Der World Autism Awareness Day (im Deutschen etwas holprig: Welt-Autismus-Tag) fällt dieses Jahr auf den Karfreitag. Der zweite April ist der internationale (Feier-)Tag, um Autismus und autistische Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Während er in europäischen Staaten wenig bekannt ist, spielt er in den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. 2007 von der UN-Vollversammlung beschlossen und verabschiedet, will der Tag dazu auffordern, in der Gesellschaft dafür ein höheres Bewusstsein zu schaffen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Autismus – welcher nach wie vor als „Störung“ definiert wird – vermehrt in den Fokus gekommen; allerdings wird dabei mehrheitlich ein selektives Narrativ benutzt, das besonders durch mediale Verarbeitungen verbreitet wird. Gleichsetzungen mit Hochbegabungen, eidetischen Gedächtnissen oder anderer positiv definierten Besonderheiten, die autistischen Menschen zugeschrieben werden, spielen jedoch eine kontraproduktive Rolle, wenn es um eine weit umfassende und gleichberechtigte Auseinandersetzung und Sichtbarmachung handelt. Spätestens seit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die selbst autistisch ist, wurde die Thematik erneut sehr kontrovers aufgenommen, die größtenteils von Nicht-Autist*innen geführt wurde. Diese paternalistische Herangehensweise soll am World Autismus Awareness Day ebenfalls einer konsequenten Kritik unterzogen werden sowie ein Aufbrechen vorgefertigter Bilder, transportiert von Nicht-Autist*innen.
Dass Autismus weder mechanisch noch starr ist, wird mittlerweile auch von der bürgerlichen Psychiatrie anerkannt. Die Unterteilung von u. a. „Asperger-Syndrom“, „Kanner-Syndrom“ und „atypischer Autismus“ wird mehr oder minder fallen gelassen, da sich die Erkenntnis durchsetzte, dass bedingt durch Überschneidungen und verschiedener Ausprägungen von einem Spektrum zu sprechen ist. Die Begrifflichkeit „Asperger-Syndrom“ spielt im gesellschaftlichen Bewusstsein eine prägende Rolle, weil an ihr die meisten medialen Interpretationen (wie in Filmen, Musik und anderer Kunst) gerichtet wird. Ungeachtet der problematischen Verstrickung des Namensgebers Hans Asperger im deutschen Faschismus greift diese „Diagnose“ nur einen kleinen Bruchteil des Spektrums auf, was eine subkutane Gleichsetzung mit Autismus an sich verunmöglicht. Die Entscheidung der Wissenschaft, davon Abstand zu nehmen, ist mindestens zu begrüßen, auch wenn die Hauptproblematik bestehen bleibt, die in der paternalistischen Deutungshoheit mündet, was es eigentlich bedeutet, autistisch zu sein. Daran ist nicht nur eine rein psychologische Komponente beteiligt, sondern eine grundsätzlich gesellschaftliche, die sich um die Definition einer „Normalität“ dreht. Wer entscheidet diese nonverbal-konsensuelle Entscheidung, die faktisch eine Unterscheidung zwischen Menschen nach sich zieht – mit unter Umständen entsprechend drastischen Entwicklungen?
Die bereits erwähnten positiv definierten Besonderheiten spielen eine wichtige und unrühmliche Rolle. Wenn das prägende Bild eines autistischen Menschen ist, dieser sei beispielsweise schrullig-sympathisch, intellektuell hochbegabt und wisse auf jede Frage und Problematik eine fundierte Antwort, ist das für die Schaffung eines Bewusstseins nicht förderlich, sondern schädlich. Die Gefahr hierbei ist, wenn ein nicht-autistischer Mensch Kontakt zu einem autistischen Mensch aufbaut, der nicht das Stereotyp eines Sheldon Cooper (hierbei ist es irrelevant, dass die Produzent*innen betonen, Cooper sei kein Autist, denn das Bild wurde bereits gesetzt) bedient, eine indirekte Gewichtung stattfindet und die postulierte Enttäuschung einen Druck ausübt, der zum sogenannten „Imposter-Syndrom“ bei Autist*innen führen wird: sie meinen, sie würden nur so tun, als seien sie Autist*innen, verbunden mit der Angst, aufgeflogen zu sein. Durch diese Verunsicherung zwingt man die überwältigende Mehrheit von autistischen Menschen erneut in die Unsichtbarkeit und propagiert ein Bild von „Muster-Autist*innen“, die in den Regeln der „Normalität“ Akzeptanz finden. Um diese Logik zu durchbrechen ist es unabdingbar, einen neuen Blickwinkel zu wagen und nicht über, sondern mit autistischen Menschen zu reden. Dafür ist besonders bei der psychologisch-gesellschaftlichen Komponente eine grundsätzliche Neuausrichtung notwendig.
Die gesetzte „Normalität“ ist ein Ausdruck des herrschenden neoliberalen Systems. Ist es nicht möglich, im Konkurrenz- und Leistungskampf zu überleben, greift die psychiatrische Komponente, die auch eine Arbeits- oder Arbeitsunfähigkeit definiert. Autistische Menschen leiden unter diesem System besonders, weil ihre Wahrnehmung und Verarbeitung anders gewichtet ist und zentrale Momente als auch Stärken und Schwächen vom Leistungskampf nicht berücksichtigt werden. Die „Störung“ wird dabei individualisiert und von ökonomischen Gesichtspunkten wegdiskutiert, dabei ist das einer der zentralen Anker, die die „Normalität“ ausbuchstabiert. Die Betonung auf eine Schwäche innerhalb sozialer Interaktionen erscheint dabei als eine vorgeschobene, denn die postulierte Schwäche ist dabei nicht als Versagen oder Boykott sozialer Normen zu deuten, sondern als eine anders interpretierte und wahrgenommene. Dass autistische Menschen in einer Welt von Nicht-Autist*innen Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten, akzeptiert oder anerkannt zu werden, liegt primär in unterschiedlichen sozialen Sprachen, die hiernach anhand von Übersetzungshürden zu Problemen führen können. Anstatt die Sprachen zu untersuchen und entsprechend Module zu entwickeln, die eine Übersetzung erleichtern, wird jene vielmehr unterdrückt und fern der „Normalität“ aufgefasst, die keiner weiteren Untersuchung bedürfe.
Das führt schlechterdings zur Ungleichheit. Ist es Aufgabe autistischer Menschen, eine Sprache zu erlernen, die nicht intuitiv gefasst werden kann und durch die Varietät eben jener einen ununterbrochenen Kraftaufwand bedeutet? Oder ist es im Interesse aller Menschen, soziale Sprachen der anderen in dem Maße zu verinnerlichen und Konsense zu entwickeln, die zur Gleichbehandlung aller Formen der sozialen Kommunikation führt? Um auf die Existenz von autistischen Menschen aufmerksam zu machen und ein Bewusstsein zu schaffen, reicht es nicht, diese anzuerkennen und eine paternalistische Deutung zu erarbeiten, die der eigenen Verarbeitung und Erfahrung dienlich ist. Das Bewusstsein schaffen bedeutet auch, eine Entwicklung in Gang zu setzen, die autistische Menschen nicht als „absonderliche“ Menschen abtut, die, je nach Intention, mehr oder minder positiv oder negativ verstanden werden. Der erste Schritt muss sein, das Spektrum vom bürgerlich-psychiatrischen Paternalismus zu befreien und als eine Varietät des Menschseins zu verstehen, die genauso Stärken und Schwächen hat wie jedes andere Individuum auch. Denn das Festhalten an einer „Normalität“ ist immer Politisierung der Anderen, unter dem Deckmantel psychiatrischer Diagnosekriterien. Was Autismus bedeutet, wird fei jede*r Autist*in anders beantworten und ist weit mehr als das, was der ICD als vermeintliche Kriterien auffasst.
Die Autorin ist selbst Autistin und wurde in der Vergangenheit öfters ungerechtfertigterweise mit Sheldon Cooper verglichen.
Kommentare 2
Ein sehr guter Text, auch wenn ich einiges anders formuliert hätte. Ob alleine der schrankenlose Wettbewerb in unserer neoliberalen Zeit Menschen mit sozialen Beeinträchtigungen noch stärker unter Leistungsdruck setzt, würde ich allerdings nicht unbedingt so unterschreiben: Viele Menschen, die medizinisch und psychisch nicht der Norm entsprechen, mussten schon vor dem Anbruch des neoliberalen Zeitalters unten durch. Ich würde sogar sagen, dass eingeschränkte Menschen z. B. im heutigen Schulsystem (Stütz- und Fördermassnahmen) besser denn je unterstützt werden. In den Siebziger- und Achzigerjahren wurden sie einfach aussortiert und in Sonderschulden „parkiert“. Nicht selten wurden sie auch gesellschaftlich stigmatisiert. Hier hat sich in der Zwischenzeit einiges zum Besserern gewandelt! Freilich betrifft das nur das Bildungssystem, nicht aber die Berufswelt, in der heute mit sehr harten Bandagen gekämpft wird, vor allem im unteren Bereich der Lohn- und Qualifikationsskala.
Egal, wie man es betrachten will: Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist und bleibt das Leben mitunter mühsam und anspruchsvoll. Interessant ist Camilla Pang, die sowohl an ADHS als auch an Autismus leidet- für viele Menschen, wohl die Meisten, käme diese Kombination einem (sozialen) Todesurteil gleich. Sie hat ein Buch geschrieben, dass bemerkenswerterweise „Understanding Humans“ heisst. Etwas verbindet wohl alle Menschen mit Beeinträchtigungen: Sie müssen einen eigenen Weg finden, um in einer Gesellschaft, die zu 90 bis 95% aus normalen Menschen besteht, überleben zu können, wie auch Camilla Pang sagt. Das kann sehr kräftezehrend sein.
»Die gesetzte „Normalität“ ist ein Ausdruck des herrschenden neoliberalen Systems.«
Einwand:
Wenn wir uns über autistische Menschen unterhalten, sollten wir nicht über »gesetzte „Normalität“« sprechen, sondern wertneutral über statistische Normalpopulation als Referenzwert, von der diese mit ihrem Autismus spezifischen Verhalten abweichen.
Spezifisch für Autisten ist doch gerade eine gewisse Unfähigkeit oder doch Beeinträchtigung, verbale und nonverbale Sprache der statistischen Normalpopulation, über die Menschen auch eine Umgebungsatmosphäre schaffen, situationsangemessen zu interpretieren, ebenso die Umgebungsatmosphäre selbst und zudem situationsangemessen zu beantworten. Nonverbale Kommunikationsformen der statistischen Normalpopulation werden mehr oder weniger regelmäßig fehlinterpretiert. – Von den Autistinnen und Autisten.
Das Spezifische am Autismus ist nicht nur das Syndrom an sich, sondern auch, dass es nur eine (winzig) kleine Population von Menschen kennzeichnet (Alle Autismus-Spektrum-Störungen: 6 - 7 pro 1000 in Europa, Kanada und den USA) und die statistische Normalpopulation eben durch die weitaus größte statistische Population gebildet wird.
Für letztere aber sind Autistinnen und Autisten zunächst nicht mehr als „Exoten“ insofern, als ihr Verhalten von der statistischen Normalpopulation situativ befremdlich erlebt wird. Meist fallen die Symptome schon in den ersten Lebensjahren auf.
Dass die Autorin die unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und dasselbe Phänomen, Autismus nämlich, für wichtig hält, spielt im praktischen Alltag keine nennenswerte Rolle, da dieses Phänomen (ich verwende diesen Begriff ausdrücklich, um negative Assoziationen zu vermeiden) irreversibel bis an das Lebensende der Betroffenen bestehen bleibt und anders als z.B. Homosexualität im Allgemeinen nicht stigmatisiert wird. Sie brauchen zeitlebens autismustypische Assistenzen oder doch zumindest Sondersituationen. Anders als bei Homosexualität eben, die Homosexualität spezifische Assistenzen zur Lebensbewältigung jedenfalls nicht notwendig macht.
Trotz umfangreicher Forschungsergebnisse hat sich bislang noch kein umfassendes Erklärungsmodell herausgebildet, das vollständig und schlüssig die Entstehungsursachen autistischer Störungen belegen kann, und jede Autistin resp. jeder Autist ist anders, ist Individuum. Sie durchlaufen – wie jeder andere Mensch – im Laufe ihres Lebens eine dynamische Entwicklung.
Auch wenn die Profis heut in der Zwischenzeit von Autismus-Spektrum-Störungen sprechen, unterscheide ich selbst immer noch old fashioned zwischen dem Asperger- und dem Kanner-Autismus, man kann auch -syndrom sagen. Denn es gibt eine, auch heutzutage noch wichtige Unterscheidung, wie später im Text noch deutlich werden wird.
Während der Kanner-Autismus zumindest ursprünglich durch eine stark reduzierte metrische Intelligenz (von der Qualität einer geistigen Behinderung) ausgeht, tut das der Asperger-Autismus nicht. Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom besitzen eine normale allgemeine, in Teilgebieten oft besonders hohe Intelligenz (auch Teilleistungsstärke genannt).
Das macht hinsichtlich der Zukunftsperspektive dieser Menschen einen großen Unterschied. Beispiele:
Dass die Autorin dieses Blogs einen so gescheiten Text schreiben kann, lässt rückschließen, dass ihr Autismus nicht dem Kanner-Syndrom zugeordnet werden kann, sondern – ganz im Gegenteil – vor dem Hintergrund ihrer metrischen Intelligenz als „freie Journalistin und Studentin der Philosophie“ ein verhältnismäßig anspruchsvolles Leben gestalten kann.
Nicht so allerdings Klaus trotz eines metrischen Intelligenzquotienten von 138, den ich 1968 im Rahmen der Jugendhilfe mit der Diagnose Asperger-Autist kennenlernte, der zwar seine gymnasialen Schulkameraden in Latein unterrichteten konnte – und dies mit Erlaubnis seines Klassenlehrers auch tat –, der aber ansonsten lebenspraktisch untüchtig war, alleine nicht einmal die Straße queren konnte und sein Leben lang immer in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben musste, der, als ich ihn kennen lernte, selbst noch seine Exkremente aß.
In der Verwandtschaft haben wir den jetzt 54-jährigen Kanner-Autisten Martin mit metrischem IQ unter 55, der sämtliche Geburtstage der Familienmitglieder auswendig völlig korrekt herunterrasselt und auf Nachfrage noch den jeweiligen Wochentag in diesem und im nächsten Jahr innerhalb von Sekunden ebenso korrekt mitteilen kann, der allerdings ebenfalls seit seinem 17. Lebensjahr in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe lebt.