Es geht um jeden Einzelnen

Wohnungslos im Winter Der Berliner Kältebus kümmert sich um Notunterkünfte für die Menschen, die sonst draußen übernachten müssten

Lehrter Straße 68. Plattenbauten im Westberliner Stil auf einem weitläufigen Areal. Nur ein paar hundert Meter entfernt vom öden Niemandsland der Prestige-Baustelle Lehrter Bahnhof befindet sich die Notübernachtung der Berliner Stadtmission. Ein Trampelpfad führt vom Parkplatz zur Betontreppe. In Dunkel und Nieselregen verharren ein paar Silhouetten. Bedrücktes Schweigen, ab und zu ein Husten. Einer hat es sich im Schlafsack auf den harten Stufen bequem gemacht, bei Außentemperaturen von zwei Grad. Kurz vor neun ist die Tür noch verschlossen. Am Parkplatz startet gleich der Kältebus, ein gemeinsames Projekt von Stadtmission, Caritas und Diakonie. Bis drei, vier Uhr morgens steuert Fahrer Christoph Rottmann mit dem Kleinbus Punkte an, wo sich Obdachlose normalerweise aufhalten. Sein Ziel: Die Menschen überzeugen, dass es besser ist, in einer Notunterkunft zu übernachten.

Christoph trinkt Cola und raucht. Der 26-Jährige mit den blonden Locken studiert Theologie an der Humboldt-Universität. Seit Anfang November macht er den Nachtjob. Das Stellenprofil versprach "Berlin bei Nacht erleben, mit Einblicken, die Sie sonst nie haben". Christoph wirkt ruhig und strahlt Idealismus aus. Sein Beifahrer Martin, ebenfalls Theologiestudent, checkt den Kilometerstand. Ständiger Begleiter des Teams ist das Handy - Polizei, Security-Dienste oder Bürger können so Kälteopfer melden, zu denen der Kältebus dann hinfährt. Im Radio läuft der Wetterbericht: "In der Nacht verbreitet Reifglätte, Temperaturen um minus zwei Grad." Die Atemluft steht sichtbar im Innenraum des Kleinbusses.

City-West. Sonntags abends ist die Gegend am Ku´damm, wo sonst geschäftliches Treiben herrschte, menschenleer. An der Bushaltestelle am Olivaer Platz sitzt eine zusammengekauerte Gestalt mit zwei Plastiktüten als einzigem Besitz. Zwei verschiedene Handschuhe sind sein geringstes Problem. Das Kälteteam steuert auf den Mann zu, Christoph hockt sich hin: "Soll kalt werden heute Nacht. Wissen Sie schon, wo Sie schlafen?" Der Angesprochene braucht eine Weile, um zu reagieren. Unterkühlung führt dazu, das der Körper einen geringeren Stoffwechsel hat. Der Mann blickt die Kältehelfer an, mit einem vom Leben verwüsteten Gesicht. Erzählt von einem Kumpel als Anlaufstelle. Nein, mitkommen wolle er nicht.

Auf Berlins Straßen leben nach aktueller Statistik 6.775 Obdachlose, laut Dunkelziffer sind es noch mal 4.000 mehr. "Erfrieren ist ein sanfter Tod. Die Leute werden ohnmächtig und dämmern einfach hinüber. Das ist das Gefährliche daran," weiß Ortrud Kubisch, Pressesprecherin der Stadtmission. "Das kann auch bei Plusgraden passieren, wenn sie lange genug ausgekühlt waren." Mindestens 207 Obdachlose sind nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit 1991 in Deutschland auf der Straße erfroren.

Bahnhof Zoo. Dort herrscht noch reger Betrieb. In der Wartezone sitzt Hans-Georg aus Leipzig. Mit seinem Rollkoffer könnte er als Bahnreisender durchgehen. Doch der Blonde mit den blauen Augen hat zehn Jahre mehr auf dem Buckel als die 35, die in seinem Personalausweis stehen. Heute Nacht ist Hans-Georg ohne Domizil. Der Sachse wirkt erleichtert, als ihn das Kälteteam aufnimmt. Gestern habe er in Schönefeld übernachtet und auch geduscht. Doch als der Mann einsteigt, riecht es im Kältebus schnell streng. Auf der Fahrt umklammert er mit den Händen die Knie und wirkt dabei wie ein geschlagenes Kind.

Westend. Ankunft in den Räumlichkeiten der Evangelischen Gemeinde Neu-Westend. Eine von 80 Berliner Einrichtungen, die Obdachlose betreuen. Der orange gestrichene Raum hat die Heimeligkeit einer Cafeteria, die Stimmung ist gedrückt. An kleinen Tischen hat sich ein Dutzend Wärmesuchender verteilt. Unter ihnen sind auch zwei Frauen. Sie starren sich in Gesichter, die Geschichten erzählen von gebrochenen Leben. Worte gebrauchen diese Menschen dabei fast nicht. Ehrenamtliche Helfer bieten belegte Brötchen und Suppe an. Diejenigen, die hier schlafen wollen, werden auf Isomatten mit Wolldecken übernachten im angrenzenden Saal. Wo der Kältebus die Leute hinbringt, hängt von mehreren Bedingungen ab. "In vielen Notunterkünften lautet die Regel: keine Läuse, weder Alkohol noch Drogen. Andere akzeptieren keine Hunde," erklärt Christoph. "Wir fragen die Leute, wo sie hinwollen, und schauen dann, ob das geht."

Wedding. Im ehemaligen Arbeiterbezirk suchen Christoph und Martin die U-Bahnhöfe nach Kundschaft ab. Hasten zahlreiche Stufen hinunter, gehen Bahnsteige in allen Fahrtrichtungen ab. Keine Wohnungslosen, nur eine Gruppe Berlin-Besucher, die mit dem Fahrkartenautomaten kämpft. Solche Checks gehören zum Job, dieses Programm werden die Helfer pro Nacht etwa ein Dutzend mal absolvieren. Unweit einer U-Bahn-Station vor einem eingerüsteten Verwaltungsgebäude liegt Benny, vor Blicken von einer Mauer geschützt. Den Schlafsack sieht man kaum, doch Christoph weiß aus Erfahrung: da liegt ein Mensch. Nur eine Wolldecke isoliert Benny vom Beton. In Reichweite hat er ein Stillleben aus Kippen aufgebaut. Der 27-Jährige lebt seit sechs Jahren auf der Straße. Auch in seinem Leben ein Bruch, eine Unfallgeschichte, die der Zuhörer kaum begreift. Nein, mitkommen will Benny heute nicht. "Der Schlafsack ist warm," erklärt er und zeigt auf das dünne Material. Und so bleibt es bei dem Becher Tee und dem Gespräch.

Schweigen im warmen Bus, der jetzt Richtung Alexanderplatz fährt. Inzwischen sind kaum noch Autos unterwegs auf den weitläufigen Straßen der Hauptstadt. Der Radiowetterbericht hat die nächtlichen Tiefstwerte nach oben korrigiert. Frieren wird es nicht. Graue Häuserfassaden und öde Betonflächen im Nieselregen am Alex. Unverdrossen stapfen Christoph und Martin, eingemummt in dicke Parkas, durch die Nacht. "Es geht um jeden Einzelnen, nicht um Zahlen," sagt Christoph, der jetzt müde klingt. Demütig meint er: "Man lernt, die kleinen Dinge zu achten. Wenn einer nach vier Jahren Kontakt zum ersten Mal mitfährt, weil er das Vertrauen hat, ist das ein Erfolg." Ein Erfolg auch der Institution Kältebus. In Berlin ist zuletzt 1995 ein Wohnungsloser erfroren, obwohl es damals bereits ausreichend Notübernachtungen gab. Der Mann war zu hilflos, um dort hinzukommen. Seitdem existiert der Kältebus als missing link.

Ostkreuz und Ostbahnhof. Die Theologen cruisen langsam weiter durch die Stadt. "Die Parks abklappern bringt nichts," sagt Christoph. "Da fahren wir nur auf zielgerichtete Anrufe hin." Am frisch renovierten Ostbahnhof eine leere Bahnhofshalle. Nur ein paar Reisende haben sich auf den Edelstahlbänken lang gemacht. Ein Bahnaufsichtsbeamter weist mit dem Kinn nach hinten: "Dort drüben, da sind welche." Bei den Schließfächern verharren drei verwaiste Männer. Der erste wirkt militärisch, mit kurzen Haaren und strenger Kluft. "Gerade aus der Haft entlassen," erzählt er, "kein Geld fürs Schließfach, wo ich mein Gepäck für ein paar Stunden abstellen will." Die Notunterkunft in der Franklinstraße kenne er. Martin checkt kurz per Handy, ob der Mann dort Hausverbot hat. Der zweite Klient hat jedes Alter verloren und eine frische Wunde auf der Nase. Er riecht stark nach Alkohol und Urin. "Ich habe eine Wohnung," erklärt er. Doch nach Weißensee fahren wollen die beiden ihn nicht. Unschlüssig erklärt er sich bereit mitzukommen in die Lehrter Straße. "Da können Sie was Warmes essen und warten, bis die erste S-Bahn fährt," sagt Christoph. Der letzte Mann wirkt völlig willenlos, schaut uns an mit den Augen eines traurigen Kindes. Ohne jedes wenn und aber steigt er in den Bus. Christoph startet, auf der Rückbank des Kältebusses starren drei Männer in die Berliner Nacht. "Suchet der Stadt Bestes" liest man auf der Heckklappe des Kleintransporters.


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