Berlin radikal neu

Berliner Klimaliste Am 8. Mai 2021 durfte ich eine Gastrede auf dem Parteitag der Berliner Klimaliste halten, zum letzten Teil des Parteiprogramms

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Ihr wollte Berlin radikal neu machen – wow!

Das Wichtigste steht vielleicht am Ende Eures Wahlprogramms, Ihr möchtet „radikale Menschlichkeit in die Berliner Parlamente bringen“. Wir sehen ja gerade in diesen Corona-Zeiten, wie schnell die Menschlichkeit verloren gehen kann. Da gibt es (vermeintlich) Schützenswerte und andere, die der Politik egal sind, beispielsweise Niedriglöhner:innen und sozial Benachteiligte, Obdachlose und Geflüchtete.

Gibt es in Deutschland wieder lebenswertes und nicht lebenswertes Leben? Ich betone das deswegen, weil heute der 8. Mai ist, der Tag, an dem vor 76 Jahren die Alliierten den deutschen Faschismus besiegt haben. Jede politische Maßnahme muss sich auch daran messen lassen. Nicht nur daran, Sorge zu tragen, dass sich so etwas wie dieser Faschismus nie wieder wiederholt, sondern auch daran, dass sie keinerlei Keime für menschenverachtende Ungleichheit und Ungerechtigkeit sät.

Ihr wollte Berlin radikal neu machen

Zu vielen Eurer Ziele habe ich volle Zustimmung, aber sie werfen Fragen auf und stellen große Herausforderungen, das wisst Ihr ja selbst. Wie kann das gelingen: Gute Löhne – mit weniger Arbeit? Wohnraum für alle – ohne Neubau? Kein Mensch ist illegal – trotz Seehofer und seinesgleichen? Investitionen in die Zukunft statt Schuldenbremse – trotz EU?

Abschied vom Wachstum

Eure grundlegende Orientierung teile ich unbedingt: Den notwendigen Abschied vom Wachstumsparadigma! Da wird es nicht ausreichen, das als Ziel aus der Landesverfassung zu streichen. Wachstum ist ja nicht nur ein Wort, sondern es ist das Schmiermittel der herrschenden Wirtschaft. Ohne Wachstum würden all die Großunternehmen und Konzerne im globalen Wettbewerb untergehen – und das wäre gut so!

Sehr sympathisch finde ich eure Orientierung auf die Donut Ökonomie nach Kate Raworth, die Einhaltung sozialer Mindeststandards und planetarer Grenzen. Es geht um das gute Leben für alle – wirklich alle! – überall. Wenn es euch gelänge, das den Berliner:innen nahezubringen, wäre das schon ein großer Erfolg. Immerhin habt ihr es ja geschafft, dass das Abgeordnetenhaus vorgestern einen Klima-Bürger:innenrat beschlossen hat.

Bürger:innenbeteiligung und Demokratisierung

Für eine radikale Neuorientierung auf Klimagerechtigkeit und auf radikale Menschlichkeit ist die Bürger:innenbeteiligung und Demokratisierung der Berliner Politik für Euch zentral wichtig, das sehe ich ebenso. Prof. Andreas Fisahn (Uni Bielefeld) spricht von „Halbierter Demokratie“ – halbiert deshalb, weil die Demokratisierung der Wirtschaft fehlt. Vielleicht ist Wirtschaftsdemokratie die größte Herausforderung, denn das wird mit der herrschenden Wirtschaft nicht zu machen sein.

Ohnehin sollte es ja meines Erachtens darum gehen, der Wirtschaft den Subjektstatus abzusprechen. „Die Wirtschaft“ gibt es nicht, sie hat keinen eigenen Wert, sondern sie soll den Menschen dienen – ohne die Lebensgrundlagen zu zerstören. Es geht also um die Frage wirtschaftlicher Prozesse, darum, WIE – auf welche Art und Weise – gewirtschaftet wird. Die kapitalistische Marktwirtschaft baut auf Konkurrenz und Wachstum auf, das ist systembedingt und unabhängig vom Wollen einzelner Wirtschaftsakteure.

Eine andere Wirtschaft ohne Wachstum braucht andere Wirtschaftsstrukturen

Eine Wirtschaft ohne Wachstum braucht zuerst einen breiten öffentlichen Sektor der Grundversorgung von allen Berliner:innen mit dem Lebensnotwendigen. Solche öffentlichen Unternehmen sind nicht zentral gelenkte staatliche Unternehmen – die potenziell immer von Privatisierung bedroht sind – sondern es sind Unternehmen, die von den Nutzer:innen ihrer Leistungen gelenkt und kontrolliert werden. Das Sagen haben also diejenigen, die Wohnungen, Strom, Wasser, Mobilität, Gesundheitsversorgung und Lebensmittel benötigen. Ein schönes Beispiel dafür ist das kalifornische Elektrizitätsunternehmen SMUD. Aktuell wird ein solcher Wirtschaftsbereich unter dem Begriff „Foundational Economy“ diskutiert.

Daneben wird in einer zukünftigen Ökonomie ein genossenschaftlich organisierter Wirtschaftssektor eine wichtige Rolle spielen. Ansätze dazu gibt es schon heute schon weltweit. Die Arbeitenden schließen sich in demokratisch selbstverwalteten Organisationsformen zusammen oder übernehmen bestehende Betriebe in Selbstverwaltung. In diesen ist ihre Würde – die Würde der Arbeitenden und die Würde ihrer Arbeit – gewährleistet. Solche Unternehmungen haben das Potenzial Entfremdungen, die aus entwürdigenden Ausbeutungsstrukturen resultieren, zu überwinden.

Und schließlich wird es als dritten Bereich weiterhin Kleinunternehmen, Selbstständige und Freiberufler:innen geben, die kreativ und oft gut vernetzt einen Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung leisten.

Berlin ist keine Insel

Eine Transformation der Ökonomie und eine regionale Grundversorgung mit Lebensmittel, Energie etc. kann Berlin jedoch nicht alleine organisieren. Die Stadt ist keine Insel. Eine andere Wirtschaft braucht eine gemeinsame Versorgungsregion Berlin-Brandenburg, nicht Standortpflege und globalen Wettbewerb, wofür die aktuelle Berliner Wirtschaftspolitik steht.

Die notwendige faktische (nicht nur diskursive) Abkehr vom Wachstum wird sich nur gemeinsam mit den Berliner:innen und Brandenburger:innen erreichen lassen, nicht gegen sie. Also kein Top-Down-Notstand mit autoritären Zwangsmaßnahmen, sondern ein demokratischer Prozess mit zunehmender Selbstermächtigung der Bevölkerung. Solche Prozesse werden konflikthaft verlaufen, insofern führt meines Erachtens der Begriff „Gemeinwohl“ in die Irre, denn er ignoriert, dass es Interessengegensätze gibt.

Hütet euch vor Grünen Lügen

„Klimaneutralität“ oder sogar „klimapositiv“ klingt so schön, aber es ist viel zu oft nur Greenwashing. Da entstehen neue profitable Geschäftsbereiche mit Kompensationszahlungen und Zertifikatehandel, mit Ausgleichsmaßnahmen (zum Beispiel Baumpflanzungen) über die Interessen der ansässigen Bevölkerungen hinweg, Produkte werden mit vermeintlich nachhaltigem Palmöl produziert. Ganz besonders warnen möchte ich vor dem Irrweg der Digitalisierung. Damit wird das Recht auf Weltzerstörung zur käuflichen Ware.

Traut keinen schönen Worten. Ich empfehle Euch die großartige Autorin Kathrin Hartmann, die all dies in „Die Grüne Lüge(das gibt es auch als Film von Werner Bothe) und in anderen Büchern beschrieben hat. Und ich empfehle Euch Eva Rechsteiner vom Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg. In ihrem Artikel Klimaneutralität gibt es nur auf dem Papierwarnt sie auch vor einem verengten Blick und davor, „dass Treibhausgase Priorität haben vor Biodiversität, sauberer Luft und Wasser, Lärmschutz und Gesundheit. Andere Indikatoren wie Geschlechtergerechtigkeit und Ressourcenschonung werden zu ‚co-benefits‘ heruntergestuft.

Ergänzen möchte ich die Warnungen um die Gefahren der Militarisierung. Die Menschheit ist nicht nur vom Klimawandel bedroht, sondern ebenso durch Kriege. Nach Angaben des Instituts SIPRI sind die globalen Militärausgaben so hoch wie seit 1988 nicht mehr.

2020 gab es weltweit 29 Kriege und bewaffnete Konflikte, ermittelte die Universität Hamburg. Es ist weniger eine Frage, ob es – angesichts der Klimakatastrophe – verstärkt Kriege um Ressourcen geben wird, als vielmehr wann und wo sie geführt werden.

Und hütet Euch vor falschen Freunden

Klimagerechtigkeit ist eine globale Frage und Berlin ist eingebunden in globale Machtstrukturen. So berät beispielsweise ausgerechnet der Finanzinvestor Blackrock die Europäische Kommission in Fragen der Nachhaltigkeit. Das Weltwirtschaftsforum (das bisher in Davos tagte) hat einen „Great Reset“ ausgerufen, einen Neustart der Wirtschaft mit grünem Mäntelchen. Mit „Global Governance“ und „Multistakeholderism“ soll die Macht der Konzerne gestärkt werden, unter dem Deckmäntelchen des Klimaschutzes.

Mit einem bereits unterzeichneten Partnerschaftsabkommen zwischen dem Weltwirtschaftsforum und den Vereinten Nationen (UN) soll dieser Einfluss nun auch auf die globale Organisation ausgedehnt werden, deren Rolle es eigentlich wäre, der Konzernmacht etwas entgegen zu setzen, im Sinne von echtem Klimaschutz und Menschlichkeit. Mit dieser Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (Public Private Partnership) werden demokratische Eingriffsmöglichkeiten der Staaten abgeschafft. Namhafte NGOs haben auf Initiative des Transnational Institute (TNI) einen Offenen Brief an UN Generalsekretär António Guterres verfasst, in dem sie vor der Zerstörung des UN-Systems durch privatwirtschaftliche Interessen warnen. Aber die Welt nimmt es kaum zur Kenntnis.

Ebenso gefährlich ist CETA, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, das eigentlich ein Investitionsschutzabkommen ist. Wenn es wirksam würde, wäre keine soziale oder ökologische Einhegung der Wirtschaft mehr möglich. Jedes Unternehmen mit Sitz in Kanada kann dann vor einem privatem Schiedsgericht dagegen klagen. Das würde eine Entmachtung der Parlamente bedeuten.

In Deutschland steht die (gemeinnützige) Bertelsmann Stiftung für solche Politiken von Entdemokratisierung und Konzernmacht. Der mächtige Politikflüsterer propagiert mit fast schon religiösem Eifer die Effizienz von Verwaltungen und einen schlankem Staat. Die Folge ist ein Kompetenzverlust der öffentlichen Hand, woraus privatwirtschaftliche Politikberatung und Privatisierungen folgen. Aktuelle Auswirkungen: In Deutschland wurden 2020, in der Corona-Pandemie, 20 Krankenhäuser geschlossen.

Es kommt auf die Richtung politischen Handelns an

Achtet darauf, wen Euer politisches Handeln betrifft. Seid hart und unerbittlich gegen Großunternehmen und Konzerne, aber nie gegen „die da unten“. Werdet keine intellektuelle Mittelschichtspartei. Es geht um Privilegien und Diskriminierungen, und es geht auch um ökonomische Benachteiligungen und Spaltungen. Vergesst nicht die Klassenfrage!

Die Abschaffung der Pendlerpauschale benachteiligt zum Beispiel Geringverdienende. Baut doch besser den Öffentlichen Nahverkehr aus. Ihr wollt mehr mobile Arbeitsplätze und dafür die Büros abschaffen? Der Arbeitsplatz ist aber auch ein sozialer Ort der Zusammenkunft. Wenn die Körper im Digitalen verschwinden – wie soll sich dann noch realer Widerstand organisieren, nicht in virtuellen Welten, sondern „auf der Straße“, wo Ihr doch auch kämpfen wollt?

Und dann die Steuern. Steuern sind dafür da, einen sozialen Ausgleich zu schaffen und so weit wie möglich finanzielle Umverteilung. Dafür sind Einkommen- und Körperschaftsteuern da. Verbrauchs- und Ökosteuern bedeuten demgegenüber, dass vor allem der Konsum verteuert wird. Das trifft vor allem Ärmere. Die Zerstörung der Umwelt darf aber nicht käuflich sein für diejenigen, sie sich das leisten können, sondern was schädlich ist, muss verboten werden. Eine ökologische Regulierung über den Markt führt in die Irre.

Vorsicht vor Paternalismus und gut gemeinten Top-Down-Wohltaten

Ihr wollt marginalisierte Menschen empowern und ermächtigen? Das können sie selbst besser. Baut lieber Benachteiligungen und Repression ab und stellt den Betroffenen Ressourcen zur Verfügung. Gebt ihnen Räume, Geld und Wertschätzung, dann können sie sich selbst helfen.

Und wenn Ihr ins Parlament kommt ...

... dann lernt von anderen. Nicht nur von Amsterdam, sondern vielleicht auch von Barcelona. Dort haben sie in großem Maße solidarisches Wirtschaften und Genossenschaften gefördert. Die Bewegungspartei Barcelona en Comú verfolgt eine „Feminisierung von Politikund erprobt andere Politikformen. Ganz wichtig ist dabei die Einhegung von (patriarchaler) Macht, vor allem durch eine Begrenzung von Gehältern. Alle, die ein politisches Amt haben – selbst die Bürgermeisterin Ada Colau – bekommt einen Einheitslohn von 2.100 Euro im Monat. So ist sichergestellt, dass nur diejenigen in die Politik gehen, die das wirklich aus politischen Gründen machen möchten und nicht wegen dem Geld.

Auch die Begrenzung der Amtszeit von Politiker:innen ist wichtig, denn das jahre- oder sogar jahrzehntelange Kleben an der Macht kann sehr verlockend sein, aber wer die Zeit nur im Parlament verbringt, verliert irgendwann den Kontakt zur Realität. Die Grünen hatten das in ihrer Anfangszeit auch mal festgelegt, alle Ämter sollten rotieren. Aber wenn solche Regeln ernst gemeint sind, dann müssen sie so festgezurrt werden, dass sie nicht mehr veränderbar sind.

Zu guter Letzt

Bleibt aufmüpfig und gebt Euch nie mit schönen Worten zufrieden!

Danke an Euch, dass Ihr – vor allem die nachfolgenden Generationen – versuchen möchtet, das Ruder der patriarchalen und profitgetriebenen Weltzerstörung herumzureißen, was mir und meiner Generation trotz bestem Wollen leider nicht gelungen ist.

In diesem Sinne: Alles Gute für Euch!

Das Video vom Parteitag der Berliner Klimaliste steht bei youtube online, meine Rede beginnt bei 5:38:25

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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