Der große Mietstreik

Utopien für das Jahr 2048 Visionen für eine Welt von morgen als Ermutigung für die Alltagskämpfe heute (Teil 7).

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Bisher erschienen:

Teil 1: Wie wollen wir* wirtschaften?

Teil 2: Wie wollen wir* arbeiten?

Teil 3: Wie fing das damals an?

Teil 4: Die Rückkehr des Virus

Teil 5: Nur nicht aufgeben

Teil 6: Der Wind der Veränderung

Hier geht es weiter:

Der Volksentscheid wird verschleppt

Die Beliebtheit der Berliner Landesregierung, die erst vor kurzem gewählt worden war, sank in den Keller. Soziale Spaltung und solidarische Selbstorganisationen hatten einen Höhepunkt erreicht. Die Verhandlungen um den erfolgreichen Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ stagnierten, obwohl ihn fast eine Million Berliner*innen unterschrieben hatten. Sie forderten vom Senat, alle Maßnahmen einzuleiten die erforderlich seien, um Immobilien gewinnorientierter Unternehmen zum Zweck der Vergesellschaftung in Gemeineigentum zu überführen. Aber das war offensichtlich politisch nicht gewollt.

Währenddessen spitzte sich die Wohnungskrise zu, denn immer weniger Mieter*innen waren in der Lage, ihre Miete zu bezahlen. In jedem Bezirk gab es mittlerweile entschlossenen Initiativen zur Verhinderung von Zwangsräumungen, die jedoch durch die Ausgangsbeschränkungen kaum etwas ausrichten konnten. Und so entstand die Idee des Mietstreiks. Denn wenn alle, oder zumindest sehr viele Mieter*innen nicht mehr bezahlen würden, dann wären Zwangsräumungen nicht mehr durchsetzbar. Die Polizei könnte ja nicht die halbe Stadt räumen. Viele hatten Angst, und es brauchte längere Diskussionen und Auffangstrukturen. Doch dann begann der Mietstreik.

Mietstreik auch bei öffentlichen Unternehmen und Genossenschaften

Statt erst zu reagieren, wenn ihnen die Räumung drohte, traten innerhalb weniger Tage mehrere Tausend Berliner*innen in den Mietstreik. Wer konnte, zahlte auf ein Treuhandkonto, aber alle gemeinsam sagten laut und deutlich: "Wohnen ist ein Menschenrecht, wir zahlen nicht für eure Profite". Angesichts der Entschlossenheit der Mieter*innen brachen in kürzester Zeit die Börsenkurse der Immobilienunternehmen ein. Kleine Wohnungsunternehmen oder private Vermieter*innen erließen Mietschulden gegen das Versprechen, dass die Mieter*innen zahlen würden was sie können, und waren froh, wenn sie überhaupt noch Geld bekamen.

Auch öffentliche Wohnungsunternehmen und Genossenschaften waren betroffen. Zwar hatten Genossenschaften den Ruf, im Sinne ihrer Mitglieder zu wirtschaften, und bei vielen waren die Mieten – die bei Genossenschaften Nutzungsentgelte heißen – immerhin günstiger als am „freien“ Wohnungsmarkt. Aber die Geschäftsberichte strotzten oft nur so von Marktorientierung, wenn die Vorstände sich für Überschüsse und Wettbewerbsfähigkeit lobten. Aber mit wem mussten sie denn konkurrieren? Fast alle Genossenschaften hatten lange Wartelisten von wohnungssuchenden Mitgliedern. Und wenn am Jahresende fette Gewinne ausgewiesen wurden, dann bewies dies doch vor allem, dass es auch diesen vermeintlich gemeinwirtschaftlichen Unternehmen nicht in erster Linie um die Versorgung ihrer Mitglieder und um reine Kostendeckung ging, sondern dass finanzielle Ziele im Vordergrund standen.

Oft lag das wohl daran, dass Vorstände und Aufsichtsräte kein wirkliches Verständnis des Genossenschaftsgedankens hatten, sondern aus der gewinnorientierten Immobilienwirtschaft kamen. So strikt, wie die meisten ihre eigene Vergütung geheim hielten, drängte sich zusätzlich jedoch der Verdacht auf, dass einige durch überhöhte Gehälter und Sitzungsgelder auch selbst davon profitierten, vielleicht auch den Unternehmen von Freund*innen lukrative Aufträge zukommen ließen, oder sich am Ende ihrer Dienstzeit mit fünf- oder gar sechsstelligen Abfindungen in den Ruhestand begaben – also all das, was in der Profitwirtschaft üblich, mit dem Genossenschaftsgedanken jedoch unvereinbar war.

Bei den verbliebenen sechs öffentlichen Wohnungsunternehmen sah es nicht besser aus. Zur Zeit der früheren rot-rot-grünen Landesregierung hatte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung regelmäßig eingreifen müssen, um Mieter*innen vor unangemessenen Mieterhöhungen zu schützen. Die neue Landesregierung bemühte sich nicht einmal mehr, ihre eigenen Unternehmen auf mieter*innenfreundlichere Politiken zu verpflichten. Um die demokratischen Rechte der Bewohner*innen stand es sowohl bei den Genossenschaften als auch bei den öffentlichen Unternehmen nicht zum Besten. Die Mieterräte und -beiräte der Öffentlichen wurden systematisch ausgebremst, die Genossenschaftsmitglieder hatten meist sowieso nichts zu melden, zumindest in den großen alten Genossenschaften.

Der Anfang von Ende der patriarchalen Herrschaft?

Aber nun schien das Ende der patriarchalen Herrschaft gekommen. Genossenschafter*innen hatten protestiert, als die Vorstände ihrer Genossenschaften gegen den Mietendeckel vorgingen, ja manche sogar vor Gericht zogen, wie die privaten Immobilienhaie. Die Verfahren zogen sich in die Länge, noch galt der Mietendeckel auch unter der neuen Landesregierung. Aber auch die gedeckelten Mieten waren für viele viel zu teuer. So schlossen sich die meisten dem Mietstreik nicht zuerst aus einem politischem Aufbegehren heraus an, sondern aus purer Not. Aber selbst diejenigen, die bislang noch ein gewissen Einverständnis mit den herrschenden Verhältnissen gepflegt hatten und glaubten, dass sie selbst an ihrer Misere schuld seien, erkannten im gemeinsamen Handeln schnell, dass die Ungerechtigkeit im System verankert war und dass sie nichts für ihre Armut konnten.

Gesellschaftliche Veränderungsprozesse sind oft mühsam und langwierig, aber manchmal geht es dann auch plötzlich ganz schnell. Der Fall der Mauer war so ein Beispiel eines plötzlichen Ereignisses – das leider nicht zu einer emanzipatorischen Transformation, sondern zum Ausverkauf und zur Privatisierung des Staats- und Volkseigentums der damaligen DDR führte. Von heute, aus dem Jahr 2048 betrachtet, kann rückblickend gesagt werden, dass der Mietstreik ein Meilenstein war, nicht nur in Berlin. Denn er fand fast zeitgleich weltweit in vielen Städten statt. Die Mieter*innenbewegung hatte sich seit einigen Jahren gut vernetzt, „Recht auf Stadt“ und „Fearless Cities“ waren globale Bewegungen, die das Recht auf Profit aus der Vermietung von Wohnraum grundsätzlich in Frage stellten. Sie waren immer mehr zusammen gerückt mit den „Solidarity City“-Initiativen, die nicht nur gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle forderten, sondern immer wieder auch konkrete Projekte und Strukturen gemeinsam mit Migrant*innen aufgebaut hatten.

Fortsetzung ...

Eine Einführung in die Wünsche, Träume und Visionen habe ich am 1. Januar 2021 veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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