nichts hören. Hier soll weiter an die „Vernunft“ appelliert werden, die nichts weiter als leere Worte sind, denn Appelle sind hier nicht sanktionsfähig. So hat das zur Folge, dass das Virus scheinbar weiterhin an den Werkstoren und Schulen halt macht, derweil der soziale Kontakt untereinander nach den Herrschenden der eigentliche Infektionshotspot darstellt. Dass sich an den Infizierten und Toten etwas fundamental ändert, wenn man in überfüllte ÖPNV und Arbeitsstellen gezwungen wird, derweil der Kontakt zu Nachbar*innen eingestellt wird, darf wahrlich bezweifelt werden.

Doch die Kontaktbeschränkung soll hier nicht Halt machen. Die „Notbremse“ soll ebenfalls eine nächtliche Ausgangsbeschränkung beinhalten, die der kapitalistischen Logik nur gerecht sein kann. Hier wird das Ausmaß beziehungsweise die Unverantwortlichkeit der herrschenden Regierung mehr als deutlich. Einerseits ist die Informationslage, ob eine nächtliche Ausgangsbeschränkung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat, widersprüchlich und dort, wo es Effekte haben könnte, primär noch nicht kausal, sondern korrelierend. Andererseits ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass nicht die Uhrzeit, sondern die Orte essenziell sind, von Aerosol-Expert*innen erneut bestätigt worden. Die Gefahr liege in schlecht belüfteten und engen Innenräumen. Dass Treffen im Freien einen signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben, erwies sich bisher als nicht zutreffend. Der Erreger verbreite sich „fast ausnahmslos in Innenräumen“, so die Expert*innen. Das betreffe nicht nur die private Wohnung, sondern auch Klassenräume, Werkshallen und Büros. Eine Ausgangsbeschränkung steht dem kontraproduktiv gegenüber, da dadurch die Treffen, die potenziell draußen stattfinden würden, in die Innenräume verbannt werden. Inwiefern ein abendliches Joggen oder Spaziergehen erheblich gefährlicher sei als ein Treffen im Inneren, können die Herrschenden nicht erklären. Daher seien die „harten Forderungen“ mehr symbolpolitisch und weiterhin im Interesse der Wirtschaft und Unternehmen.

Dass dennoch etwas getan werden muss, steht außer Frage. Statt das Private noch weiter einzuschränken und zu sanktionieren, muss allerdings die Wirtschaft in die Pflicht und Verantwortung gezwungen werden. So wie es die Kampagne „Zero Covid“ mit einem „solidarischen Lockdown“ vorschlägt. Nicht essenzielle Betriebe, darunter auch Bauarbeiten und Produktionen von Gütern, die keine lebenserhaltende Notwendigkeit darstellen, sollen für drei Wochen runtergefahren und geschlossen werden. Dieser ökonomische Lockdown hat nach den Initiator*innen einen sehr viel größeren Effekt als nächtliche Ausgangsbeschränkungen. Um die Arbeiter*innen jedoch in keine sozioökonomische Krise zu katapultieren, sei es unabdingbar, während des Shutdowns einen vollen Lohnausgleich bereitzustellen. Nach mehr als einem Jahr Pandemie ist mehr als deutlich, dass das Virus nicht alle gleich betrifft, sondern eine Klassenfrage ist, von der die Reichen und Unternehmer*innen am ehesten profitieren. Dass sich weder Angela Merkel noch die Bundesregierung diesem Weg anschließen werden, ist nicht verwunderlich. Daher ist die Frage nach einem Lockdown und der Überwindung der Pandemie keine rein gesundheitliche, sondern eine gesellschaftliche, die die Wurzel offenlegen muss, weshalb es so schwierig erscheint, Unternehmen in die Pflicht zu nehmen.

Die Bundesregierung möchte ihren Gesetzentwurf bis Ende der Woche verabschiedet wissen. Anstatt sich mit dieser Debatte zu beschäftigen, gilt es, jetzt und sofort etwas zu unternehmen, denn Zeit haben wir schon lange nicht mehr. Derzeit sind bundesweit nur noch 16 % Intensivbetten frei, über Triagen wird bereits offen gesprochen. Dadurch, dass mehrheitlich ältere Menschen geimpft wurden, werden die an Covid-19 Erkrankte immer jünger. Angesichts des jungen Alters belegen sie die Betten länger und sterben auch langsamer. Die Zahlen steigen rasant an, die Impfkampagne ist nach wie vor unzureichend und es ist mittlerweile schon Normalität, andere Operationen abzusagen, um für Infizierte ein Bett bereitzuhalten. Die Bundesregierung hat komplett versagt. Solange sie die Wirtschaft und das Kapital über Menschenleben stellt, wird die Pandemie nur verzögert, derweil die Todeszahlen steigen. Ein solidarischer, konsequenter und radikal ökonomischer Lockdown muss auf der Tagesordnung stehen, der nicht in das Privatleben des Einzelnen hineinregiert, sondern anerkennt, dass das Virus nicht nachts, sondern dort am tödlichsten ist, wo keine Abstände und Hygienemaßnahmen möglich sind: den Schulen, Betrieben und Büros.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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