Philosophie des (Nicht-)Sein

Kontroverse Um den Suizid zu enttabuisieren, muss man an die Wurzel gehen und sich fragen: wie ist das Sein des Menschen eigentlich zu deuten und woran scheitert die Philosophie?

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Die Frage, warum man ist, ist eine der ältesten Fragen der Menschheit. Besonders die Philosophie versucht, seit sie die Frage formuliert, darauf eine Antwort zu finden, die unmittelbar weitere Eigenschaften aufgreifen muss. Denn jede weitere philosophische Frage, die primär das Zusammenkommen und Wirken der Menschen untereinander ergründet, muss eine Annahme treffen, die die Existenz des Gegenstands, also das Sein der Menschheit, mindestens so weit hinreichend anerkennt, um daraus Folgerungen schließen zu können. Dass sich aus der Tatsache, dass Menschen sind und im Einzelnen in einem gewissen Zeitrahmen leben, Grundlagen ergeben müssen, eine Antwort darauf zu finden, ist nicht verwunderlich. Die Deutungshoheit theonomer Konzeptionen über Jahrhunderte hinweg, die sowohl moralisch als auch ontologisch die Existenz einer überempirischen Entität, in diesem Falle die Vorstellung eines Gottes, annahmen, entlastete die radikale Zuwendung des Seins erheblich: Was Gott oder eine ähnliche Vorstellung vorgibt und bestimmt, gelte es nicht zu hinterfragen, hiernach sei auch eine weitere Nachforschung obsolet. Doch auch im Zuge der Aufklärung ist die Vorstellung, durch die Absage an Gott, zu begründen, warum man ist, nicht leichter, sondern schwerer genau dann geworden, wenn die Absage nur semantischer Natur war, jedoch nicht inhaltlicher. Besonders ist das in Moralkonzeptionen zu finden, die Eigenschaften als verbindlich vorschreiben, gleich, ob nun als Axiom oder als kategorischen Imperativ. Ob es eine subjektunabhängige Existenz jeglicher zwischenmenschlicher Übereinkunft überhaupt geben kann, ist dabei gebunden an die eigentliche Frage der Notwendigkeit des Seins – und worauf sie fußt.

Es ist geboten ein paar Schritte zurückzugehen und die Frage, warum man überhaupt ist, zuerst als etwas aufzugreifen, das es erst mal so ist. Die Existenz von Leben ist kein Produkt einer Idee, die sich zu verwirklichen versucht, sondern unabhängig jeglicher Norm und philosophischer Auseinandersetzung Resultat materieller Entwicklungen und Bedingungen; für das Verständnis an sich sekundär. Wenn wir die Prämisse annehmen, und das sollten wir, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und nicht umgekehrt, kann daraus keine Verpflichtung oder Notwendigkeit abgeleitet werden, wie es die Philosophie seit ihrer Begründung versucht. Das Sein des Menschen, besonders des Bewusstseins, eruiert fatalerweise in einen Widerspruch, der die Möglichkeiten kategorisiert und letztlich das Leben an sich als Grundlage aller weiterer philosophischer Eigenschaften versteht. Das bedeutet konkret: Das Leben als Verpflichtung gegenüber sich selbst und anderer kann nicht anders als die Bejahung des Seins folgern, was allerdings getrennt von jeder idealistischen und vermeintlich geistlichen Auseinandersetzung mit dem Wert des Lebens nicht gestützt werden kann, wenn man die Möglichkeit betrachtet, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Hier entsteht eine Problematik, die, wenn überhaupt, ausweichend und wenig überzeugend erklärt wird, sei es bei Immanuel Kant als eigentliche Unmöglichkeit, da gegen eine „Natur des Menschen“ verstoßen (Vgl. „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“) oder, wie bei Arthur Schopenhauer, daraus selbst eine Lebensbejahung abstrahiert wird (Vgl. „Parerga und Paralipomena II“).

Dass die Entscheidung aus dem Leben zu scheiden, gegeben ist, stellt die Frage, wie das Sein zu werten ist, in ein dialektisches Licht. Der Lebenszyklus als Phänomen lässt sich auf die Negation der Negation und die permanente Bewegung herunterbrechen. Das Sein in actu, also das Leben, zeichnet sich dadurch aus, nicht stillzustehen, sondern selbst dann, wenn das Individuum nichts tut, nicht nichts zu tun. Der Stillstand der Bewegung kann nicht anders als die Negation der Bewegung sein, für den Menschen also der Tod. Die Negation der Negation indes, welche die Bewegung bedingt – außer die Negation der Bewegung an sich – ist dadurch zu greifen, dass durch die permanente Bewegung sich alles im Fluss bewegt, also der Gegenstand in der Zeit x seinen Zustand ändert, um bei x+1 anzukommen. Das ist einerseits die radikale Absage an die mechanische Formale Logik, die annimmt, dass „A = A“ ist; andererseits aber auch das Abbild der Umgebung, die sich in ständiger Selbstnegation befindet, um überhaupt bestehen zu können. Das Absterben und das Nachwachsen der Zellen im Körper ist ein Beispiel dafür.

Wie ordnet sich nun die Begründung des Seins ein? Die Formel der Negation der Negation und der permanenten Bewegung ist nicht subjektabhängig, sondern grundsätzlich bestehend, wonach die eigenmächtige Möglichkeit besteht, in den Zyklus einzugreifen. Freilich nicht darin, die dialektischen Gesetze aufzuheben, sondern den eigenen Zyklus selbst abzukürzen. Wenn das Leben mit seinen erwähnten Gesetzmäßigkeiten nicht anders kann als den Tod einzuleiten, gibt es zuvorderst keinen überzeugenden Grund, diese Einleitung selbst herbeizuführen respektive genauer: eher einsetzen zu lassen. Das bedeutet konkret, dass die Möglichkeit zu leben die Möglichkeit selbstbewusst auszuscheiden dringend und inhärent vorhanden sein muss. Dass sich diese Erkenntnis jedoch als problematisch und teils kontrovers erweist ist dabei nicht ihrer Existenz geschuldet, sondern der Auffassung des Menschen, dem diese Möglichkeit gerade obliegt. Die Entwicklung moralischer Gesetze, besonders in Hinblick auf Handlungen an sich selbst und gegenüber anderen, verkompliziert diese Sachlage insofern, als dass diesem Prozess ein Wert herangetragen wird, dessen Begründung nicht existent ist. Es ist geradezu paradox, dass die Menschheit hier versucht eine objektive und allgemeingültige Grundlage zu entdecken, die den Wert des Seins hervorhebt, dabei selbst an dem nicht-dialektischen Widerspruch seit Jahrhunderten verzweifelt, eine normative Gesetzmäßigkeit zu abstrahieren.

Es ist freilich schnell gesagt, dass die Beendigung des eigenen Lebens gegen eine Natur verstieße und es moralisch nicht zu rechtfertigen sei; doch wie diese Rechtfertigung und diese „Natur“ genau aussieht respektive woran diese Erkenntnis festgemacht wird, ist das eigentliche Versagen der Philosophie, die ihre Moral und Rechtfertigung nur mechanisch begründet. Es besteht dabei ein deutlicher Unterschied, ob jemand Fremdes das Leben eines anderen beendet oder man selbst autonom darüber verfügt. Doch wenngleich diese Unterscheidung oberflächlich durchaus anerkannt wird, findet sie im wirklichen Zusammenleben der Menschen und weiterer Eigenschaften moralischer Konzeptionen keine Anwendung; denn die Entscheidung, den Prozess frühzeitig zu beenden, wird nicht nur tabuisiert, sondern zwecks der Nichtakzeptanz, auch auf den Kopf gestellt. So findet in nahezu jeder Gesellschaft zwar die Erkenntnis statt, dass es eine Verpflichtung des Seins nicht gibt, wohl aber ein Recht. Dieses Recht wird jedoch oft als verstandene Verpflichtung ausgelegt, wenn es um die Entscheidung geht, dieses (normative) Recht aufzulösen, hiernach das Leben zu beenden. Nebst Pathologisierungen ist auch die Kommunikation gestört. Dass die Möglichkeit besteht, das Leben zu beenden, heißt dabei nicht, dass diese Entscheidung einer immer gar bewusste ist, sondern als Option herangezogen wird, um reales Leid erträglich zu machen, respektive eine Alternative zu eruieren. Gerade in solch Situationen findet jedoch eine Überbewertung und faktische Verpflichtung des Seins statt, die den Menschen, der in der Not ist und den Gedanken hegt, den Lebensprozess zu verkürzen, in eine moralische Verantwortung zwingt.

Der Umgang mit lebensverneinenden Menschen entwickelt sich zu einem leisen Konflikt, der ein Ungleichgewicht der Interessen bedeutet. In einem emotionalen Verhältnis ist das Gespräch über die suizidale Möglichkeit von jenem moralischen Abbild geprägt, dass das Sein höher schätzt als das Nichtsein. So wird häufig die Argumentation herangezogen, wonach die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, Leid bei anderen auslösen würde, was den suizidalen Menschen in eben jene moralische Verpflichtung zwingt, eine Entscheidung zuungunsten seiner zu fällen. Bei diesem Interessenskonflikt kommt die egoistische Eigenschaft beider zum Vorschein, wobei man es hier mit mehreren Stufen zu tun hat: die Entscheidung, das Leben zu beenden, ist freilich eine egoistische, so betrifft sie das eigene Sein. Jemanden eine moralische Last aufzuzwingen, sich nicht umzubringen, weil der Mensch dadurch fehlen würde, ist aber eine ungemein egoistischere Eigenschaft, da hier das Wohl des Anderen, das heißt, den Verlust eines geliebten Menschen nicht erleiden zu müssen, höher gestellt wird als die Entscheidung des suizidalen Menschen. Hier findet auch eine Leidsabwägung statt, wonach das existierende Leid des suizidalen Menschen weniger Wert ist als das zukünftige Leid des Anderen.

„Willst Du Deine Mutter unglücklich machen?“, oder „Ich will nicht, dass Du Dich umbringst, weil Du mir fehlen wirst“ sind konsequente Reaktionen und Eigenschaften eines moralischen Verständnisses, dass das Recht zu Leben zu einer normativen Verpflichtung macht. Weil nicht verstanden werden kann respektive nicht akzeptiert werden kann, dass das Sein und das Leben als Prozess endlich und philosophisch nicht zu greifen ist, wird ein enormer Idealismus oktroyiert, der jede Diskussion im Keim erstickt, die Grundlage des Seins wirklich zu greifen. Dass das Sein und das Leben keinen zu erklärenden Sinn haben mag, bedeutet nicht, dass der Prozess des Lebens, der stattfindet, ein ebenso sinnfreier wäre. Gewiss ist gesetz der Annahme, dass das Sein erst das Bewusstsein ermöglicht, davon auszugehen, dass mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit die Existenz und Möglichkeit des Lebens eine physikalische Zufälligkeit ist. Diese mit Inhalt zu füllen ist dabei kein Zwang, aber eine Möglichkeit, diesen Prozess und Zeitraum zu gestalten. Hiernach kann also besonders die Frage, wie man leben möchte, auch nur zwingend dann eine wirklich freie sein, wenn auch impliziert wird, ob man leben möchte. Die Philosophie ist jedoch dazu verdammt, ihren moralischen Kaleidoskop auf eine Norm zu bauen, die es so nicht zu geben scheint. Daher kann auch nur dann die Frage wirklich angegangen werden, wie das Sein zu deuten und zu füllen ist, wenn auch die bewusste Negation des Seins respektiert und anerkannt wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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