Mehr als X- und Y-Chromosom

Geschlecht Die Ideologie der Zweigeschlechtigkeit steht seit langem in der Kritik. Um das Denken radikal aufzubrechen, gilt es sich von binären Konstrukten zu verabschieden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das Bewusstsein über Trans*gender ist ein sich sehr langsam bildendes. Die Unsichtbarmachung der Menschen, die an ihrer Geburt einem falschen Geschlecht zugewiesen wurde, wird zwar immer mehr aufgebrochen. Dennoch bleibt das Denkenbesonders in der medialen Rezeptiondem binären Denken verhaftet. Besonders liberale und der Thematik offen aufgeschlossene Menschen und Medien sollte hierbei das subkutan hierarchische Konstrukt bewusst gemacht werden, welches unweigerlich rezipiert wird, wenn über Trans*gender gesprochen oder geschrieben wird. Sprache als Instrument ist immer repräsentativ der herrschenden Klasse, dennoch ist ein Aufbruch zwingend notwendig, um der strukturellen Diskriminierung Einhalt zu gebieten. Wenn der Westdeutsche Rundfunk (WDR) vom Trans*mädchen Sophia, die Frankfurter Neue Presse vom Trans*mann Jonas oder das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) vom Trans*jungen René berichten und erzählen, ist das ein primär wichtiger Schritt, diesen Menschen ein Gesicht und eine Plattform zu geben. Problematisch ist bei den genannten Beispielen schlechterdings das falsche Verständnis des Geschlechts an sich. Sophie, Jonas sowie René werden immer als Menschen vorgestellt, die als das geboren wurden, was ihnen aufoktroyiert wurde. Der WDR spricht von Sophia von einem als „Jungen geborenen“ Menschen. Für Laien oder der Thematik wenig betrauten Menschen scheint das nicht mehr als eine Information von vielen zu sein. Doch hierbei handelt es sich um eine Machtkonstellation, die seit viel zu vielen Jahren die Deutungshoheit über Gesellschaft und auch Wissenschaft ausgeübt wird.

Trans*gender werden nicht in ein falsches Geschlecht geboren, sondern ihnen wird bei Geburt ein falsches zugeordnet. Das ist keine semantische Spielerei, sondern ein wichtiger und notwendiger Punkt. Antifeminist*innen, Transfeind*innen oder rechtskonservative und rechtsradikale Personen, die eine grundsätzliche Feindschaft gegenüber Nicht-Cismenschen hegen und das artifizielle Bild der Zweigeschlechtlichkeit verteidigen wird das kaum daran hindern, ihre Misanthropieweiterzuverbreiten. Die eigentliche Gefahr verbirgt sich in der Deutungshoheit über wissenschaftliche Erkenntnisse und der Toleranzoder vielmehr der gesteuerten Toleranz. Toleranz und Akzeptanz gegenüber Trans*gender ist größtenteilsmeist unwissentlichan das binäre Geschlechtsbild geknüpft. Es wird zwar versucht, eine Pathologisierung zu vermeiden sowie die Normalität dessen zu artikulieren. Wird das eigene bürgerlich-binäre Denken jedoch nicht aufgebrochen, bleibt es eine metaphysische Angelegenheit, die ungewollt einen Dualismus rezipiert: auf der einen Seite Cis- und auf der anderen Seite Trans*menschen. Die kolportierte Aussage, keine Abgrenzung zu forcieren, ist durchaus Ernst gemeint, scheitert jedoch gerade am Aufrechterhalten des widerlegten Glaubens der Zweigeschlechtlichkeit. Das wird besonders deutlich bei Menschen, die sich einem Geschlecht nicht zuordnen können und wollen oder sich im fluid-geschlechtlichen Spektrum wiederfinden. Das bürgerlich-binäre Konstrukt stößt hier sehr schnell an seine selbst gesetzten Grenzen, was die Toleranz und Akzeptanz davon abstrahiert selbst betrifft.

Dabei ist das Bild der Zweigeschlechtlichkeit primär Resultat einer Ideologie, die bedingt durch den Sieg des Bürgertums die Deutungshoheit erkämpfte. Franziska Brachthäuser verdeutlichte das im Gespräch mit dem Freitag am Beispiel der Intersexualität. Während 1794während der Französischen Revolutionin Preußen bei intersexuellen Kindern die Entscheidung über die Geschlechtszugehörigkeit bei den Eltern und später bei den Kindern lag, wurde diese zur damaligenund retrospektiv auch zur heutigenZeit sehr progressive Gesetzgebung „mit der Einführung der Standesämter“ 1876 faktisch zerstört. Die vermeintliche Aufklärung durch die Französische Revolution war in Bezug auf das Geschlecht, die soziale Rollen und besonders der Frauen* bedingt durch der misslungenen Überwindung des Christentums als Ursprung der Feindschaft jedweder Nicht-Zweigeschlechtlichkeit und auch Nicht-Heterosexualität, scheiterte an ihrem eigenen Anspruch. In der Geschichte des Menschheitsgeschlechts war die Mehrgeschlechtlichkeit und immer neu interpretierte Rolle der Geschlechter dialektisch unumgänglich. Die Zementierung durch die bürgerliche Gesellschaft, die sich der christlichen Vokabel der „Natürlichkeit“ bedient, ist weder historisch noch (natur-)wissenschaftlich tragbar.

Heinz-Jürgen Voß, Sozialwissenschaftlicher und Experte für „biologisch-medizinische Geschlechtstheorien“, hat sich darauf spezialisiert, die Zweigeschlechtlichkeit wissenschaftlich zu widerlegen. Sein Augenmerk liegt hierbei nicht auf historisch-gesellschaftliche Rollen, sondern der menschliche Körper und seiner Biologie. In seinen Abhandlungen untersuchte er die Rolle der DNA und den Chromosomen. Hierbei postulierter, dass für die Entwicklung des biologischen Geschlechts mehrere Dinge eine essenzielle Rolle spielen, die kaum oder gar nicht beachtet wurden. An Beispiel von Mäusen wurden in ihrer Genetik „ungefähr 1000 Gene als möglicherweise an der Geschlechtsentwicklung beteiligt beschrieben“, wovon gerade einmal 12,5 % noch nie untersucht wurden. Ein Großteil dieser Gene seien weder X- noch Y-Chromosomen. Voß und viele weitere Expert*innen, die das tradierte Bild der Geschlechtlichkeit kritisch betrachten, sind hierbei der Auffassung, dass man das menschliche Geschlecht nicht einzig auf die Anzahl von X- und Y-Chromosomen reduzieren könne. Die Wissenschaft darüber erfährt durch diese kritische Herangehensweise eine neue Möglichkeit und Notwendigkeit, das Bild der Zweigeschlechtlichkeit ad absurdum zu führen. Das ist ein unausweichlicher Prozess, der der Forschung über Trans*gender weiterhelfen wird, um die Prozesse und Entwicklungen nachvollziehen zu können, wie sich Trans*- und Cisgeschlechlichkeit letztlich definiert. Dabei bleibt es allerdings unabdingbar, starre Muster zu hinterfragen, um das Bild mehr auf ein fluides Spektrum zu richten.

Was bleibt ist die Erkenntnis und der Hinweis darauf, dass die Forschung in den Kinderschuhen steckt. Der Bruch mit der binären Konstruktion ist hierbei essenziell, um die Entwicklung und Fortsetzung zum Verständnis der Prozesse nicht an dogmatisch-ideologische Muster zu heften. Es ist eben nicht die queere Forschungbeispielsweise Gender Studiesdie einer Ideologie verhaftet ist. Es ist die vermeintlich neutral-bürgerliche Wissenschaft und ihrem Damoklesschwert der Biologie, die besonders von Traditionalist*innen bedient werden. Resultat und Ziel ist es hierbei nicht, eine Abgrenzung der Geschlechter zu erzielen, sondern vielmehr die Erkenntnis darüber zu erlangen, wie das menschliche Geschlecht nüchtern betrachten überhaupt funktioniert und an welche Prozesse es geknüpft ist. Das gelingt freilich nur mit dem radikalen Bruch der ideologischen Muster, was unter Umständen auch das Bild von Cis- und Trans*geschlechtlichkeit in seiner Strukturen abschaffen könnte. Die aktuelle Fokussierung zur Bestimmung des Geschlechts ist es, primäre Sexualmerkmale heranzuziehen, was zur absurden Folge hat, dass ein Arzt oder eine Ärztin de facto ein Machtwort spricht, welches die Geschlechtszugehörigkeit zementiert und für Trans*gender mehr als Probleme bereiten wird. Der damit einhergehende Bürokratismus ist hierbei nur Symptom eines totalitär anmutenden Systems zur Aufrechterhaltung des Geschlechtsbildes, welches metaphysisch nur zwischen Schwarz und Weiß pendelt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden