Der revolutionäre Herbst 2023

Utopien für das Jahr 2048 Visionen für eine Welt von morgen als Ermutigung für die Alltagskämpfe heute (Teil 12).

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Bisher erschienen:

Teil 1: Wie wollen wir* wirtschaften?

Teil 2: Wie wollen wir* arbeiten?

Teil 3: Wie fing das damals an?

Teil 4: Die Rückkehr des Virus

Teil 5: Nur nicht aufgeben

Teil 6: Der Wind der Veränderung

Teil 7: Der große Mietstreik

Teil 8: Eine vorrevolutionäre Situation

Teil 9: Das Alte verabschiedet sich langsam

Teil 10: Die großen Versammlungen

Teil 11: Eine Doppelstrategie: Bewegung und Parlament

Hier geht es weiter:

Mit den Neuwahlen verschwindet das Alte

Im Herbst 2023 war es endlich so weit, ein neues Abgeordnetenhaus war gewählt, nachdem der alte Senat nach weniger als zwei Jahren wegen mehrerer Korruptionsfälle zurückgetreten war und Neuwahlen angekündigt hatte. Er hatte den mit großem Erfolg gewonnenen Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen!“ am ausgestreckten Arm verhungern lassen und eine bürokratische Finesse nach der anderen vorgeschoben, um die Enteignung von Deutsche Wohnen, Vonovia etc. hinauszuschieben. Ob es die Angst vor rechtlichen Schritten war, weil die Entschädigung zu einem niedrigeren als dem Marktpreis erfolgen sollte, oder ob bei dem ein oder anderen in der Verwaltung auch die Hoffnung auf eine Karriere in der Immobilienwirtschaft dahinter steckte, wurde nie endgültig aufgeklärt, weil es nach diesem revolutionären Herbst überhaupt keine Entschädigungen mehr gab und solche Karriereträume sich auf Nimmerwiedersehen in Luft auflösten.

Die Bürgermeisterin-Bewegung – die im Jahr der großen Unruhen nach der Pandemie plötzlich aufgetaucht war mit ihrem Slogan "Könnt ihr das hören? Es ist der Klang ihrer Welt, die zusammenbricht. Es ist die unsere, die wiederkehrt. ¡Venceremos!" – hatte sich nach vielen Diskussionen entschieden, ergänzend zur Bewegung eine Partei zu gründen. Wahrscheinlich hatte vor allem die praktische Solidaritätsarbeit in den Nachbarschaften zu ihrem Wahlerfolg beigetragen. Die Leute kannten die zukünftigen Politiker*innen persönlich, hatten mit ihnen gemeinsam Lebensmittel und Kleidung verteilt, Zwangsräumungen verhindert und stadtpolitische Fragen diskutiert. „Die sind von uns“ war ein oft gehörter Satz.

Auch der phantasievolle Wahlkampf hatte viele Herzen geöffnet, wenn die Aktivist*innen mit ihren bunt angemalten Gruppen-Fahrradmobilen durch die Stadt fuhren, dabei die Bewegungshymne „Sich fügen heißt lügen!“ abspielten und auch Leute mitnahmen, die schwere Sachen zu tragen hatten oder nicht gut laufen konnten. Bei ihren Kundgebungen mit offenem Mikrofon gingen sie freundlich und geduldig auf alle Fragen und Wortmeldungen ein, speisten die Leute nicht mit leeren Versprechungen ab, sondern erklärten genau, was sie wie ändern würden, wenn sie gewählt wären. Wenn sie es nicht genau wussten, dann sagten sie das auch und beratschlagten sogleich gemeinsam, wie das jeweilige Anliegen umgesetzt werden könnte. Es war erstaunlich, wie genau viele Leute aus eigener Betroffenheit nicht nur wussten, was falsch lief, sondern auch gut durchdachte Vorschläge hatten, wie es verbessert werden könnte.

Kollektiv Regieren

Die Wahlbeteiligung war bescheiden gewesen, weil viele nach den Korruptionsskandalen nicht wussten, wem sie noch trauen und wen sie wählen sollten. Die bürgerlichen Parteien waren die großen Verlierer. Die Bürgermeisterin-Bewegung hatte sich nach einem öffentlichen Diskussionsaufruf zur Namensfindung für die neue Partei entschieden, diese „Berlin gemeinsam“ zu nennen. Sie gewannen mehr als ein Drittel der Stimmen, was für eine neue Partei sensationell war. Gemeinsam mit den progressiven Kräften hatten sie eine satte Mehrheit im Parlament, die ihnen viel Gestaltungsmacht gab. Bis zum Ende des Parlamentarismus bezeichneten sich ihre Abgeordneten als Bürgermeisterin-Fraktion, was nun sogar stimmte, denn dieser Posten stand ihnen jetzt offiziell zu – womit zu Beginn der Bewegung keine*r von ihnen gerechnet hätte.

Im offiziellen Politikprotokoll gab es einige Verwerfungen, weil sich „Berlin gemeinsam“ strikt weigerte, eine einzelne Person als Regierende*n Bürgermeister*in zu benennen. „Bürgermeisterin“ sollte ja ausdrücken, dass es alle Berliner*innen waren, nicht eine besonders hervorgehobene Person, ja nicht einmal nur die Bewegung oder ihre Partei, sondern alle. So wie der ursprüngliche Sinn des Namens gedacht war, sollte nun auch die Regierende-Position stellvertretend für „alle“ bekleidet werden, um diese „alle“ zu repräsentieren. Um diese Auffassung gab es durchaus kritische Diskussionen und Nachfragen, ob nicht mit „alle“ auch Leute einverleibt würden, ohne gefragt zu werden, oder ob Interessengegensätze unsichtbar gemacht würden. So könnten doch nicht gleichzeitig mit dem Versuch, soziale Rechte für alle herzustellen, auch Unternehmer- und Manager*innen oder gar gewalttätige Rechte bedacht werden. Dem hielten die Verfechter*innen des Namens entgegen, dass mit „alle“ ausschließlich Personen gemeint seien, und dass letztlich jede*r darin eingeschlossen sei, denn auch diejenigen, die bisher zu viel Macht hatten oder sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sollten ein gutes Leben haben dürfen, ebenso wie alle anderen und im Rahmen dessen, was für alle da war. Gegner*innen seien Strukturen und das kapitalistische System, es sollten keine Feindbilder durch Personalisierungen produzieren werden. Schließlich habe die deutsche Geschichte gezeigt, wohin das führen könne. Trotz dieser Differenzen, die nie endgültig beigelegt wurden, gelang es doch, eine stabile Berliner Regierung zu bilden. Der Regierende-Posten wurde mit drei Delegierten besetzt, die mit einem imperativen Mandat versehen waren.

Das Immobilienwunder von Berlin

Eine der ersten Handlungen der neuen Landesregierung sollte es sein, den Volksentscheid umzusetzen. Der Mietstreik dauerte bereits seit Monaten an, und hatte sich nach der Wahl explosionsartig vervielfacht. Die Polizei wurde angewiesen, sämtliche Zwangsräumungen einzustellen und keine Abschiebungen mehr durchzuführen. Immer mehr Stimmen wurden laut, dass es nun genug sei mit der Ausbeutung der Mieter*innen, dass die Konzerne längst genug verdient hätten und ihnen gar keine Entschädigung zustünde. Die Landesregierung zögerte noch mit diesem Schritt, da geschah das Immobilienwunder von Berlin. Einer nach dem anderen gaben die Immobilienkonzerne ihre Häuser in Berlin einfach auf. Die Bewirtschaftung lohnte sich für sie einfach nicht mehr.

Die Konzerne hinterließen viele Gebäude in schlechtem Zustand, andere jedoch auch luxussaniert, viele hatten Rechnungen von Handwerks- und Versorgungsunternehmen schon länger nicht mehr bezahlt. Einige Hausgemeinschaften hatten bereits selbst die Verantwortung übernommen und sich zumindest um die notwendigsten Reparaturen gekümmert. Nun rief der Berliner Senat eine Bodenreform aus. Ab sofort war die gesamte Fläche der Stadt in öffentlicher Hand, es gab überhaupt keine privaten Grundstücke mehr. Für diejenigen, die selbst in ihren Häusern oder Eigentumswohnungen lebten, machte das keinen Unterschied. Nur wer verkaufte, bekam weniger Geld, weil die spekulativ überhöhten Grundstückspreise wegfielen. Es dauerte allerdings nicht lange, dass ähnliche Bodenreformen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa durchgeführt wurden. Die Kaufpreise für Häuser wurden auch an anderen Orten wieder moderat.

Die verlassenen Mietshäuser der großen Wohnungsunternehmen in Berlin wurden dem neu gegründeten Wohnwerk übertragen. Dieses öffentliche Unternehmen war in Bezirkssparten aufgeteilt, die jeweils von den Mieter*innen, gemeinsam mit Nachbar*innen und Vertreter*innen der Bezirksverwaltung, geführt wurden. Das Wohnwerk hatte einen klaren Versorgungsauftrag für die Mieter*innen von Wohnungen und die Kleingewerbetreibenden und Projekte, die für eine gute Wohnumgebung nötig waren.

Die Demokratisierung der Genossenschaften

Kleinere Wohnungsunternehmen und private Eigentümer*innen hatten sich teilweise bereits während der Krise mit den Mieter*innen auf eine gemeinsame Verwaltung verständigt. Andere überließen die Häuser den Bewohner*innen, die sich in genossenschaftlicher Form organisierten, zu nun sehr moderaten Preisen. Einige große Genossenschaften, die schon gegen den Mietendeckel und gegen das Volksbegehren gewesen waren, ätzten jetzt auch gegen die Bodenreform. Andere erinnerten sie daran, dass Genossenschaftswesen und bodenreformerische Ideen gemeinsame Ursprünge hatten und waren hocherfreut über den großen Schub, den das Genossenschaftswesen nun bekam.

Immer mehr Genossenschaftsmitglieder kritisierten ihre Vorstände und bekundeten laut und deutlich ihre Zustimmung zur Bodenreform. Sie beriefen außerordentliche Versammlungen ein und wählten neue Aufsichtsräte mit dem klaren Auftrag, den Vorstand auszutauschen. In anderen Genossenschaften traten die Vorstände selbst zurück und machten Platz für echte Selbstverwaltung von Mitgliedern.

Plötzlich waren die landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWUs) so etwas wie die Dinosaurier am Wohnungsmarkt. Autoritär geführte und nach Gewinnerzielungsgrundsätzen wirtschaftende Unternehmen, die aufgrund ihrer Rechtsform als GmbH oder Aktiengesellschaft nur schwer kontrollierbar waren. Das Abgeordnetenhaus stattete die Mieter*innen-Räte und Beiräte mit deutlich mehr Kompetenzen aus und übertrug auch der Kontrollgesellschaft „Wohnraumversorgung Berlin“ echte Steuerungsbefugnisse. Als der Senat auch die Leitung dieser Gesellschaft neu besetzt hatte, verließen einige Manager*innen freiwillig ihren Posten, andere wurden sanft gedrängt, so dass nun auch für die Mieter*innen der LWUs bessere Zeiten anbrachen.

Kämpferisch und globalsolidarisch

Berlin war mit all diesen Entwicklungen nicht alleine. Ähnliche Veränderungen vollzogen sich in anderen Städten der Bundesrepublik, aber auch in vielen anderen Ländern. Initiativen und Netzwerke weltweit bewegten sich zwischen munizipalistischer Kooperation mit progressiven Stadtregierungen und entschlossenen Kämpfen gegen neoliberale Umstrukturierungen. Sie tauschten gute und weniger gute Erfahrungen aus und entwickelten Strategien für „Fearless Cities“, wie sie in Barcelona mit der Bürgermeisterin Ada Colau und auch in anderen Städten in Spanien und anderen Ländern umgesetzt wurden. Ein Leben ohne Angst für alle war gleichbedeutend mit einer klaren antirassistischen Ausrichtung und einer „Feminisierung der Politik“. Progressive Stadtregierungen erprobten neue Eigentums- und Bewirtschaftungsformen für Immobilien, die aus den Erfahrungen selbstverwalteter Projekte und Community Land Trusts schöpfen konnten, und längst die kuscheligen, oft auch ein wenig mittelschichtigen Nischen verlassen hatten und neue, real zugänglichere Formen der gemeinschaftlichen Gestaltung von Wohnen und Nachbarschaft „für alle“ entwickelt hatten.

Fortsetzung ...

Eine Einführung in die Wünsche, Träume und Visionen habe ich am 1. Januar 2021 veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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