Eine Doppelstrategie: Bewegung und Parlament

Utopien für das Jahr 2048 Visionen für eine Welt von morgen als Ermutigung für die Alltagskämpfe heute (Teil 11).

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bisher erschienen:

Teil 1: Wie wollen wir* wirtschaften?

Teil 2: Wie wollen wir* arbeiten?

Teil 3: Wie fing das damals an?

Teil 4: Die Rückkehr des Virus

Teil 5: Nur nicht aufgeben

Teil 6: Der Wind der Veränderung

Teil 7: Der große Mietstreik

Teil 8: Eine vorrevolutionäre Situation

Teil 9: Das Alte verabschiedet sich langsam

Teil 10: Die großen Versammlungen

Hier geht es weiter:

Die Bewegung ist das Wichtigste

In den vielen Versammlungen kristallisierte sich eine Strategie heraus: Das Wichtigste war die Bewegung. An der Basis sollten weiterhin alle Entscheidungen getroffen werden, von denen, die jeweils direkt betroffen waren. Dafür würde das Rätesystem ausgeweitet werden, damit jede Nachbarschaft und jeder Betrieb, jede Institution und auch jede soziale Gruppe, die sich für ihre jeweiligen Interessen organisieren wollte – beispielsweise Frauen oder Migrant*innen, Jugendliche oder Senior*innen – eine eigene Beratschlagungs- und Entscheidungsstruktur hätte. Viele Aktivist*innen erklärten sich bereit, diese Räte beim Aufbau zu unterstützen. Für die Koordination auf höheren Ebenen der Bezirke und der ganzen Stadt würden entsprechende Ratsstrukturen geschaffen. Das funktionierte wie ein Schneeballsystem, sobald sich ein Rat konstituiert hatte, schwärmten einige Ratsmitglieder aus, um mit ihren frisch gewonnenen Erfahrungen die nächsten Gruppen zu unterstützen.

Vor allem in den Betrieben übernahmen die Räte gewerkschaftliche Funktionen, teils in Kooperation mit den bestehenden Gewerkschaften, wenn diese offen waren für Neuerungen, teils aber auch im offenen Konflikt mit diesen. Das Ziel war die Übernahme von immer mehr Entscheidungsmacht über die Arbeitsverhältnisse, aber auch über die Produktion insgesamt und schlussendlich die Überführung der Betriebe in die Hand der Belegschaften. Die Transformation der Unternehmen war ein langwieriger Prozess, der je nach Branche, Größe und Eigentumsstruktur eines Betriebes sehr unterschiedlich verlaufen konnte. Heute, im Jahr 2048, hat sich ein gut funktionierendes Rätesystem etabliert.

Von Barcelona und Amsterdam lernen, Chiapas und Rojava mitdenken

Neben der Organisierung in Räten sollte der Hebel, um auch in der größeren Politik etwas zu bewegen, die Beteiligung an den Wahlen sein. Das lag auch deshalb nahe, weil es innerhalb der Bewegung eine zunehmende Bereitschaft gab, „die Rathäuser zu stürmen“, wie es einige in Anlehnung an die munizipalistischen Bewegungen in Spanien formulierten. Die hatten zwar nach anfänglicher Begeisterung ein wenig von ihrem Glanz verloren, aber gleichzeitig waren sie sehr beständig in ihrer grundsätzlichen feministischen und antirassistischen Ausrichtung auf eine „Fearless City“, eine angstfreie Stadt für alle. Als vorbildlich galt auch die kontinuierliche Unterstützung genossenschaftlichen solidarischen Wirtschaftens, vor allem in Barcelona, während bisherige Versuche in Berlin recht halbherzig gewesen waren und mit minimalem Budget enttäuscht hatten.

Von den spanischen Erfahrungen – im Guten wie im Schlechten – lernte die Bewegung sehr viel, und in den Folgejahren kam es zu einem regen Austausch zwischen Aktivist*innen und Politiker*innen aus beiden Ländern. Auch nach Amsterdam gab es viele Kontakte, denn dort sollte die Donut-Ökonomie nach Kate Raworth erprobt werden, woraus ebenfalls vielfältige und durchaus widersprüchliche Erfahrungen gewonnen wurden.

Diejenigen aus der Bewegung, die dem Parlamentarismus sehr kritisch gegenüber standen und sich eher an Chiapas und Rojava orientierten, waren gerade in dieser Entscheidungsphase sehr geschätzte Gesprächspartner*innen, denn nun, wo es ernst wurde, lag es vielen sehr am Herzen, ihre Überlegungen möglichst kritisch zu hinterfragen und zu überlegen, wie die Risiken des Parlamentarismus so weit wie möglich reduziert werden könnten. Sich immer wieder an basisdemokratische Grundsätze rückzubinden war ein Essential der Bewegung.

Auch aus der Bevölkerung gab es großen Zuspruch und die Erwartung, dass aus den immer beliebter werdenden Slogans der Bürgermeisterin nun endlich auch Realpolitik würde – eine revolutionäre Realpolitik selbstverständlich, denn dem gewohnten, viel zu oft machtbesessenen Parlamentarismus vertrauten immer weniger Leute. Es gab eine große Sehnsucht nach einem frischen Wind, einem Wind der Veränderung, der etwas ganz Anderes als das Gewohnte bringen sollte. Aber der kam nicht von außen sondern musste selbst gemacht werden.

Drei Prinzipien zum Schutz vor den Verlockungen der Macht

Die für eine Teilnahme an der Wahl notwendige Parteigründung war für viele ein Graus, und sie ließen sich nur unter der Bedingung darauf ein, dass unumstößlich festgeschrieben würde, dass solche Entwicklungen wie bei den Grünen nicht vorkommen könnten. Um nicht den Verlockungen der Macht zu erliegen, sollte es drei unumstößliche Prinzipien geben:

Erstens: Wer einen politischen Posten bekleidete oder eine Stelle im Zusammenhang mit dem Einzug ins Parlament bekam, entweder als Beschäftigte*r von Abgeordneten, in der Verwaltung oder in einem öffentlichen Unternehmen, unterlag einem Gehaltsdeckel. Es sollte eine Regelarbeitszeit von 30 Stunden gelten. Wenn das für eine Position nicht ausreichte, müssten sich zwei Leute die Arbeit teilen. Für diese 30 Stunden sollte jede*r, unabhängig von der Tätigkeit, ein Nettogehalt von 2.000 Euro bekommen, zusätzlich einen Kinderzuschlag und bei besonderem Bedarf, beispielsweise wegen gesundheitlichen Einschränkungen oder weil andere Angehörige zu betreuen waren, weitere Zuschläge. Alles was darüber hinaus ging (Parlamentarier*innen bekamen offiziell ein Vielfaches) , ebenso wie sämtlich Nebeneinkünfte, müsste in voller Höhe abgegeben werden in einen Fonds.

Aus diesem Fonds würden zunächst die zusätzlich einzurichtenden Stellen bezahlt, und dann auch Arbeitsplätze für die Bezirksverordneten geschaffen werden. Denn deren Tätigkeit galt bisher als Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung. Dabei waren es gerade sie, die am nächsten an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Bevölkerung waren und denen es damit ermöglicht werden sollte, sich in Vollzeit ihren Aufgaben zu widmen. Wenn dann noch Mittel übrig wären, dann sollte über deren Verwendung ein Fonds-Rat aus der Bewegung entscheiden.

Mitarbeiter*innen der Parlamentarier*innen sollten bevorzugt Personen sein, die damals aufgrund rassistischer Wahlgesetze selbst nicht wählbar waren oder noch einmal wählen durften – über solche Ausgrenzung schütteln wir heute entgeistert den Kopf, damals galt das vielen als normal. Aber damals schien es ja auch normal zu sein, dass manche ein Vielfaches von dem „verdienten“, was andere bekamen. In den 2020er Jahre war Ungleichheit mitunter selbst bei denjenigen, die sich politisch anders positionierten, doch noch eine eingeschliffene Gewohnheit, oft durchaus auch zum eigenen Nutzen.

Zweitens: Angemessene Rotation um zu verhindern, dass Leute über Jahre an der Macht kleben bleiben. Denn auch wenn die finanziellen Anreize begrenzt wurden, so könnte doch allein das Bekleiden einer wichtigen Position verführerisch sein. Allerdings sollten erfahrene Leute und Expert*innen auch nicht vorschnell und allein aufgrund formaler Regelungen wegrotiert werden. So sollte der Richtwert bei maximal zwei Legislaturperioden liegen, und nur im Ausnahmefall und auf ausdrücklichen Wunsch aus der Bewegung eine Verlängerung möglich sein. Das Nominierungsrecht der neu zu gründenden Partei sollte ohnehin begrenzt werden, und im Falle der Verlängerung eines Mandats über zwei Wahlperioden hinaus gänzlich ausgeschlossen sein.

Drittens: Einbindung in die Bewegung als letztgültige Legitimation. Das bedeutete konkret, dass Mandate, die bei einer Wahl gewonnen wurden, kein Freibrief für fortan eigenmächtige Entscheidungen waren, sondern dass grundsätzliche Entscheidungen immer mit der Basis der Bewegung – nicht nur mit der Partei – rückzukoppeln seien. Auch im Parlament hätten die Vertreter*innen der Bewegungs-Liste nur ein imperatives Mandat. Um dies zu gewährleisten, würden sowohl Stadtteilversammlungen durchgeführt, als auch das digitale Entscheidungstool Decidim, das auch in Barcelona verwendet wurde, genutzt werden.

Die eigenen Grundsätze beizeiten absichern

Damit sollte deutliche gemacht werden, dass hier nicht eine Clique für sich die Macht beanspruchte, sondern dass die parlamentarischen Mittel quasi als Brückentechnologie so lange genutzt würden, bis sich die Gesellschaft insgesamt mit einem System von Räten steuern könnte und die Nationalstaaten abgeschafft seien. Darum wurden diese drei Prinzipien auch festgeschrieben, indem in den Statuten der Partei, die nun zur Eintragung angemeldet wurde, festgeschrieben war, dass diese Prinzipien nur mit Zustimmung aus der Bewegung verändert werden dürften. Und um nicht irgendwann dem Ruf der Macht zu erliegen und diesen Passus aus dem Statut zu streichen, wurde der ebenfalls mit einer Art Ewigkeitsklausel belegt indem bestimmt wurde, dass diese Festlegung ebenfalls nur mit 90-prozentiger Zustimmung aus der Bewegung veränderbar sei.

So könnten also nur in dem Fall, dass sich wirklich keine*r mehr dafür interessieren würde, was die neue Partei tat, deren Prinzipien umgeworfen werden. Aber dann wäre das auch egal. Dazu kam es jedoch nicht, denn so lange es noch Parlamente gab, blieb die Bewegung dabei und wachte über die gemeinsamen Grundsätze, die nur manchmal minimal abgewandelt, aber nie gänzlich in Frage gestellt wurden.

Fortsetzung ...

Eine Einführung in die Wünsche, Träume und Visionen habe ich am 1. Januar 2021 veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden