Was ich noch zu sagen hätte ....

Blick zurück ... bevor das pandemische Jahr 2020 lautstark verjagt, oder vielleicht einfach nur stumm zu Grabe getragen wird.

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Krankheitserreger gibt es schon immer, Viren, Bakterien und allerlei andere Mikrolebewesen um uns und in uns. Die meisten gutartig, ja lebensnotwendig, manche aber leider nicht. Und als dieses Coronavirus Covid-19 um die Ecke kam, war plötzlich nichts mehr wie zuvor. Aber hat sich wirklich etwas verändert? Oder ist „nur“ was vorher schon schlecht war, mehr geworden?

Corona-Maßnahmen mit klassistischem und rassistischem Charakter

Die Geschwindigkeit, mit der die einen, Wenigen immer reicher werden, und die anderen, Vielen verarmen, hat rasant zugenommen. Während Großunternehmen gerettet werden und trotz staatlicher Finanzhilfen fette Dividenden an ihre privaten Anteilseigner*innen auszahlen, verlieren immer mehr Klein- und Kleinstunternehmen ihre Existenzgrundlagen.

Die vermeintliche Fürsorglichkeit staatlicher Maßnahmen hat eine klassistische und rassistische Schieflage, denn sie gilt nicht für alle gleich. Sie gilt beispielsweise nicht in Niedriglohnbereichen, nicht für Obdachlose oder Geflüchtete.

Noch schlimmer sieht es in vielen Ländern des globalen Südens aus, wo aufgrund wirtschaftlicher Beschränkungen immer mehr Menschen hungern und verhungern. Auch die einseitige Konzentration auf Corona, aufgrund derer Behandlungen anderer Krankheiten und Impfungen unterbleiben, führt zu weiteren Todesfällen.

Abschiebungen gehen weiter

Es wird weiterhin abgeschoben, so wie im Oktober, als ein Ehepaar aus Bieberach, 62 und 64 Jahre alt und beide krank, nach 29 Jahren in Deutschland plötzlich abgeschoben wurde „in den Kosovo, einen Staat, den es noch gar nicht gab, als das Ehepaar nach Deutschland geflohen ist und in den es keinerlei Verbindung hat“. Die sechs Kinder und 17 Enkel des Paares sind verzweifelt. Ihre Eltern haben keinen Pass und im Kosovo keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Sie sind auf Hilfe von Fremden angewiesen. Die Wochenzeitung Kontext berichtete über diesen Fall und ergänzt: „Die Behörden des grün-schwarz geführten Baden-Württemberg organisieren normalerweise monatlich Sammelabschiebungen in den Kosovo, nach Nordmazedonien und Serbien sowie nach Albanien. Kein anderes Bundesland schiebt seit Jahren so eifrig in den Balkan ab.“

Das Land Berlin scheint eine freundlichere Linie zu verfolgen und bemüht sich seit Monaten darum, besonders gefährdete Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen. Aber der Schein trügt. „Seit Juli schiebt Berlin sogar vermehrt ab, überall hin, solange es nur technisch möglich ist“ informiert der Flüchtlingsrat. „Die Infektionslage hier und im Zielstaat spielt offenbar keine Rolle mehr“. Auch Kranke und frisch Operierte werden nachts aus dem Bett gerissen und abgeschoben. Vor allem Roma sind davon betroffen.

Das Berliner Landesamt für Einwanderung schreckt nicht einmal davor zurück, unbegleitet geflüchtete Kinder einzuschüchtern. So berichtet der Flüchtlingsrat von einem 9-jährigen Jungen aus Afghanistan, der aus dem Elendslager Moria nach Berlin kam. Das Amt schickte ihm eine „Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung“.

Was ist das für ein Land, in dem solches geschieht? Wo Menschen, manche Menschen, schon wieder/immer noch behandelt werden, als seien sie – ja was? Wie werden sie heute genannt, faktisch behandelt wie "Untermenschen", in vermeintlich sauberem, doch eiskalt tödlichem Behördensprech? "Ausreisepflichtige" klingt harmlos, und kann doch den Tod bedeuten. Nichts gelernt aus der Geschichte?

Zahlenmystik

An Menschlichkeit mangelt es schon lange. Nun scheint sich auch die kritische Vernunft zurückgezogen zu haben. Sie wurde in diesem Jahr weitgehend durch Glaubensbekenntnisse ersetzt. Vor allem fiel ein Trend zur Zahlenmystik auf, die von jeder Seite für ihre jeweiligen Anliegen eingesetzt wurde. R-Werte und Inzidenzen, Infektionszahlen ohne Bezug zur Anzahl der Getesteten, Schätzungen der Todesfallraten usw. suggerierten eine Objektivität, die kritischen Befragungen oft nicht standhielt. Aber immerhin gab es hier vereinzelt rationale Kritik, zum Beispiel durch das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin.

Ähnlich fragwürdig wie die Begründungen für Maßnahmen zur Eindämmung des Virus mit diesen Zahlen waren auch die Gegenargumente. Es waren vor allem Männer, die gebannt auf Zahlen starrten, Gegenberechnungen anstellten um zu beweisen, dass alles gar nicht so schlimm sei. Vor den Toten in Bergamo, in den USA und auch hierzulande, und vor den verzweifelten Beschäftigten in den Krankenhäuser verschlossen sie kaltherzig die Augen. Ein seltsam abstraktes Verhältnis zum Menschen machte sich breit.

Krankenhaus-Schließungen in der Pandemie

Allerdings ist zumindest die bedrohliche Situation in den Intensivstationen bundesdeutscher Krankenhäuser nicht durch eine Zunahme von Patient*innen bedingt. So weist das DIVI-Intensivregister zwar seit dem Sommer einen starken Anstieg der Covid-19-Fallzahlen aus, jedoch sind dadurch nicht mehr Intensivbetten belegt. Der Bettenmangel rührt stattdessen vom Abbau von Betten her, wie die DIVI-Grafik zeigt. Nun nützen Betten allein noch nichts, das Wichtigste sind Pflegekräfte, von denen es viel zu wenige gibt – kein Wunder angesichts der erbärmlichen Arbeitsbedingungen.

Aber in der Pandemie wurden sogar Krankenhäuser geschlossen. Das Bündnis Klinikrettung hat nachgezählt: „In Deutschland werden zum Jahresende zwanzig Krankenhäuser geschlossen sein, doppelt so viele wie im Durchschnitt der letzten Jahre.“ Das seien 2.144 Betten, mit den Schließungen fielen circa 4.000 Stellen weg.

Dass die Politik in diesen Corona-Zeiten die schon länger geplanten Schließungen vor allem kleinerer Krankenhäuser verstärkt umsetzen lässt, ist nicht nur kaltherzig, sondern vollkommen verantwortungslos und vorsätzlich Menschen gefährdend. Sie folgt damit dem Rat des mächtigen Politikflüsterers Bertelsmann Stiftung. Es kann sinnvoll sein, wenn die Politik den Rat von Fachleuten sucht, jedoch stellt sich die Frage, wer mit welchen Interessen berät. Bertelsmann predigt nicht nur den schlanken Staat, sondern rät auch seit Jahren zu verstärkter Digitalisierung. Statt demokratischer Entscheidungsfindung lässt sich eine zunehmende Expertokratie beobachten.

Merkwürdige Körperlosigkeit

Hinzu kam nun, dass Virologen (selten Virologinnen) zu wahrheitsverkündenden Instanzen verklärt wurden, obwohl deren Tätigkeit vor allem in Laboren und an Computern stattfindet. Die Beschäftigung mit den lebenden, leidenden und sterbenden Menschen schien nachrangig, Fachleute aus Epidemiologie, Präventologie, Sozialmedizin und Lungenheilkunde, oder Hausärzt*innen, die den direktesten Kontakt zu Patient*innen haben, wurden nicht gefragt. Selbst die Autopsie verstorbener Covid-19-Patient*innen sollte auf Anraten des Robert-Koch-Instituts unterbleiben.

Die merkwürdige Körperlosigkeit im Umgang mit den Erkrankten setzte sich fort in den Maßnahmen, die all das, was Miteinander und Gemeinschaftlichkeit fördert, strikt untersagten. Plötzlich drohte der Tod aus dem Atem der Anderen – welch entsetzliches Bild. Sind nicht Nähe und Körperlichkeit wesentliche Grundlagen von Gesellschaft, und hat nicht dies zutiefst Soziale auch eine gesundheitsfördernde, das Immunsystem stärkende Wirkung? Die psychosozialen Folgen der Corona-Maßnahmen schienen jedoch für politische Entscheidungen keine Rolle zu spielen.

In diesem Jahr kam eine Form von an Dummheit grenzender, oft nur vermeintlicher Wissenschaftsgläubigkeit auf. Alles was nach Selbsthilfe und Selbstermächtigung, Natur- und Erfahrungsheilkunde klang, wurde viel zu oft pauschal verdammt und in die Nähe von Coronaleugnung oder Schlimmerem verbannt. In Berichten über Querdenker-Demos wurden wahllos Esoteriker und Homöopathen, Impfgegner und Reichsbürger in einen Topf geworfen.

Autoritäre Staatlichkeit

Corona erschien als das Böse schlechthin, dem der Krieg erklärt werden muss. Folgerichtig wurden Soldaten in den Gesundheitsämtern eingesetzt. Mit dem Infektionsschutzgesetz wurde das Gesundheitsministerium – und damit Minister Jens Spahn – ermächtigt, im Falle einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, die immerhin vom Bundestag festzustellen ist, eigenmächtig über notwendige Maßnahmen zu entscheiden. Mit den Eindämmungsmaßnahmen wurden in nie gekanntem Ausmaß Grundrechte außer Kraft gesetzt. Die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, soziale Kontakte unter Strafandrohung beschränkt und Demonstrationsverbote ausgesprochen.

Für diejenigen, die eher auf der Sonnenseite des Lebens stehen, hat sich durch all dies vielleicht nicht so viel verändert, manche empfinden ihr Leben sogar als angenehm entschleunigt. Aber wer in einer kleinen, dunklen Wohnung festsitzt, vielleicht all die ständig wechselnden Regelungen nicht einmal versteht, wer Angst hat und von finanziellen Einbußen betroffen ist, hat ein schweres Jahr hinter sich und nicht unbedingt Aussicht auf Besserung. Noch schlimmer hat es Menschen in Gemeinschaftsunterkünften getroffen. Pflegebedürftige mit überlastetem Personal wurden sozial isoliert statt liebevoll geschützt, Geflüchtete und Obdachlose müssen nach wie vor unter menschenunwürdigen Bedingungen auf engstem Raum ausharren. Der repressive Staat hat sein hässliches Gesicht gezeigt und mehr noch sein Potenzial für weitaus schwerwiegendere Eingriffe – kein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.

Hoffnung auf die Pharmaindustrie

Doch was wäre Glaube ohne Hoffnung – und auch die gab es. Schon frühzeitig in der Pandemie wurde von Politik und Medien die Hoffnung auf einen Impfstoff proklamiert. Erst dann könnten die Maßnahmen aufgehoben werden und erst dann könne wieder Normalität einkehren (ob diese wünschenswert wäre, ist ein anderes Thema). So ruhen nun also zum Jahreswechsel alle Hoffnungen auf der Pharmaindustrie und ihren vermeintlich segensreichen Impfstoffen.

Die Diskussionen scheinen weniger um mögliche Risiken und Spätfolgen zu gehen, als um die Frage, wer zuerst an der Reihe ist, an dieser Hoffnung partizipieren zu dürfen und geimpft zu werden. Auch dies hat eine globale Dimension, denn schon ist Unmut zu hören, wer denn nun wohl „dran sei“, und ob nicht „wir“ mal, bitteschön, endlich etwas davon abbekommen sollten. Von wegen Solidarität angesichts der Bedrohung, jetzt sind wieder Egoismus und Konkurrenz angesagt, wie schon beim Gerangel um Masken und Beatmungsgeräte.

Grundgefühl von Angst und Empörung

Die Gesellschaft ist nicht freundlicher geworden im Pandemie-Jahr. Eine Mischung aus Angst und Empörung ist das Grundgefühl. Das Schüren von Angst – der Angst vor dem Ersticken und der Angst davor, diesen qualvollen Tod Angehöriger verschuldet zu haben – war bereits im Frühjahr vom Innenministerium in einem Strategiepapier erwogen worden, als "gewünschte Schockwirkung“ zur Akzeptanz der Maßnahmen. Eine Strategie des Ministeriums, dessen Minister Horst Seehofer sich an seinem Geburtstag freute, dass ebenso viele Menschen abgeschoben wurden, wie er Jahre alt wurde – das sollte nie vergessen werden.

Eine gute Regierung (wenn es eine solche je gäbe) täte sicher im Katastrophenfall alles, um die Bevölkerung zu beruhigen und Panik zu vermeiden. Anders die bundesdeutsche Regierung. Sie verbreitete Panik, verängstigte die Bevölkerung und schuf damit den Boden für irrationale Reaktionen in jede Richtung. Während die einen in angstvoller Schockstarre verharrten und sich willig allen Anordnungen unterwarfen, autoritär gegen Andersdenkende auftraten und denunziatorische Blockwartmentalitäten entwickelten, opponierten andere wohlkalkuliert, verkauften Verschwörungserzählungen und waren sich nicht zu schade, nach dem Motto „Hauptsache dagegen“ auch mit Rechtsextremen auf die Straße zu gehen.

Patriarchale Selbstgewissheit

Bei beiden dieser extremen Reaktionen sticht die Selbstgewissheit und Rechthaberei hervor, wonach ich, und nur ich ganz genau weiß, was gerade passiert – und vor allem besser als alle anderen. Dazwischen gibt es jedoch die Vielen, die vollkommen zurecht das Gefühl haben, dass hier irgend etwas vollkommen falsch läuft, dass es um irgendwelche Interessen geht, die nicht ihre eigenen sind, und die zwischen den beiden Extremen oft kaum einen Platz und eine Stimme bekommen. Von denen viele nun zum ersten Mal im Leben demonstrieren gingen und bei den Corona-Protesten mitliefen. Gut ausgebildete Intellektuelle hatten nichts Besseres zu tun, als denen, die ihre berechtigte Wut auf die Straße trugen vorzuwerfen, mit Nazis zu demonstrieren. Solidarität und politische Aufklärung und Bildung geht anders, respektvoll und auf Augenhöhe, und sich der eigenen Privilegien bewusst seiend.

Es ist laut geworden in politischen Diskursen, laut, rechthaberisch und patriarchal. In all dem tun sich neue Geschäftsmodelle auf, das Polit-Business blüht und gedeiht. Die Tendenz gab es schon vorher, aber nun, wo fast alle politischen Aktivitäten ins Digitale verwiesen sind, wird Politik immer mehr zur Klickokratie. Schnell mal hier unterschreiben und dort digital unterstützen, und schon habe ich – ja was, politisch etwas bewirkt? Wirklich? Oder habe ich mich nur auf einer Spielwiese herumgetrieben, die den Mächtigen nicht weh tut, aber mir das gute Gefühl vermittelt, wenigstens etwas getan zu haben? So wie es für viele andere Alltagsbedürfnisse diese kleinen digitalen Helferlein gibt, jetzt auch für die Politik? Ermöglicht diese Digitalisierung die Teilhabe der Vielen an der Politik, oder ist es vor allem Selbstpositionierung? Bietet vielleicht diese Appisierung der Welt Ersatzhandlungen, die präventiv gegen Aufstände wirken?

Protestbusiness und Simplifizierungen

Der Kapitalismus war schon immer wandlungsfähig und es lässt sich aus allem ein Geschäftsmodell machen. Schon seit vielen Jahren blüht und gedeiht das Business der Online-Proteste, als Mix aus sozialpolitisch motiviertem (oder sich als solches darstellendem) Unternehmertum und Datenhandel. In Pandemiezeiten droht es zur fast einzigen politischen Betätigungsmöglichkeit zu werden. Aber auch Straßenproteste können sich lohnen. Querdenken ist zur lukrativen Marke geworden, mit Großdemonstrationen und dazugehörigem Merchandising und Transportdienstleistungen, wie netzpolitik.org kürzlich berichtete.

Die großen Geschäfte machen derweil die Konzerne der Pharma- und Digitalindustrie. So eine Pandemie lohnt sich. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche findet ungeahnten Zuspruch und es zeichnet sich ab, dass vieles davon bleiben wird. Dass die digitale Kommunikation der Sensibilität im Umgang miteinander abträglich ist, das ist schon lange bekannt. Vielleicht wirkt diese Reduzierung auf ein technisches Mittel, das nur Abfolgen von Nullen und Einsen kennt, auch untergründig vereinfachend auf das Denken?

Simplifizierendes Entweder-Oder gab es schon immer, aber rund um Corona hat es in erschreckendem Ausmaß zugenommen – und zwar auf allen Seiten. Die einfache Aufteilung der Welt in gut und böse gibt es sowohl bei Weltverschwörungserklärungen als auch bei plötzlich staatstreu gewordenen sich als links Verstehenden. Nachdenkliche Fragen und vorsichtige Suchbewegungen sind beiden suspekt, sie könnten ja die je eigene Überzeugung in Frage stellen. Entweder-Oder, Null-oder-Eins. Es sind zutiefst patriarchale Muster, die plötzlich Oberhand gewinnen. Statt „Wir müssen reden“ heißt es nun eher: „Halt‘s Maul“.

Trotzdem Hoffnung

Vieles, was schon immer schlimm war, ist in diesem Jahr noch schlimmer geworden. Um trotz allem nicht nur mit Verzweiflung zu enden, hier ein paar Lichtblicke, die zum Jahresende einen Vorschein darauf geben, dass die Verhältnisse trotz alledem nicht betoniert sind und dass zumindest kleine Schritte in die richtige Richtung möglich sind, wenn sich Leute dafür engagieren.

Eine verbreitete Todesursache ist die Luftverschmutzung, die jedoch viel zu wenig Aufmerksamkeit findet. Das Ärzteblatt berichtete im Februar 2020 von einer Studie, wonach allein in Deutschland in jedem Jahr etwa 80.000 Menschen durch Luftverschmutzung sterben, weltweit wurden 4,5 Millionen Luftverschmutzungstote pro Jahr ermittelt. 4,5 Millionen Menschen, deren Tod vermeidbar wäre. Hinter diesen Zahlen stecken tragische Schicksale, eins davon bekam nun ein Gesicht: 2013 starb die 9-jährige Ella Adoo-Kissi-Debrah an Herzversagen. Sie lebte im Londoner Stadtteil Lewisham und hatte an schwerem Asthma gelitten.

Der Tod eines Kindes ist wohl das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Ellas Mutter kämpfte um Aufklärung, bekam dafür auch Unterstützung, und im Dezember 2020 urteilte ein Gericht, dass der Tod ihrer Tochter durch die starke Luftverschmutzung an ihrem Wohnort verursacht wurde. Darüber berichtete unter anderem der Deutschlandfunk am 18. Dezember 2020: „Das Urteil zu Ellas Todesursache wird keine unmittelbaren Folgen haben, weiß Jocelyn Cockburn, die die Familie des Mädchens anwaltlich beraten hat. Aber es kann der entscheidende Anstoß sein für politisches Handeln“. Dieses Handeln wird kaum von oben kommen, aber das Urteil macht Mut.

Auch im Grauen an den europäischen Außengrenzen gibt es Menschen, die Hoffnung und konkrete Hilfestellungen zu denen bringen, die von der Welt vergessen scheinen. Seit über sechs Jahren unterstützt das Alarm Phone Menschen, die auf der Flucht das Mittelmeer überqueren. Wer die Wüste der Sahelzone durchqueren muss, kann Hilfe vom Alarm Phone Sahara bekommen. Dies ist nur durch das Engagement von vielen Freiwilligen möglich, ebenso wie die Einsätze der Seenotrettungsorganisationen, die viel zu oft politisch und militärisch bekämpft werden und doch immer wieder unermüdlich für die Menschen in Not da sind. Auch die Gruppen und Initiativen, die – vor allem auf den griechischen Inseln und an der Balkanroute – praktische Hilfen für Geflüchtete leisten, setzen Zeichen der Solidarität gegen die Unmenschlichkeit.

Im eigenen Leben sind es manchmal die kleinen Dinge des Alltags, die gut tun. Ein Lächeln von Unbekannten oder ein freundlicher Gruß, fast trotzig in all der gesellschaftlichen Härte, zeigen das Bedürfnis nach einer Welt ohne Hass und Gewalt. Auch dieses kleine Aufbegehren scheint mehr zu werden – jetzt erst recht! All das Furchtbare, das auf der Welt geschieht, lässt sich nicht weglächeln. Aber solch kleine freundliche Gesten können helfen, diese Welt nicht nur zu ertragen, sondern auch immer wieder Kraft aufzubringen für die alltäglichen Kämpfe um ein anderes, besseres Leben hier und überall.

In diesem Sinne, und mit der Frage „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“, die den Wunsch und die Bereitschaft zu gemeinsamen Suchbewegungen beinhaltet, gehe ich besorgt, aber nicht hoffnungslos ins Jahr 2021.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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