Wer gestaltet die Stadt?

Patriarchaler Rollback Mit der Umbenennung des Schöneberger Kaiser-Wilhelm-Platzes in Berlin in Richard-von-Weizsäcker-Platz sind die Grünen wortbrüchig geworden.

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In der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg am 20. Januar 2021 überraschten die Fraktionen von Grünen, CDU und FDP mit einem Antrag, den Schöneberger Kaiser-Wilhelm-Platz in Richard-von-Weizsäcker-Platz umzubenennen. Es gelang ihnen, eine sofortige Entscheidung herbeizuführen, ohne dass der Antrag – was angemessener gewesen wäre – zunächst im Kulturausschuss behandelt wurde. Ob überhaupt Rücksprache mit den Angehörigen des auf solche Weise zweifelhaft Geehrten genommen wurde, ist nicht bekannt. Überstürzt wurde der Antrag angenommen, aber ob damit das letzte Wort schon gesprochen ist?

In Tempelhof-Schöneberg hatten sich SPD und Grüne nach der Wahl 2016 zu einer Zählgemeinschaft zusammengetan und vereinbart: „Die begonnene Initiative, (Neu-)Benennungen von Straßen nach Frauen vorzunehmen, wird fortgesetzt. Die bereits verabredete Liste von Frauen ist dabei die Grundlage, die in gegenseitiger Absprache erweitert werden kann.“ (Fettschrift im Original). Dieses Anliegen hat gute Gründe, denn Berliner Straßen tragen überwiegend Männernamen, wie der rbb am 18. Oktober 2020 berichtete: „insgesamt 3.000 Straßen haben einen männlichen und nur 500 bis 600 einen weiblichen Namen“. Auf der Website des Bezirksamts gibt es eine Vorschlagsliste mit Frauennamen.

Dass die Grünen nun im Jahr der nächsten Wahl gegen die Zählgemeinschaftsvereinbarung mit der SPD verstoßen, legt die Vermutung nahe, dass sie sich schon mal hübsch machen für eine zukünftige Zusammenarbeit mit der CDU. Die SPD reagierte empört. Michael Biel vom Bezirksvorstand hängte ein Flugblatt an jede Haustür in der Umgebung des Platzes: „Warum kein Frauenname?“ In der folgenden BVV am 17. Februar 2021 beantragte die SPD nun ihrerseits gleich fünf Umbenennungen, nach dem Motto „Frauen haben Vorrang“. Diese wurden zur Beratung an den Kulturausschuss verwiesen.

Einstimmig beschlossen wurde die Umbenennung des zukünftigen Platzes vor dem Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt II“ am Tempelhofer Weg (zukünftig Ella-Barowsky-Straße) Ecke Gotenstraße (Schöneberger Linse am Südkreuz) nach der Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff. Dieser Antrag geht auf einen Vorschlag der Schwulenberatung zurück, die Träger des neuen Wohnprojekts ist. Er wurde gemeinsam von SPD, CDU, LINKE und FDP eingebracht, GRÜNE schlossen sich dann an.

Abwertung von Bürgerbeteiligung

Dass in dem Antrag von Grünen, CDU und SPD zur Umbenennung des Kaiser-Wilhelm-Platzes auch steht: „Die Bürgerinnen und Bürger im direkten Umfeld des Platzes sollen angemessen beteiligt und informiert werden“ klingt wie Hohn – an etwas beteiligt zu werden, das bereits beschlossen wurde, wertet Bürgerbeteiligung zu belanglosem Partizipatrallala ab.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat von 2017 bis 2019 in einem aufwendigen Prozess „Leitlinien für Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Stadtentwicklung“ erarbeiten lassen (Pressemitteilung 08.07.2019). Der Anspruch „Gemeinsam Stadt machen“ muss jetzt mit Leben gefüllt werden, damit er kein hohler Werbespruch bleibt. Die Bezirke sollen nun mit einem Jahresbudget von jeweils 250.000 Euro eine Anlaufstelle für Bürgerbeteiligung einrichten und

betreiben. Im Stadtentwicklungsausschuss am 10. Februar 2021 stellte Jens Peter Eismann von der Organisationseinheit Sozialraumorientierte Planungskoordination (OE SPK) das Umsetzungskonzept für Tempelhof-Schöneberg vor. Es hat das Ziel: „Ende 2021 sollen bezirkliche Leitlinien für Bürgerbeteiligung entwickelt sein und die bezirkliche Anlaufstelle ihre Arbeit aufgenommen haben“.

Ernsthafte Partizipation oder lästige Pflicht?

Aber wird Partizipation im Bezirk überhaupt ernst genommen, oder ist es nur eine lästige Pflichterfüllung? Aktuell gibt es beispielsweise Auseinandersetzungen um den Ausbau des Schöneberger Gasometer (Wahrzeichen des Kapitals), die bisher den Eindruck erwecken, dass die Interessen des bestens vernetzten Eigentümers und Vorhabenträgers mehr zählen als die Interessen der direkt betroffenen Nachbarschaft (Wer entscheidet im Bezirk?), die sich in der Initiative „Gasometer retten“ zusammengeschlossen hat.

In die BVV am 24. März 2021 bringt die LINKE den Antrag ein, den Umbenennungsbeschluss vom Januar zurückzunehmen. „Das Bezirksamt wird ersucht, die fehlende Bürgerbeteiligung nachzuholen, indem vor der Umbenennung des Kaiser-Wilhelm-Platzes beispielsweise ein angemessenes (Online)-Format für Anwohnende geschaffen wird, um ein Meinungsbild über die Umbenennung einzuholen“. Dies soll dann im Kulturausschuss und in der Gedenktafelkommission behandelt werden.

Eine öffentliche Diskussion um die Umbenennung wäre angemessen. Darüber, dass der Kaiser weg kann, wird sich vermutlich schnell Einigkeit erzielen lassen. Dass der Platz nach einer Frau benannt wird, sollte selbstverständlich sein. Die Frage, welche Frau es sein soll, wäre ein guter Anlass, sich in der Nachbarschaft auszutauschen, Bezirksgeschichte zu erforschen und die Umbenennung so zu einem gemeinsamen Anliegen von Vielen zu machen.

Die Sitzung der BVV am 24. März um 17 Uhr ist öffentlich. Sie findet erstmals online statt und wird live auf youtube übertragen, der Link wurde in einer Pressemitteilung veröffentlicht.

Update: Der TOP wurde verschoben, die Sitzung wird am Fr., 9. April um 17h fortgesetzt. Infos und Link HIER.

Als parteilose Bürgerdeputierte (sachkundige Bürgerin) arbeite ich im Stadtentwicklungsausschuss Tempelhof-Schöneberg mit der Fraktion DIE LINKE zusammen. Meine Einwendung im Beteiligungsverfahren um den Ausbau des Gasometer habe ich HIER in der Community veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

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