Bitte bestraft nicht die Falschen!

An die Letzte Generation Grundsätzlich stimme ich euch zu, möchte aber eure Protestformen solidarisch kritisieren – und würde das gerne auch mit euch diskutieren.

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Ihre Freitag-Redaktion

Liebe Aktivisti der Letzten Generation,

ihr wollte Berlin lahmlegen, „um die Regierung zum Aufbruch zu bewegen“. Grundsätzlich stimme ich euch zu: ihr seid vermutlich die letzte Generation, die vielleicht – hoffentlich – noch das Ruder herumreißen könnte, um den schlimmsten Klimakollaps und die Unbewohnbarkeit der Erde für die Menschen zu verhindern, oder wenigstens abzumildern. Dass ihr laut seid und Aufmerksamkeit erkämpft, finde ich richtig und notwendig. Insofern finde ich auch die Solidarität mit euch gegen staatliche Verfolgung und Repression richtig und notwendig.

Mit euren Aktionen zur Störung des Verkehrs bin ich jedoch nicht einverstanden. Nicht weil ich persönlich betroffen wäre – meist fahre ich mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln und wurde noch nie von euren Aktionen in der Bewältigung meines Alltags eingeschränkt. Jedoch möchte ich eure Aktionsform politisch-solidarisch kritisieren.

1. Sich mit den Händen festzukleben, um etwas zu verhindern oder zumindest demonstrativ zu verzögern, ist ein starkes Signal. Indem ihr eure eigenen Körper einsetzt, signalisiert ihr Entschlossenheit und nehmt Verletzungen in Kauf. Davor habe ich Respekt, auch wenn es nicht meine Form wäre, weil ich meine Gesundheit für kein politisches Ziel riskieren würde.

2. Allerdings stehen eure Forderungen – 9-Euro-Ticket und Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h – für mein Empfinden in keinem Verhältnis zu diesem hohen Einsatz. Beides wären Schritte in eine richtige Richtung und ich weiß, dass ihr mehr wollt – eure Forderung nach einem Gesellschaftsrat wäre ein eigenes diskussionswürdiges Thema. Aber selbst bei einer Konzentration auf das Verkehrsthema gäbe es doch so viel mehr, was jetzt schon ohne aufwendige Partizipationsverfahren zu fordern wäre, zum Beispiel: Entprivatisierung, Ausbau in der Fläche und Verbesserung der Zuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs und Verlagerung von Transporten (die insgesamt herunterzufahren wären) von der Straße auf die Schiene.

3. Mein größter Kritikpunkt: für mich wirken eure Aktionen wie Treten nach unten. Mit der Behinderung des Autoverkehrs tut ihr dem kapitalistischen System nicht weh, sondern schadet vor allem vielen, die aufs Auto angewiesen sind, um ihren oft prekären Arbeitsalltag und ihre Sorgeverpflichtungen zu bewältigen. Damit bringt ihr die Leute gegen euch, und sicher auch einige gegen eure Forderungen auf. Warum klebt ihr euch nicht dort fest, wo ihr die Richtigen trefft, also beispielsweise vor Autokonzernen, Chemieunternehmen oder Rüstungsschmieden?

4. Mit euren Aktionen lenkt ihr die Aufmerksamkeit auf euch selbst und eure Aktionsform, statt auf die notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Das passt zum identitätspolitischen Selbstdarstellungsmodus, der in erster Linie ausdrückt: ich stehe auf der richtigen Seite und darum bin ich besser als andere – ganz im Sinne neoliberaler Konkurrenz.

5. Dazu passt auch die moralisierend-vorwurfsvolle Botschaft gegenüber den Autofahrenden: ihr tut das Falsche, ihr seid schuld, für die Rettung der Menschheit müsst ihr euer Verhalten ändern. Abgesehen davon, dass ihr damit keine*n gewinnen werdet, schmiegt sich solche Individualisierung widerspruchsfrei in neoliberale Logiken ein. Der persönliche CO2-Fußabdruck wurde nicht umsonst von der Industrie in die Welt gesetzt.

6. Die Einengung der Perspektive auf das Klimathema lässt andere, ebenso bedrohliche Katastrophen in den Hintergrund treten. Beispielsweise den Verlust der Biodiversität und das Verschwinden des Süßwassers, sowie die Krise der Menschenrechte mit der Zunahme von imperialistischen Kriegen, Landraub und Massenmord entlang der Fluchtrouten. Für viele Menschen im Globalen Süden ist ihre Welt schon jetzt unbewohnbar, und dafür tragen die Regierungen der Länder des Globalen Nordens eine wesentliche Mitverantwortung.

7. Die Bezugnahme auf messbare Parameter wie CO2-Ausstoß und Temperaturerhöhungen übersieht, in welch vielfältigen fragilen Wechselwirkungen die Prozesse der Natur miteinander stehen. Dies ist noch längst nicht umfassend bekannt und erforscht. Vermeintliche Eindeutigkeiten und lineare Ursache-Wirkungs-Konstrukte dienen als Türöffner für vereinfachende Klima-Scheinlösungen. Sie bieten marktförmige zentralistische Hightech-„Lösungen“, die patriarchalen Machbarkeitsvorstellungen folgen und die Profitinteressen von globalen Konzernen und Finanzmarktakteuren bedienen.

Liebe Aktivisti,

euer Gefühl der Hilflosigkeit kann ich nachvollziehen, und auch, dass ihr in eurer Verzweiflung glaubt, das Richtige zu tun. Mit meiner Kritik möchte ich euch nicht angreifen, sondern verstehe sie als Anregung für notwendige strategische Diskussionen.

Die Gesellschaft ist gespalten und euer Aktivismus spaltet leider auch. Dabei wäre es angesichts erwartbar härterer Zeiten und Notstandssituationen so wichtig, zusammenzurücken. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Spaltung in Oben und Unten, in Arm und Reich so krass wie heute. Die Gegner sind nicht die ebenfalls betroffenen Mitmenschen, sondern die Institutionen des Kapitals und des Staates. Auch ich spüre Hilflosigkeit angesichts der unfassbar machtvollen illegitimen Vermögensmassen, die mit ihrem politischen Einfluss weltweit die Entdemokratisierung vorantreiben. Hilflosigkeit auch angesichts von immer autoritärer handelnder Staatsgewalt, die sich in immer mehr Ländern zu faschistoider Gewaltherrschaft entwickelt.

Welche Handlungsmöglichkeiten kann es geben, angesichts waffenstarrender Systeme unterschiedlicher politischer Ausprägung und unterschiedlichen geopolitischen Machtblöcken zugehörig? Welche Kräfte „von unten“ könnten dem etwas entgegensetzen? Meine persönlichen Hoffnungen richte ich zunehmend auf Bewegungen im Globalen Süden und auf diejenigen, die hierzulande mit ihnen in Resonanzbeziehungen treten. Vielleicht könnte es dann gemeinsam gelingen das Ruder noch herumzureißen – auf der Grundlage einer klaren menschenrechtlichen Orientierung, die Menschen als Teil der Natur versteht und deren Erhalt und Pflege höchste Priorität einräumt. Vielleicht …

Mit solidarischen Grüßen

Elisabeth

Bei der Tesla-Eröffnung am 22.03.2022 (zynischerweise genau am internationalen Weltwassertag!) hatten sich Aktivisti in der Einfahrt zum Tesla-Gelände festgelebt. Ein richtiger Ort für diesen Protest!

Ein paar Fotos gibt es HIER, über die Proteste hatte ich HIER berichtet.

Kurz nach der Veröffentlichung dieses Beitrags bekam ich einen Hinweis auf die Fahrraddemo und das Konzert auf der A 100 am Sonntag, worüber der Tagesspiegel heute berichtet: "Zum Bündnis zählen etwa die Gruppierung 'Letzten Generation', die 'Bürger*innenInitiative A100', die Musik- und Aktionsgruppe 'Lebenslaute' und der Verband 'Greenpeace Berlin'."

So eine Aktion der Vielen geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung, und ich freue mich, dass die Letzte Generation auch dabei ist.

Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, dass ich mir anmaße zu entscheiden, welche Aktionsformen falsch oder richtig sind. Mir geht es darum, meine Gedanken dazu zur Diskussion zu stellen. Vielleicht irre ich mich und schätze etwas falsch ein, das kann ich nur im Austausch mit anderen herausfinden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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