Verschwindet?

LeaveNoOneBehind Beweist sich die Humanität einer Gesellschaft nicht gerade darin, wie sie mit den am meisten Benachteiligten und Ausgegrenzten umgeht? Gedanken zu einer Alltagserfahrung

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Symbolbild
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Foto: Maja Hitij/Getty Images

Montagnachmittag in der Schöneberger Hauptstraße am Kaiser-Wilhelm-Platz. Polizeieinsatz mit mindestens sechs Polizist*innen in Kampfmontur. Vier offensichtlich wohnungslose Menschen sitzen im Eingangsbereich einer Sprachschule, drei Männer – einer von ihnen im Rollstuhl – und eine Frau. Die Polizei fordert sie auf, in Richtung Kaiser-Wilhelm-Platz zu gehen. Sie sammeln ihre Habseligkeiten ein und gehen mit unsicheren Schritten. Anscheinend sind sie betrunken.

Ich frage die Polizist*innen, ob sie ihnen einen Hinweis gegeben hätten, wo sie hingehen könnten, denn sie müssten doch irgendwo bleiben. Nein, das haben sie nicht, sie haben die Menschen nur weggeschickt, weil sie im Hauseingang stören würden. Dann fahren sie los zum nächsten Einsatz. Die Betreiber*innen einer kleinen Schneiderei im Hauseingang berichten mir, dass die vier kurz zuvor von Polizisten genau in diesen Hauseingang gebracht wurden. Ein Beamter hätte sogar den Rollstuhl geschoben. Vorher hätten sie an der Ecke Akazienstraße im Eingangsbereich der Commerzbank gesessen.

Dort habe ich sie schon oft sitzen gesehen, und dorthin gehen sie nun wieder zurück. Innerhalb kürzester Zeit kommt ein Streifenwagen der Polizei. Ein Polizist bittet sie zu gehen. Die Frau reagiert wütend, schimpft laut und unverständlich. Deutsch scheint nicht ihre Muttersprache zu sein. Der Polizist wird ebenfalls laut und schreit: „Haut ab, weg mit euch, verschwindet!“ Als seien es räudige Hunde, die er verjagen will.

Es sind Menschen!

Ich spreche ihn an, mache ihn darauf aufmerksam, dass es Menschen seien, mit denen er nicht so reden könne, und wo sie denn hin sollen. Er meint nur, sie sollen weg. Sie hätten vom Bezirk ein Aufenthaltsverbot, und sie hätten einen Platz in einer Obdachloseneinrichtung. Es riecht nach Urin. Ein Gesprächsversuch mit der Frau scheitert, sie vermutet wohl, ich hätte die Polizei geholt und beschimpft nun auch mich.

Ein Mann spicht mich an, offensichtlich Mitarbeiter der Bank, und berichtet, die Obdachlosen wären aggressiv zu Kunden, würden Leute anschreien und sogar gegen Kinderwagen treten. Der Polizist holt Verstärkung. Für diese Menschen scheint keine*r zuständig zu sein. Sie sind keine Sympathieträger*innen, mehrfach benachteiligt durch Obdachlosigkeit, Migrationshintergrund und körperliche Beeinträchtigung bzw. Geschlecht. Alkohol betäubt den Schmerz und vielleicht ist Aggressivität ein Versuch, sich einen letzten Rest von Würde, oder zumindest Selbstwirksamkeit zu erkämpfen.

Sicher gibt es keine einfachen Lösungen. Aber beweist sich nicht die Humanität einer Gesellschaft gerade darin, wie sie mit den am meisten Benachteiligten und Ausgegrenzten umgeht? Es muss doch einen menschenwürdigen Weg geben dazwischen, sie entweder einfach sitzen zu lassen und in Kauf zu nehmen, dass sich Leute belästigt fühlen, oder sie fortzujagen mit dem deutlichen Unterton, dass es besser wäre, wenn es sie gar nicht gäbe?

Heute sitzt der Mann im Rollstuhl mit der Frau auf dem Kaiser-Wilhelm Platz, sie mit einem blauen Auge, aber ganz friedfertig, auf einer Bank unter der alten Platane.

Zusatzinfo: Ein neues Bündnis #LeaveNoOneBehindNowhere setzt sich für Wohnungslose mit und ohne Fluchtbiografie ein. Im MieterEcho Online habe ich am 30.04.2020 über eine Veranstaltung des Bündnisses mit Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) berichtet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

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