Es wird kälter

LeaveNoOneBehind Eine alltägliche Geschichte – aber ich will mich nicht daran gewöhnen.

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Letzte Nacht hat es geschneit, vielleicht wird es doch noch Winter. In den nächsten Tagen sollen die Temperaturen nachts so richtig in den Keller gehen. Es weht ein rauer Wind.

Nachmittags am Kaiser-Wilhelm Platz in Berlin-Schöneberg. Der junge Mann, der dort jeden Tag mit seinem Stofftier sitzt und ein Stück weiter eine Frau, auch in eine Decke eingehüllt. Beide sitzen und hoffen ersichtlich, dass die Passant*innen ihnen Geld geben. Ein Mann redet aggressiv auf die Frau ein und geht. Ich habe nicht verstanden was er gesagt hat, aber seine Geste war eindeutig: Verschwinde – vermutlich ein Security-Mitarbeiter. Ich frage sie, wer das war und was er von ihr wollte. Sie weiß es nicht oder will es nicht wissen. Vielleicht hat sie ihn auch nicht verstanden.

Als ich zurück komme, sitzt sie immer noch da, der junge Mann auch. Aber das Bett ist weg. Das Bett aus mehreren Matratzen, das wochenlang vor der Filiale der Deutschen Bank unter einem Vorsprung des ersten Stockwerks aufgebaut war, fein säuberlich, die Habseligkeiten unter einem Tuch, ein kleiner Tisch, sogar ein Besen. Alles weg. Es stand direkt vor dem Werbeschild im Schaufenster der Bank: „Mieten? Oder kaufen?“ Diese Frage stellt sich für denjenigen, dem dieses Bett gehörte, und auch für viele andere nicht.

In diesem Winter sind so viele Nachtlager auf der Straße wie nie zuvor, überall wo es ein wenig Regenschutz gibt. Ein Stück weiter, vor der ehemaligen Berliner Bank, deren Räume schon lange leer stehen, liegt ein älterer Mann in eine Decke gewickelt auf einer Matratze. Eine junge Frau hockt neben ihm und telefoniert. Ich bleibe stehen, sie fragt mich nach der Adresse. Sie hatte einen Krankenwagen gerufen, weil der Mann Schmerzen hat, und ihnen gesagt es sei in der Hauptstraße. So sieht es auch aus, es ist aber der Kaiser-Wilhelm-Platz. Sie ruft erneut den Notruf an und korrigiert die Adresse.

Zuerst hatte sie es bei der Kältehilfe probiert, aber die hatten sie an die Feuerwehr verwiesen, weil der Mann Schmerzen hat. Der Krankenwagen kommt, zwei junge Männer steigen aus, einer fragt barsch: „Na was hast du denn?“ Der alte Mann setzt sich auf, krümmt sich vor Schmerzen und hält sich die Hand auf den Bauch. „Ach ja, du willst wohl ins Warme“ sagt der Feuerwehrmann. Ich bitte ihn, denn älteren Mann zu siezen, er meint nur, „die“ würden immer so tun als seien sie krank, damit sie ins Warme kommen. „Der kann wohl kein Deutsch“ sagt der zweite Feuerwehrmann. Die junge Frau entgegnet, dass er wohl Russisch spräche.

Dann geht es hin und her, der Ältere möchte die Tüte mit seinen gesammelten Flaschen mitnehmen, muss sie jedoch zurücklassen. Die Tüte hat einen Aufdruck vom Vivantes Krankenhaus, der Feuerwehrmann findet einen Zettel aus dem hervorgeht, dass der Mann erst vor 4 Tagen aus dem Vivantes entlassen wurde.

Zwei Nachbarinnen kommen dazu. Die eine wollte dem Mann eine Decke bringen, „frisch gewaschen“, die andere erzählt, dass sie schon seit 40 Jahren in Deutschland lebt und dass man sich doch um die Armen kümmern müsse. Der ältere Mann läuft schwerfällig, er geht mit zum Feuerwehrauto, kommt nach einer Weile wieder zurück und legt sich auf sein Bett. Die Feuerwehrmänner lassen sich Unterlagen von ihm geben, er war wohl schon in mehreren Krankenhäusern. Endlich geht er doch mit ihnen, seinen Schlafsack und eine Jacke lässt er auf der Matratze liegen.

Es ist kalt in Deutschland.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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