Marx war kein Rassist

Diskussion In einem ntv-Artikel wird Karl Marx als „blanker Rassist“ bezeichnet. Diese Angriffe sind nicht neu und werden immer wieder erhoben. Eine Antwort.

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Das Thema Rassismus steht aktuell zentral im politischen Geschehen und der Berichterstattung. Neben Kritik an rassistischer Gewalt und Unterdrückung der Polizei in allen Teilen der Welt, der Rebellionen in den USA durch die unterdrückten Menschen, besonders der BlPoC (BlackPeopleofColour) sowie der „Black Lives Matter“-Demonstrationen und Kundgebungen ist es nicht verwunderlich, dass diejenigen, die mit dieser Kritik und Wut gemeint sind zum Gegenschlag ausholen. Rassismus sei immer das Problem anderer, so ein beliebtes Narrativ in der BRD, gerade in Bezug auf die exekutive Gewalt. Dabei beginnt Rassismus nicht erst beim Mord, sondern fängt genau dann an, wenn rassistische Bilder in Alltagssituationen rezipiert werden. Eine unweigerliche Folge dessen ist die Kritik am herrschenden System, das den Rassismus jeglicher Couleur als Instrument nutzt und nicht ohne es gedacht werden kann. Auch wenn es nicht klar nach außen kommuniziert wird und es sicherlich Stimmen und Personen gibt, die es mit Antirassismus gut meinen, doch die bürgerliche Ideologie nicht negieren möchten, bleibt der Rassismus eng verzahnt mit der kapitalistischen Herrschaft und der daraus entstandenen Gesellschaft. Bürgerliche Kräften, die den offensichtlichen Rassismus verurteilen, doch den strukturellen, hiernach auch institutionellen als inhärent mit dem System betrachten, ohne es als Rassismus zu erkennen respektive anzuerkennen, werden daher selten müde, einen vermeintlichen Widerspruch bei politisch Linken zu erkennen.

Dass der systematische Kampf gegen Rassismus letztlich ein genuin linker Kampf ist, ist den Bürgerlichen nicht unbekannt. So veröffentlicht Wolfram Weimer am 16. Juni 2020 auf n-tv unter „Person der Woche“ einen Artikel, in dem er Karl Marx als einen „der übelsten Rassisten“ bezeichnet. Diese Angriffe sind nichts Neues, sondern so alt wie der Marxismus an sich. Interessant ist hier allerdings, dass Weimer vor zwei Jahrendem 200. Geburtstag Karl Marx‘einen nahezu identischen Artikel schrieb. Marx Rassismus und Antisemitismus vorhalten ist keine Schwierigkeit, wenn man die Briefe zwischen Marx und Friedrich Engels oder sein Frühwerk „Zur Judenfrage“ von 1843 betrachtet. Genau letztgenannte Schrift zieht auch Weimer heran und zitiert Phrasen, die formal betrachtet auf eine antisemitische Gesinnung schließen lässt. Diese Schrift ist eine Antwort beziehungsweise Rezension auf tatsächlich judenfeindliche Arbeiten Bruno Bauers. Marx' „Zur Judenfrage“ ist hierbei in diesem Kontext zu lesen und einzuordnen. Anders als Bauer und entgegen der Auffassung Weimer rezipierte Marx weder Antijudaismus noch Antisemitismus, sondern schlussfolgerte die Emanzipation jüdischer Menschen von der Religion.

Um Marx zu verstehenbesonders das sogenannte Frühwerkist die radikale Religionskritik zu verstehen. Die Überwindung der Religion als über den Menschen herrschende Knechtung wandte Marx auch auf jüdische Menschen, griff allerdings auch die soziale und besonders ökonomische Stellung auf. Die Verbindung zwischen Kapitalismus und Judentum ist, will man die Geschichte des Antisemitismus analytisch und historisch korrekt einordnen als auch nachzeichnen, keine im luftleeren Raum entstandene Zufälligkeit. Die Rezension kann retrospektiv betrachtet allerdings in heutiger Zeit die Analogie verständlicher klingen lassen, wenn traditionell antisemitische Verschwörungstheorien herangezogen werden, als Jüd*innen per se eine kapitalistische Diktatur errichten würden. Karl Marx griff das Judentum nicht individuell an, sondern als theologisches Konzept beziehungsweise monotheistische Religion, die der Befreiung des Einzelnen diametral entgegensteht. Seine Kapitalismuskritik zeichnet keine Vernichtung der Jüd*innen nach, sondern schließt sie als Unterdrückte ein, die von jener Überwindung ebenfalls befreit werden, denn: Marx war der Antisemitismus der Bürgerlichen, der herrschenden Klasse, bekannt, wurde er doch selbst als Sohn einer jüdischen Familie damit konfrontiert.

Nun möge man einwenden, dass die Sprache klar antisemitisch konnotiert sei. Im Nachhinein betrachtet fällt das Urteil leichter, dennoch gilt auch hier einiges zu beachten. Als Kind seiner Zeit war auch die Sprache eine andere als heute, so liegen über 100 Jahre zwischen seiner Existenz und unserer. Karl Marx verstand sich nicht als idealistischer Reformist, der die Wirklichkeit anhand Sprachänderung in einen Diskurs bringen möchte, sondern betrachtete die Probleme materialistisch und versuchte, die Wirklichkeit zu ändern, der sich die Sprache dann anpassen wird. Freilich lässt sich das geschriebene Wort kritisieren, doch der Schluss, daraus einen Antisemitismus und Rassismus nachzuzeichnen, wie es Weimer tut, steht dem Wirken des Marxismus radikal entgegen. So wandte sich auch Friedrich Engels in seiner Kurzschrift „Über den Antisemitismus“ von 1890 gegen die Vorwürfe und bezog sich auf den Kampf der Linken gegen den Antisemitismus sowie auf die Realität jüdischer Menschen, die in ihrer überwältigenden Mehrheit unterdrückte Arbeiter*innen waren. Wolfram Weimer schaffte es 2018 allerdings eine Verbindung zum Vernichtungsantisemitismus der deutschen Faschist*innen zu ziehen. Es geht hier schlechterdings auch nicht um eine kritische Auseinandersetzung, sondern um einen ideologischen Kampf, der in der Wahrnehmung äußerst selektiv wirkt.

Ginge es Weimer tatsächlich um Kritik am Rassismus und Antisemitismus müsste er sich nicht an den Linken abarbeiten, sondern einen Blick auf seine eigenen Bezugnahmen werfen. Als Verfasser eines „konservativem Manifests“ und bekennenden „Wertkonservativen“ nimmt er Bezug auf Philosph*innen, die in ihrer Sprache weniger radikal wie Marx warenund hiernach im offensichtlichen Kontext nicht sofort auf Antisemitismus oder Rassismus schließen lassenjedoch einer Ideologie anhingen, die jüdischen und unterdrückten Menschen weitaus gefährlicher war als Briefwechsel zwischen Marx und Engels. In seiner Verteidigung des Konservativismus bezieht sich Weimer zitiert unter anderem auf Immanuel Kant, Max Weber und Friedrich Nietzsche. Die Reputation des vermeintlich unantastbaren Philosophen aller Philosophiestudent*innen Kant wurde besonders in den letzten Tagen infrage gestellt. Der Historiker Michael Zeuske ordnet Kant als „Begründer des europäischen Rassismus“ ein, das er in Kants Menschenbild zurückführt. Weniger offensichtlich ist der Fall bei dem Soziologen Max Weber. Obgleich er nicht zwingend offenkundig rassistisch und antisemitisch argumentierte, ist besonders in seinen letzten Lebensjahren eine Entwicklung hin zum deutschen Autoritarismus erkennbar, der in seiner Struktur nicht ohne Rassismus und letztlich Antisemitismus gelesen werden kann. Die Rezensionsgeschichte Friedrich Nietzsches ist dabei bis heute kontrovers und offenkundig. Derweil Weimer Marx‘ Schriften eine ideologische Nähe zum deutschen Faschismus attestiert, wurden Nietzsches Texte von Teilen der Faschist*innen euphorisch gutgeheißen.

Doch was ist die Essenz? Darf ein Publizist, der sich auf Rassisten wie Kant bezieht bei anderen keinen Rassismus verurteilen? Freilich geht das, wenn es auch doppelmoralisch wirkt. Allerdings sind Marx und Kant, Weber und Nietzsche nicht zu vergleichen. Der prägende Unterschied liegt nicht im subjektiven Wort, sondern der realen Philosophie und Politik, die verfochten wurde. Karl Marx schrieb für eine Gesellschaft, in der der jüdische Mensch weder von seiner Religion noch vom Antisemitismus unterdrückt und ermordet wird, derweil Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche in ihrer Philosophie die misanthropenUnterdrückungsmechanismen billigten und eine Unterschiedlichkeit der Menschheit betrachteten. Linken Theoretiker*innen Antisemitismus oder Rassismus vorhalten, derweil man selbst eine Gesellschaft und Ideologie verteidigt, die jene mörderischen Diskriminierungen erschaffen und am Leben erhalten ist heuchlerisch, was nicht zu übersehen ist. Karl Marx einen „üblen Rassisten“ schimpfen und sich stark selektiv auf Sätze zu berufen, ohne eine historische, ökonomische und politische Einordnung vorzunehmen ist es letztlich nicht Wert, ernst genommen zu werden. Doch die Angriffe werden immer wieder kommen und es gilt sie dennoch immer wieder zu entkräften, gleichwohl es die Angreifer*innen nur selten überzeugen wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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