Nur nicht aufgeben

Utopien für das Jahr 2048 Visionen für eine Welt von morgen als Ermutigung für die Alltagskämpfe heute (Teil 5).

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Bisher erschienen:

Teil 1: Wie wollen wir* wirtschaften?

Teil 2: Wie wollen wir* arbeiten?

Teil 3: Wie fing das damals an?

Teil 4: Die Rückkehr des Virus

Hier geht es weiter:

Langsam zunehmende Repression

Die Berliner Politik reagierte anfangs nicht direkt auf diese geheimnisvolle Bürgermeisterin – die nicht die Bürgermeisterin von Berlin war, denn diesen Posten hatte ein Mann inne, die sich aber dennoch öffentlich äußerte – und auf ihren Slogan:

"Könnt ihr das hören?

Es ist der Klang ihrer Welt, die zusammenbricht.

Es ist die unsere, die wiederkehrt.

¡Venceremos!"

Jedoch schienen die Kontrollen im öffentlichen Raum dichter zu werden, und die Repression bei den wenigen öffentlichen Aktionen gegen Zwangsräumungen wurde bedrohlicher. Während die neue Corona-Mutation sich nach wie vor als relativ harmlos darstellte und keine Todesopfer forderte, wurden die Eindämmungsmaßnahmen umso härter durchgesetzt.

Arbeiter*innen beobachten ihre Fabriken

Freigestellte Beschäftigte organisierten als individuelle Spaziergänge getarnte Kontrollgänge zu ihren Fabriken, um sich zu vergewissern, dass die Produktionsanlagen nicht weggeschafft würden. Sie beobachteten beispielsweise bei einem Automobilzulieferer in Mariendorf eine merkwürdige Geschäftigkeit, die nicht zum allgemeinen Shutdown passte. Täglich fuhren LKWs vor, die Betriebstore öffneten sich – durch wen? Wer musste hier trotz allem arbeiteten, obwohl diese Firma nicht auf der seitenlangen Liste der „systemrelevanten Unternehmen“ stand?

Durch das verschlossene Gittertor waren selten Menschen zu sehen, und wenn, dann waren es keine bekannten Kollegen. „Spaziergänger*innen“ unterschiedlicher Herkünfte sprachen sie beim Vorbeigehen wie beiläufig in verschiedenen Sprachen an, und innerhalb kurzer Zeit gelang es ihnen herauszufinden, dass es Kollegen aus einem osteuropäischen Land waren, die für einen Hungerlohn – und doch dankbar, in dieser Zeit überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben – die Fertigungsstraßen abbauen und verladen sollten.

Von den darauf folgenden Strategiedebatten ist wenig überliefert, weil sie streng subversiv stattfanden und nicht dokumentiert wurden. Die Geschichte wurde jedoch in zahlreichen mündlichen Erzählungen weitergegeben. Sicher wurden diese im Laufe der Jahre farbenfroh ausgeschmückt, und die Dabeigewesenen versuchten sich mitunter durch ausgefallene Details in ein ganz besonderes Licht zu rücken. Jedoch entstand aus all diesen Geschichten ein Bild, das auch für folgende Generationen die Fantasie und den Mut der Kolleg*innen für die Geschichtsschreibung festhielt.

Es kommt auf jede*n an

Um die Geschichte zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass Mariendorf ein schwieriges Pflaster war, denn dort war der Grad der solidarischen Organisierung nicht besonders ausgeprägt. Allerdings waren diejenigen, die dort lebten und sich der Widerstandsbewegung angeschlossen hatten, hoch motiviert, wussten sie doch, dass was sie nicht taten, auch andere nicht tun würden. Es kam also auf jede*n Einzelne*n an. Da waren die Tagesmütter, die weiterhin Kinder betreuen durften, damit die Eltern ihren systemrelevanten Tätigkeiten nachgehen konnten, und da waren die Verkäufer*innen in den Supermärkten, die Krankenpfleger*innen und ganz wichtig auch die Beschäftigten in öffentlichen Behörden und Einrichtungen, die viele wichtige Informationen in die Bewegung einspeisen konnten.

Es gab also vielerlei vollkommen legale Wege, auf denen Leute einander begegneten – leibhaftig oder digital – und sich dabei kurz, aber präzise austauschen konnten. Es erstaunt sicher nicht, dass auch die meisten der osteuropäischen Arbeiter der Demontagekolonne schnell bereit waren, sich dem Widerstand anzuschließen, wussten sie doch sehr genau, wer sie brutal ausbeutete und zu wem sie gehörten.

Sich fügen heißt lügen!“

Und so kursierte zuerst in Mariendorf ein neues Flugblatt der Bürgermeisterin mit der klaren Ansage:

„Es reicht!

Habt keine Angst!

Vor dem Virus könnt ihr euch schützen – aber vor dem System?

Befolgt ihre Anordnungen nicht, sondern findet eigene Regeln.

Nur ihr selbst wisst, was zu tun ist.

Die Welt, in der alles zur Ware wird, ist vorbei.

Jetzt geht es endlich um die Menschen.

Organisiert euch und lasst keine*n zurück.

Es reicht!“

Aus den vielfältigen Geschichten ergibt sich eine ungefähre Abfolge der Geschehnisse. So gab es am 1. Mai tagsüber nur eine sehr zahme und symbolische Kundgebung der großteils angepassten Gewerkschaften unter Hochsicherheitsbedingungen am Brandenburger Tor. Historisch weitaus bedeutender waren die abendlichen Kulturveranstaltungen. Da alle Orte der Begegnung, Kinos und Nachbarschaftseinrichtungen geschlossen waren, schauten die Leute überwiegend allein oder in Kleingruppen ein paar Filme an, aber es gab ein gemeinsames Programm und einen organisierten Austausch darüber.

Trotz der Isolation und dem fehlenden Beisammensein, oder vielleicht gerade weil die Sehnsucht nach etwas Anderem umso größer war, beflügelte dieses Kulturprogramm die Aktivist*innen und spornte sie an, sich aktiv auf den Weg in eine andere Welt zu machen, deren Zeit nun endlich gekommen schien. Zu diesem Kulturprogramm gehörten beispielsweise Filme von Ken Loach und die wunderbare Strategie der Schnecke, sowie Konzertmitschnitte von Konstantin Wecker und Isabel Neuenfeldt. Ihre Vertonung von Erich Mühsams „Sich fügen heißt lügen!“ wurde zu einer Art Hymne der Bewegung und es ist überliefert, dass dieses Lied einen ungeheuer motivierenden Einfluss auf die solidarischen Nachbarschaften hatte.

Eine Geschichte von Fantasie und Mut

Von außen betrachtet passierte zunächst nicht viel. Die Produktionsanlagen im Mariendorfer Werk wurden abgebaut, verladen und mit den LKWs weggeschafft. Allerdings kamen sie nie an ihrem Bestimmungsort an. Stattdessen entstand ungefähr auf halber Strecke zwischen Berlin und Frankfurt/Oder in leerstehenden Hallen ein neues Werk.

Dass sich im Osten noch etwas tat, in diesen abgelegenen Ecken jenseits des Speckgürtels, das lag außerhalb der Vorstellungskraft der Obrigkeit. So blieb dieser Neuaufbau Ost – der nicht nur hier, sondern an vielen Orten stattfand – unbeachtet und unbehelligt. Mit den Maschinen aus Mariendorf wurde in der neuen, selbstorganisierten Fabrik kein Zubehör für SUVs mehr produziert wie in Berlin, sondern es wurden mit wenigen technischen Umstellungen Oberleitungsbusse gebaut. Die Vorarbeiten dafür erfolgten zunächst noch subversiv und ohne dass die Staatsmacht etwas davon mitbekam. Jedoch sollte sich dies bald ändern.

Fortsetzung ...

Eine Einführung in die Wünsche, Träume und Visionen habe ich am 1. Januar 2021 veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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