Neue Berliner Freiheit?

Corona-Alltags-Gedanken Seit gestern sind einige Corona-Maßnahmen in Berlin gelockert. Jedoch trüben die Konturen einer neuen Normalität in einem eng formalisierten Regelwerk die Freude.

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Ist das nicht ein schönes Bild? Nachdem die magische Inzidenz es erlaubt, darf die Außengastronomie wieder öffnen. Diese Inzidenz ist zwar fragwürdig, aber sie ist nun mal die gesetzlich festgeschriebene Grundlage von gravierenden Grundrechtseinschränkungen, davon lassen sich doch die Berliner*innen ihre Freude nicht trüben. Die Straßen wirken gleich lebendiger. Fröhliche Menschen sitzen vor gefüllten Tellern und prosten sich zu. Endlich, endlich wieder ein bisschen Normalität.

Na gut, es ist ein bisschen reglementiert: Nur bis zu fünf Leute aus zwei Haushalten dürfen an einem Tisch sitzen. Zusätzlich beliebig viele vollständig Geimpfte und Genesene sowie Kinder bis 14 Jahre. Aber wer gilt als vollständig geimpft oder genesen? Die Suchfunktion auf der Website des Senats hilft nicht weiter. Aber dann finde ich Chatbot Bobby, ein technisches Wunderwerk, das meine Fragen beantworten kann: „Als Nachweis für Geimpfte dient der Impfausweis oder eine durch das Impfzentrum oder die Impfärztin bzw. den Impfarzt ausgestellte Ersatzbescheinigung. Als Nachweis für Genesene dient der positive PCR-Test, der mindestens 28 Tage, aber nicht älter als sechs Monate ist.“

Zwei Klassen von Genesenen

Nicht als Genesene gelten diejenigen, die zwar eine Corona-Infektion hatten, diese aber nicht beizeiten mit einem PCR-Test haben nachweisen lassen. Wer von der Infektion nichts bemerkt hat, oder wer fieberkrank lieber im Bett geblieben ist, als zu einer PCR-Teststelle oder in eine Infektsprechstunde zu gehen, hat Pech gehabt, denn „die infektiöse Zeit beginnt zwei Tage vor Symptombeginn und endet, realistisch betrachtet, vier, fünf Tage nach Symptombeginn“ (Christian Drosten, 01.09.2020, pdf). Keine Chance also, später noch einen positiven PCR-Test zu bekommen.

Zwar kann eine überstandene Infektion oder Erkrankung mit einer Laboruntersuchung auf Antikörper nachgewiesen werden (auf eigene Kosten, im Unterschied zum kostenlosen PCR-Test), aber der Befund „Hinweis auf abgelaufene SARS-CoV-2-Infektion bzw. Z. n. Impfung“ (oder so ähnlich) nützt überhaupt nichts. Wer nur dies vorlegen kann, gilt trotzdem nicht als genesen.

Wer weder eine Impfung noch eine frühere Infektion per PCR-Test nachweisen kann, wird bei den fünf zulässigen Personen am Tisch mitgezählt und muss mit einem Corona-Schnelltest, der nicht älter als 24 Stunden sein darf, nachweisen nicht infektiös zu sein. „Selbsttests werden nur akzeptiert, insofern sie vor Ort unter Aufsicht einer vom Gastwirt beauftragten Person durchgeführt werden.“ (rbb, 21.05.20212). Eine nette Zusatzaufgabe für Kellner*innen, ihren Gästen dabei zuzuschauen, wie sie sich mit einem Teststäbchen in der Nase popeln oder ausspucken.

Zusätzlich ist – wie im letzten Jahr auch – vorgeschrieben, die Kontaktdaten im Café oder Restaurant zu hinterlegen. Ganz schön viel Bürokratie für einmal Pizza essen oder ein Bier trinken gehen. Im Außenbereich wohlgemerkt. Dabei schrieben Aerosolforscher*innen am 11. April 2021 in einem Offenen Brief (pdf): „Die Übertragung der SARS-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist.“

Persönliche medizinische Daten offenlegen?

Aber ist nicht die viel wichtigere Frage, warum überhaupt solche persönlichen medizinischen Details wie Impfnachweis oder PCR-Test vorgelegt, bzw. ein Corona-Schnelltest öffentlich durchgeführt werden muss? Geht das irgendjemand etwas an? Die meisten scheinen sich längst daran gewöhnt zu haben, denn zum Shoppen oder für Friseur*innenbesuche war das schon länger nötig. Nun weitet es sich eben aus. Ein spontaner Alltag, jemand auf der Straße treffen und mal eben einen Kaffee trinken gehen, oder wenn es drängt, mal schnell auf Klo in einem Café, das ist nur möglich, wenn mensch die entsprechenden medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Am besten also jeden Morgen als erstes testen lassen, und dann ganz unbeschwert leben, fast so wie früher? Und was kommt als nächstes?

Den existenzbedrohten Gastronom*innen und ihren Beschäftigten (die auch im Freien der Maskenpflicht unterliegen) sei es gegönnt, dass sie wieder ein bisschen mehr arbeiten dürfen. Aber ob die Beschränkung auf den Außenbereich in diesem Regularien-Korsett für eine auskömmliche wirtschaftliche Perspektive ausreicht? Sogar ins Trinkverhalten greifen bürokratische Regelwerke ein und „erlauben“ den Alkoholausschank nur bis 23 Uhr.

Wenn der Betrieb unter diesen Bedingungen nicht mehr funktioniert, dann werden – zumindest in den angesagten Kiezen – Restaurantketten und globale Gastrokonzerne sicher gerne die Räume und Lizenzen übernehmen.

Schlecht dran sind diejenigen, die sich den Regelwerken nicht unterwerfen und die erforderlichen medizinischen Nachweise nicht führen möchten. Ihnen bleibt nur, durch die neu erwachten Kieze zu flanieren und den anderen, die mit Freuden konsumieren, zuzuschauen. Sie sind ausgeschlossen und nicht zugelassen am fröhlichen Geschehen. Selbst schuld, wer sich dem Impfen oder Testen verweigert, oder?

Neue und alte Ausschlüsse - und Solidarität?

Nicht vergessen werden sollten in all dem allerdings diejenigen, für die solche Erfahrungen des Ausgeschlossenseins schon immer zum Alltag gehören. Für Niedriglöhner*innen und viele Rentner*innen, Hartz IV- und Grundsicherung-Empfänger*innen, Obdachlose oder Illegalisierte, oder für diejenigen, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sogar mit weniger als dem Existenzminimum vorlieb nehmen müssen, stellt sich die Frage eher nicht, ob sie mal eben essen gehen möchten. Da muss jeder Euro zusammengehalten werden, um überhaupt über die Runden zu kommen. Dieser Personenkreis dürfte aufgrund der Corona-Maßnahmen und ihrer Folgewirkungen zunehmen.

Ist es vielleicht gar nicht so falsch, dass nun auch andere mal die Erfahrung des Ausgeschlossenseins machen müssen? Kann das die massenhafte Einübung von Unterordnung ausgleichen? Ist der freiwillige individuelle Selbstausschluss durch die Verweigerung von Impfung oder Test mit dem gesellschaftlich ausgeübten Ausschluss von ökonomisch Armen überhaupt vergleichbar? Und wie wirkt das auf die „Privilegierten“ (welch falsches Wort für diejenigen, die um den Preis der Regelbefolgung zumindest ein paar abgespeckte Konsum-Möglichkeiten zurückbekommen)?

Bergen die neuen staatlich verordneten Spaltungen möglicherweise sogar das Potenzial, entfremdende Konsummuster grundlegend in Frage zu stellen, die ja viel zu oft auf Kosten von Arbeitenden und natürlichen Lebensgrundlagen gelebt werden? Könnten vielleicht daraus sogar neue Solidaritäten erwachsen, oder werden die Gräben eher tiefer und die Schuldzuweisungen unerbittlicher werden?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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