Radikale Symbolpolitik

Coronapandemie Noch 15 Stunden Scheindebatte um neue Maßnahmen steht im Ergebnis: mehr Beschränkungen im Privaten, bei der Wirtschaft nichts Neues

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Radikale Symbolpolitik

Foto: Michael Kappeler / POOL / AFP

Die BRD befindet sich seit einem Jahr in einem Zustand, der gemeinhin als „Lockdown“ oder „Shutdown“ verstanden wird. Als sich damals die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsident*innen trafen, um über erste Schritte zu beraten, wie mit der Pandemie umzugehen sei, waren einige Entscheidungen einem Aktionismus geschuldet, der schnell nationalistisch anmuten mochte. Damals war das gesellschaftliche und – teils auch – ökonomische Leben in einem einige Wochen anhaltenden „Lockdown“, der sich mit der Nennung durchaus schmücken durfte.

Als zu Beginn der Sommerzeit jedoch Lockerungen versprochen und durchgeführt wurden, katapultierte man sich in eine Situation, deren Folgen man nach einem Jahr Pandemie umso deutlicher spürt: eine eklektische Strategie, die die vollmundige Solidarität im Frühjahr vergessen ließ und knallharte Interesse „der Wirtschaft“ verteidigt. Dass die niedrigen Infektionszahlen im Sommer 2020 nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass im folgenden Herbst eine neue Welle kommen wird, beachtete man nicht weiter. Dabei war die Berechnung und Ausgangslage der Virolog*innen nahezu einstimmig: Wenn man die „ruhige Phase“ nicht zur Vorbereitung nutzt, würde es erneut zu aktionistischem Agieren ohne langfristige Perspektive kommen. Das bestätigte sich. Der „zweite Lockdown“, der in der ersten Novemberwoche 2020 ausgerufen wurde, griff erneut in das Privatleben des Einzelnen ein und machte hauptsächlich individuelles Handeln für die Verbreitung des Virus verantwortlich. Produktionsstätten blieben offen, die „Wirtschaft“ wurde lediglich mit Samthandschuhen angefasst, wenn es darum ging, „solidarisch“ zu handeln.

Die Pakete, die die Industrie und andere Teile der Wirtschaft auffangen sollten, erreichten dabei nicht die Arbeiter*innen, vielmehr akkumulierten sich Gewinne in den Händen der Profiteure der Coronakrise. Dass man es mit den sozialen Kontaktbeschränkungen nicht so konsequent meint, beweist der fast schon pathologische Fokus auf Kinder und Schüler*innen, deren Rückkehr in den Präsenzunterricht priorisiert wurde. Dass Kinder keinen relevanten Faktor für die Verbreitung des Virus darstellen bewahrheitete sich nicht – im Gegenteil: besonders durch die britische Mutation verdoppelte sich die Infektion bei Kindern bis 14 Jahren.

Während des Weiteren einerseits Arbeiter*innen ihren Job verloren, mussten sich Arbeiter*innen, die kein Recht oder keine Möglichkeit auf ein Home-Office haben, der Gefahr aussetzen, infiziert zu werden – sei es wegen fehlender Schutzkonzepte an der Arbeitsstelle oder des Weges während Bus und Bahn. Die propagierte „Solidarität“ und „nationale Kraftanstrengung“ wurde auf dem Rücken der Gesundheit der lohnabhängigen und arbeitslosen Bevölkerung ausgetragen, die nicht nur in eine ökonomische Existenzkrise rutschte, sondern auch prozentual häufiger an den Maßnahmen psychische Erkrankungen entwickelte. Der Kampf gegen das Virus findet auf dem Rücken des Individuums statt, während große Infektionsorte wie Produktionsstätten und Schulen mit aller Macht – zum Wohle der Wirtschaft – offen gelassen wurden und werden.

Die Konferenz der Bundeskanzlerin und Ministerpräsident*innen vom 22. März 2021 verdeutliche, dass aus den Erfahrungen nicht gelernt wurde. Die Besprechungen dauerten mehrere Stunden, um 2:37 Uhr traten Angela Merkel und Markus Söder sowie der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, vor die Presse. Die neuen Maßnahmen greifen noch tiefer in das Privatleben ein, während zur Arbeitsstelle, den Schulen und Kitas kein Wort verloren wurde. Die Anfang März 2021 postulierte „Notbremse“ solle nun ab einem Inzidenzwert von 100 greifen. Bundesweit liegt dieser Wert derzeit bei 107,3, Spitzenreiter ist Thüringen mit 209,2. Die „Notbremse“ soll dabei in den Verordnungen der jeweiligen Bundesländer interpretiert werden, wobei Vorschläge eine erweiterte Ausgangssperre sowie das verpflichtende Tragen einer medizinischen Schutzmaske auch im privaten Raum beinhalten. Der Inzidenzwert von 100 spielt allerdings für Schulen keine Rolle. Wenngleich in der offiziellen Verlautbarung davon keine Rede war, sickerte zuvor der Wert von 200 durch, ab dem erst über eine Schulschließung entschieden werden soll. Angesichts mutierter Varianten betrifft dies primär jüngere Menschen, die keinen zusätzlichen Schutz erhalten. Nichtsdestoweniger wird Söder nicht müde zu betonen, man müsse die „neue Variante“ ernst nehmen.

Wessen Interessen vertreten werden, wurde abermals mehr als deutlich. Ein „radikaler Lockdown“, wie Merkel ihn nach Angaben des SPIEGEL bezeichnete, soll vom 1. bis zum 5. April stattfinden. Neben den Feiertagen sollen die zwei Werktage am Donnerstag und Samstag wie zusätzliche Feiertage behandelt werden – was de facto einen „Shutdown“ von nicht mehr als zwei Tagen bedeutet. Hier widerspiegelt sich der Aktionismus, der seit Ausbruch der Pandemie durchgezogen wird. In diesen fünf ersten Apriltagen soll der persönliche Kontakt zusätzlich eingeschränkt werden, was mit einem Ansammlungsverbot in der Öffentlichkeit begleitet wird. Der Illusion verfallen, dadurch die Pandemie in den Griff zu bekommen, wird auf der ewig gleichbleibenden Klaviatur der Wirkungslosigkeit gespielt. Die katastrophale Impfstrategie, die willkürlichen Öffnungen und die Möglichkeit, in Mallorca zu urlauben, zeichnen mehr das Bild einer griechischeb Tragödie als das eines vernünftig handelnden Staats. Statt die Hotspots einzig im privaten Raum auszumachen, und so noch sehr viel tiefer in das soziale Leben der Einzelnen zu regieren, sollten Maßnahmen ergriffen werden, die sich nicht im Ersinnen neuer Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen suhlen, sondern an den Orten ansetzen, die für sporadische Ausbrüche und diffuse Geschehen verantwortlich sind: die Arbeitsstelle und die Bildungsstätten.

Ein tatsächlich „radikaler Lockdown“, um Merkels Vokabular zu verwenden, bestünde im Schließen von nicht absolut „systemrelevanten“ Produktionsstätten, der Schließung aller Schulen und Universitäten. Die seit zwölf Monaten schwelende lethargische Entwicklung des bürgerlichen Staates, der in seinem eigenen Widersprüchen gefangen scheint, und so gar nicht anders kann, als von einer Welle zur nächsten zu vegetieren, legt den divergierenden Charakter frei, der sich der Anerkennung der dialektischen Beziehung zwischen der Pandemie und der kapitalistischen Produktionsweise verweigert. Das Coronavirus, egal in welcher Mutation und Ausprägung, orientiert sich nicht an Beschlüssen einer bürgerlichen Regierung und macht dementsprechend keinen Unterschied zwischen einer Freizeitbeschäftigung oder der Lohnarbeit. Diesem Irrglauben scheint die Regierung jedoch auf ewig verfallen zu sein. Dass es zur dritten Welle kommen konnte und die BRD nicht vorbereitet war, ist nicht die Schuld privater Treffen. Es liegt viel mehr an einem katastrophalen Krisenmanagement der Regierung – und der Weigerung, sich Fehler einzugestehen.

Einzig auf den Impfstoff zu hoffen ist der falsche Weg, selbst wenn das Vakzin eine bedeutende Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie spielt. Doch sie wird nicht die letzte ihrer Art sein. Der Ausbruch des tödlichen Virus ist eine Reaktion der menschlichen Aneignung der Flora und Fauna, bedingt durch das neoliberale Mantra des „ewigen Wachstums“, was dazu führt, dass die Menschheit immer häufiger mit Viren in Verbindung kommen wird, die für sie schädlich sind. Sollte die Coronapandemie überwunden werden, ist damit keine Sicherheit gewonnen, sondern lediglich ein Symptom eines größeten Übels bekämpft.

Es ist dementsprechend dringend notwenidg, die richtigen Schlüsse aus den letzten zwölf Monaten zu ziehen: der Status quo muss radikal hinterfragt, Missmanagement in Pandemiezeiten im Vorhinein verhindert und der Mensch vor den Profit gestellt werden – besonders bei Fragen der Gesundheit, der leiblichen sowie psychischen Unversehrtheit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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