Trotz allem gesund bleiben?

NichtAlleGleich Über krankmachende Ratschläge, Lockdown und Locked-in, sowie fatal selektiven Schutz vor Corona.

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„Ratschläge sind auch Schläge“, hieß es oft nach 1968, zu der Zeit, als Emanzipation – sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Befreiung von Zwängen – ein vieldiskutiertes Thema war. Am 5. April appellierte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) an alle Berliner*innen: „Der Frühling ist da, und das Wetter wird immer besser. Trotzdem bitte ich Sie, bleiben Sie zu Hause und verlassen Sie die Wohnung nur, wenn Sie triftige Gründe haben, einkaufen, zur Arbeit gehen oder zum Arzt gehen.“ Ist das wirklich ein gesundheitsfördernder Rat?

Professor Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, weist immer wieder darauf hin, wie gesundheitsschädigend einige der derzeitigen Maßnahmen sind. So sagte er im Interview mit ZEIT Online am 6. April „dass wir gerade alles tun, was schlecht für unser Immunsystem ist. Wir hängen zu Hause rum und gehen nicht raus in die Sonne. Nur zu viert im Park auf einer Decke zu sitzen, ist schon verboten. Aber auch da schauen wir nicht auf die Fakten. Sars-CoV-2 ist eine Tröpfcheninfektion und keine, die über die Luft übertragen wird.“ An der Virologie Bonn ist Streeck der Nachfolger von Christian Drosten. Er hat die ersten Corona-Fälle in Heinsberg erforscht, mit dem Ergebnis, dass es in den 12 untersuchten Haushalten weder in der Atemluft noch auf den Türklinken von Erkrankten übertragbare Viren gab, wie er in seinem Podcast beim Bayrischen Rundfunk am 17. März berichtete. Nun untersucht Streeck im Ort Gangelt im Kreis Heinsberg eine Stichprobe von 1.000 Personen, um mehr über das Virus und seine Übertragungswege herauszufinden.

Der Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Präventologen und ehemalige Präsident der Berliner Ärztekammer Ellis Huber, wies am 25. März bei Urania Berlin darauf hin, dass Infektionskrankheiten „nicht durch die Segnungen der Medizin, sondern durch die gesellschaftliche Entwicklung gesunder Lebensverhältnisse besiegt“ wurden und zitiert Robert Koch: „Das Bakterium ist nichts, der Wirt ist alles.“ Und er warnt: „Psychosozialer Stress, Ängste, Einsamkeit oder Ausgrenzung schwächen das individuelle und erst recht auch das soziale Immunsystem. Die junge Wissenschaft der Psychoneuroimmunologie belegt, dass Lebenszufriedenheit, möglichst viel positive Gefühle, gute Beziehungen, das Gefühl von Durchblick, Selbstbestimmung, Lebenssinn und Geborgenheit in der Gemeinschaft das Immunsystem stärkt und unsere Abwehrkraft gegen Viren oder Bakterien verbessert.“

Die aktuellen Corona-Politiken sind zumindest in Teilen geeignet, krankmachen zu wirken. Sicher ist es notwendig, Abstand zu halten und andere nicht mit Tröpfchen aus der eigenen Atemluft zu gefährden. Aber gerade gefährdete Lungen brauchen Lüftung durch Bewegung an frischer Luft. Angst lässt den Atem stocken, darum wäre es gerade in diesen schwierigen Zeiten wichtig, Menschen nicht unnötig zu ängstigen.

Gesundheit ist auch eine Klassenfrage

Im März sollte der 25. Kongress „Armut und Gesundheit“ als feierliche Jubiläumsveranstaltung stattfinden – und musste wegen Corona abgesagt werden. Dabei wäre eine Auseinandersetzung mit dem Thema Public Health (Öffentliche Gesundheitspflege) gerade heute wichtig. Denn Krankheiten – auch Infektionskrankheiten – treffen nicht alle gleich. Arme sterben früher. „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genau so töten wie mit einer Axt“ sagte Heinrich Zille vor über 100 Jahren. Seit dem 23. März 2020 sind alle Berliner*innen verpflichtet, sich „ständig in ihrer Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft aufzuhalten.“ Kein Problem für diejenigen, die eine helle geräumige Wohnung haben mit Garten oder wenigstens Balkon. Wer aber in beengten, dunklen Verhältnissen ausharren soll, wird irgendwann krank werden, ob mit oder ohne Corona.

Seit dem 3. April gilt ein Bußgeldkatalog: „Jede außerhalb ihrer Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft angetroffene Person“ soll ein Bußgeld zwischen 10 und 100 Euro bezahlen. Es gibt jedoch eine Reihe von Ausnahmen, aufgrund derer es zulässig ist, die Wohnung zu verlassen. Eine Ausnahme ist „Sport und Bewegung an der frischen Luft“. In einer Erklärung zu den Osterfeiertagen räumt der Regierende Bürgermeister Müller immerhin ein: „Dem in vielen Familien üblichen Osterspaziergang steht in Zeiten von Corona dennoch nichts im Wege, sofern man sich an die neuen Regelungen unseres Zusammenlebens hält.“

Wer sich halbwegs auskennt und auf Nachfrage erklären kann, einkaufen zu gehen oder sich an der frischen Luft zu bewegen, kann getrost rausgehen. Wen wird das Bußgeld wegen einem „Verstoß gegen das Gebot, sich in der Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft aufzuhalten“ (§14) also treffen? Es werden diejenigen sein, die ängstlich sind oder die Regelungen nicht verstehen. Die nicht in der Lage sind, einen der Ausnahmetatbestände für ihren Aufenthalt im öffentlichen Raum zu benennen und vielleicht noch plausibel zu begründen. Die vielleicht sogar die Verordnung nicht kennen oder sich vor Schreck bei einer Nachfrage durch die Polizei nicht erinnern können, was darin steht. Wenigstens ist es seit dem 3. April wieder erlaubt, sich bei „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ für „Erholungspausen“ auf eine Bank oder eine Decke zusetzen.

Bewegung statt Locked-in

Vorläufig außer Kraft gesetzt ist das in Artikel 8 des Grundgesetzes festgeschriebene Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Die Corona-Verordnung für Berlin legt in § 1 (1) fest, dass „Veranstaltungen, Versammlungen, Zusammenkünfte und Ansammlungen“ nicht stattfinden dürfen. Ausnahme nach §1 (7): „Für Versammlungen unter freiem Himmel von bis zu 20 Teilnehmenden kann die Versammlungsbehörde in besonders gelagerten Einzelfällen auf Antrag Ausnahmen vom Verbot des Absatz 1 zulassen, sofern dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.“

Allerdings sind für Ostern auch Versammlungen, die den Regeln der Verordnung entsprechen sollten, verboten worden, wie der RBB heute berichtet. In seinem oben bereits zitierten Beitrag schrieb Ellis Huber auch: „ In der Krise entscheidet sich, ob die Solidarität nach innen und außen die Oberhand gewinnt oder Egoismus und Selbstgerechtigkeit obsiegen.“

Was aktuell stattfindet und versucht wird, per Verwaltungsanordnung und Polizei durchzusetzen, ist nicht nur der Corona-Lockdown, sondern es käme einem gesellschaftlichen Locked-in gleich, wenn es gelänge: „Das Locked-in-Syndrom (engl.; dt. Eingeschlossensein- bzw. Gefangensein-Syndrom) bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen.“ (Wikipedia) Es wäre fatal, wenn ein solches Syndrom auch auf Gruppen übergreifen und sie lähmen würde.

Solidarität statt selektivem Schutz

Solidarität ist das Gebot der Stunde, sowohl mit den Benachteiligten hierzulande als auch mit den Schutzsuchenden an den europäischen Außengrenzen. Das Auswärtige Amt meldete vor zwei Tagen, dass Deutschland 50 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern aufnehmen wird. 50 von Tausenden, die in überfüllten Lagern fast ohne fließendes Wasser keinerlei Möglichkeit haben, sich vor Corona oder anderen Krankheiten zu schützen. Dabei wäre Deutschland ohne weiteres in der Lage, in einem Akt humanitärer Hilfe alle 42.000 Schutzsuchenden aufzunehmen, die in Lagern auf den griechischen Inseln ausharren – und noch viel mehr. So werden rechtzeitig zur Spargelernte im April und Mai 80.000 Erntehelfer*innen eingeflogen – das ist möglich, weil Arbeitskräfte fehlen. Menschen, die als nützlich erachtet werden, sollen kommen, andere müssen draußen bleiben, auch wenn sie sich in Lebensgefahr befinden.

Es fällt schon schwer, den derzeitigen Lockdown als ehrlich gemeinte Fürsorge zu verstehen. Bisher hat sich die Politik nicht dadurch ausgezeichnet, dass sie für Schwächere besonders gut gesorgt hätte. Stattdessen führen Sozialabbau, Privatisierungen und eine unsoziale Steuerpolitik seit mindestens 30 Jahren zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Immer mehr Menschen geraten in Armut, und auch die Maßnahmen, mit denen Corona eingeschränkt werden sollen, haben durchaus Klassencharakter. Wie selektiv der Schutz vor Corona ist, zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit denjenigen, die sich nicht selbst schützen können, die in Massenunterkünften allein gelassen der Erkrankung oder sogar dem Tod überlassen werden. Die Botschaft einer solchen Politik ist eindeutig: Menschen sind nicht alle gleich, die einen Leben zählen mehr als die anderen.

Am letzten Sonntag gingen in vielen Städten Menschen auf die Straße, um – im Rahmen des Möglichen – für Solidarität mit den Geflüchteten zu demonstrieren, unter dem Motto: Leave No One Behind. Die Initiative Seebrücke ruft auf zu einem Ökumenischen Osterappell an den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Heinrich Bedford-Strohm und den Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Georg Bätzing. Beide werden gebeten, „politisch Druck auf die Bundesregierung aufzubauen“, denn es geht um „ die Rechte und die Würde aller Schutzsuchenden auf den Inseln“. Auch in Berlin gilt an Ostern: Bewegung an der frischen Luft ist wichtig.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

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