Mehr als ein ICD-Schlüssel

Autismus Jeden zweiten April findet der World Autism Awareness Day statt. Um ein Bewusstsein zu schaffen ist es wichtig, nicht nur über, sondern mit Autist*innen zu reden

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Mehr als 50.000 autistische Menschen leben in Deutschland, der Welt-Autismus-Tag soll sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken
Mehr als 50.000 autistische Menschen leben in Deutschland, der Welt-Autismus-Tag soll sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken

Foto: Pascal Pochard-Casiabianca/AFP/Getty Images

Der World Autism Awareness Day (im Deutschen etwas holprig: Welt-Autismus-Tag) fällt dieses Jahr auf den Karfreitag. Der zweite April ist der internationale (Feier-)Tag, um Autismus und autistische Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Während er in europäischen Staaten wenig bekannt ist, spielt er in den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. 2007 von der UN-Vollversammlung beschlossen und verabschiedet, will der Tag dazu auffordern, in der Gesellschaft dafür ein höheres Bewusstsein zu schaffen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Autismus – welcher nach wie vor als „Störung“ definiert wird – vermehrt in den Fokus gekommen; allerdings wird dabei mehrheitlich ein selektives Narrativ benutzt, das besonders durch mediale Verarbeitungen verbreitet wird. Gleichsetzungen mit Hochbegabungen, eidetischen Gedächtnissen oder anderer positiv definierten Besonderheiten, die autistischen Menschen zugeschrieben werden, spielen jedoch eine kontraproduktive Rolle, wenn es um eine weit umfassende und gleichberechtigte Auseinandersetzung und Sichtbarmachung handelt. Spätestens seit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die selbst autistisch ist, wurde die Thematik erneut sehr kontrovers aufgenommen, die größtenteils von Nicht-Autist*innen geführt wurde. Diese paternalistische Herangehensweise soll am World Autismus Awareness Day ebenfalls einer konsequenten Kritik unterzogen werden sowie ein Aufbrechen vorgefertigter Bilder, transportiert von Nicht-Autist*innen.

Dass Autismus weder mechanisch noch starr ist, wird mittlerweile auch von der bürgerlichen Psychiatrie anerkannt. Die Unterteilung von u. a. „Asperger-Syndrom“, „Kanner-Syndrom“ und „atypischer Autismus“ wird mehr oder minder fallen gelassen, da sich die Erkenntnis durchsetzte, dass bedingt durch Überschneidungen und verschiedener Ausprägungen von einem Spektrum zu sprechen ist. Die Begrifflichkeit „Asperger-Syndrom“ spielt im gesellschaftlichen Bewusstsein eine prägende Rolle, weil an ihr die meisten medialen Interpretationen (wie in Filmen, Musik und anderer Kunst) gerichtet wird. Ungeachtet der problematischen Verstrickung des Namensgebers Hans Asperger im deutschen Faschismus greift diese „Diagnose“ nur einen kleinen Bruchteil des Spektrums auf, was eine subkutane Gleichsetzung mit Autismus an sich verunmöglicht. Die Entscheidung der Wissenschaft, davon Abstand zu nehmen, ist mindestens zu begrüßen, auch wenn die Hauptproblematik bestehen bleibt, die in der paternalistischen Deutungshoheit mündet, was es eigentlich bedeutet, autistisch zu sein. Daran ist nicht nur eine rein psychologische Komponente beteiligt, sondern eine grundsätzlich gesellschaftliche, die sich um die Definition einer „Normalität“ dreht. Wer entscheidet diese nonverbal-konsensuelle Entscheidung, die faktisch eine Unterscheidung zwischen Menschen nach sich zieht – mit unter Umständen entsprechend drastischen Entwicklungen?

Die bereits erwähnten positiv definierten Besonderheiten spielen eine wichtige und unrühmliche Rolle. Wenn das prägende Bild eines autistischen Menschen ist, dieser sei beispielsweise schrullig-sympathisch, intellektuell hochbegabt und wisse auf jede Frage und Problematik eine fundierte Antwort, ist das für die Schaffung eines Bewusstseins nicht förderlich, sondern schädlich. Die Gefahr hierbei ist, wenn ein nicht-autistischer Mensch Kontakt zu einem autistischen Mensch aufbaut, der nicht das Stereotyp eines Sheldon Cooper (hierbei ist es irrelevant, dass die Produzent*innen betonen, Cooper sei kein Autist, denn das Bild wurde bereits gesetzt) bedient, eine indirekte Gewichtung stattfindet und die postulierte Enttäuschung einen Druck ausübt, der zum sogenannten „Imposter-Syndrom“ bei Autist*innen führen wird: sie meinen, sie würden nur so tun, als seien sie Autist*innen, verbunden mit der Angst, aufgeflogen zu sein. Durch diese Verunsicherung zwingt man die überwältigende Mehrheit von autistischen Menschen erneut in die Unsichtbarkeit und propagiert ein Bild von „Muster-Autist*innen“, die in den Regeln der „Normalität“ Akzeptanz finden. Um diese Logik zu durchbrechen ist es unabdingbar, einen neuen Blickwinkel zu wagen und nicht über, sondern mit autistischen Menschen zu reden. Dafür ist besonders bei der psychologisch-gesellschaftlichen Komponente eine grundsätzliche Neuausrichtung notwendig.

Die gesetzte „Normalität“ ist ein Ausdruck des herrschenden neoliberalen Systems. Ist es nicht möglich, im Konkurrenz- und Leistungskampf zu überleben, greift die psychiatrische Komponente, die auch eine Arbeits- oder Arbeitsunfähigkeit definiert. Autistische Menschen leiden unter diesem System besonders, weil ihre Wahrnehmung und Verarbeitung anders gewichtet ist und zentrale Momente als auch Stärken und Schwächen vom Leistungskampf nicht berücksichtigt werden. Die „Störung“ wird dabei individualisiert und von ökonomischen Gesichtspunkten wegdiskutiert, dabei ist das einer der zentralen Anker, die die „Normalität“ ausbuchstabiert. Die Betonung auf eine Schwäche innerhalb sozialer Interaktionen erscheint dabei als eine vorgeschobene, denn die postulierte Schwäche ist dabei nicht als Versagen oder Boykott sozialer Normen zu deuten, sondern als eine anders interpretierte und wahrgenommene. Dass autistische Menschen in einer Welt von Nicht-Autist*innen Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten, akzeptiert oder anerkannt zu werden, liegt primär in unterschiedlichen sozialen Sprachen, die hiernach anhand von Übersetzungshürden zu Problemen führen können. Anstatt die Sprachen zu untersuchen und entsprechend Module zu entwickeln, die eine Übersetzung erleichtern, wird jene vielmehr unterdrückt und fern der „Normalität“ aufgefasst, die keiner weiteren Untersuchung bedürfe.

Das führt schlechterdings zur Ungleichheit. Ist es Aufgabe autistischer Menschen, eine Sprache zu erlernen, die nicht intuitiv gefasst werden kann und durch die Varietät eben jener einen ununterbrochenen Kraftaufwand bedeutet? Oder ist es im Interesse aller Menschen, soziale Sprachen der anderen in dem Maße zu verinnerlichen und Konsense zu entwickeln, die zur Gleichbehandlung aller Formen der sozialen Kommunikation führt? Um auf die Existenz von autistischen Menschen aufmerksam zu machen und ein Bewusstsein zu schaffen, reicht es nicht, diese anzuerkennen und eine paternalistische Deutung zu erarbeiten, die der eigenen Verarbeitung und Erfahrung dienlich ist. Das Bewusstsein schaffen bedeutet auch, eine Entwicklung in Gang zu setzen, die autistische Menschen nicht als „absonderliche“ Menschen abtut, die, je nach Intention, mehr oder minder positiv oder negativ verstanden werden. Der erste Schritt muss sein, das Spektrum vom bürgerlich-psychiatrischen Paternalismus zu befreien und als eine Varietät des Menschseins zu verstehen, die genauso Stärken und Schwächen hat wie jedes andere Individuum auch. Denn das Festhalten an einer „Normalität“ ist immer Politisierung der Anderen, unter dem Deckmantel psychiatrischer Diagnosekriterien. Was Autismus bedeutet, wird fei jede*r Autist*in anders beantworten und ist weit mehr als das, was der ICD als vermeintliche Kriterien auffasst.

Die Autorin ist selbst Autistin und wurde in der Vergangenheit öfters ungerechtfertigterweise mit Sheldon Cooper verglichen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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