Elvis ist obdachlos. Unter einer Brücke hat er sich seinen Platz eingerichtet. Morgens räumt er als Erstes auf, drapiert liebevoll seine 1.-FC-Köln-Schals auf dem gemachten Bett und kocht sich einen Tee. Obwohl er auf der Straße lebe, sei es ihm wichtig, dass es „hier schön sauber ist“. Ordnung und Sauberkeit, das habe er als Heimkind gelernt. Die erste Szene des Dokumentarfilms Draußen, der auf der diesjährigen Berlinale in der Perspektive Deutsches Kino zu sehen ist, erzählt viel über das Leben dieses Menschen, der sich nach seinem Idol Elvis Presley benannt hat. Und schon eingangs bricht diese Szene mit den Erwartungen, die man an einen Film über unbehauste Menschen hat, zeigt sie doch Bilder geradezu häuslicher Intimität.
In Draußen porträtieren Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann vier Obdachlose, die in einem Park oder Waldstück leben. Dabei kommen verschiedene ästhetische Strategien zum Einsatz, die dem Ziel dienen, ein anderes Bild des Obdachlosen zu vermitteln als das einer bemitleidenswerten Gestalt, die nur vom Scheitern berichten kann. Die Filmemacherinnen wollen starke, autonome Individuen („Überlebenskünstler“) zeigen, von denen wir lernen können.
Um die Geschichten, Fähigkeiten und Überlebensstrategien der Männer darzustellen, wählen sie einen ungewöhnlichen Zugang: Sie lassen sich die Gegenstände zeigen, die diese Männer besitzen – naturgemäß sind es wenige. Die sonst in Tüten und Taschen verborgenen Objekte sind entweder praktisch oder mit Erinnerungen verbunden. Neben Messern, Teekessel und Espressokännchen finden sich ein Schottenrock und ein Foto, das den Besitzer als Karnevalsprinzen zeigt. Überraschungseier. Ein Pilzbestimmungsbuch und ein Notizbuch, in denen die Etappen einer wandernden Existenz verzeichnet sind; Dokumente eines unbehausten Lebens.
Anhand der Dinge und Fotos treten Bruchstücke und Bruchstellen der Biografien zutage: die Liebe zu den Holzarbeiten, die man mit dem Großvater gemeinsam hatte, vier Eheschließungen mit derselben Frau, Kindheit und Jugend in Kasachstan.
Das Leben wird anhand der Gegenstände fragmentarisch erschlossen: Wie wird man obdachlos? Schicksalsschläge, Raubüberfälle, Gefängnisaufenthalte, Liebesgeschichten, Drogen. Kleine Blitzlichter, die diese Schicksale beleuchten, ohne dass sie sich zu stringenten Lebensgeschichten zusammensetzen würden.
In ihrer Singularität gewinnen die Gegenstände eine auratische Qualität. Das wird durch Szenen, in denen diese Objekte in die Natur montiert und dort „wie in Vitrinen“ ausgestellt werden, bewusst verstärkt. Die Filmemacherinnen wollen so einen „Erlebnisraum“ kreieren, der zur „individuellen Auseinandersetzung mit unseren Helden einlädt“ – tatsächlich transformiert sich der Raum in diesen Passagen zu einem Stillleben. Die Schlafplätze werden zum Schluss erleuchtet wie Bühnenkulissen, es sollen „Gedankenbilder“ entstehen, die zur Auseinandersetzung einladen.
Ästhetik der Überhöhung
Mit dieser Ästhetik der Überhöhung stellt sich der Film gegen den sozialrealistischen Gestus, dem Dokumentarfilme über Obdachlose zumeist folgen. Draußen will den Ausgeschlossenen Würde zurückgeben. Das geschieht um den Preis, nun die Gesellschaft auszuschließen: Gezeigt werden die Protagonisten an ihren einsamen Ruheplätzen, ob und woher sie Geld erhalten, ob sie betteln, Pfandflaschen sammeln, ob und wie sie mit anderen Menschen interagieren – all das ist nicht zu sehen. Offenbar setzt sich das Verhältnis von Ausschluss und Gesellschaft beim Thema Obdachlosigkeit immer wieder durch.
Draußen will ein Gegenbild etablieren zum bekannten Image des Obdachlosen. Der Film zeigt die Männer als überlebensfähig, reflektiert und selbstironisch. Er lädt zu einem identifikatorischen Blick ein – sind diese Unbehausten wirklich so anders? Der Kasache erklärt, eigentlich lebe er normal: aufstehen, Zähne putzen, Kaffee trinken. Na ja, fast normal, denn danach setzt er sich in seinem Zelt einen Schuss. Sonst funktioniere er nicht.
Die symbolische Aufwertung, die der Film verfolgt, kann nur gelingen, weil die Obdachlosen in der Natur situiert werden. Die Lagerplätze der Männer erscheinen wie Höhlen. Wenn ein Mann in sein Zelt krabbelt, fallen einem Outdoor-Aktivitäten ein, ein anderer bastelt sich eine Hängematte zwischen Bäumen, um dort zu schlafen.
Selbst wenn es regnet, wirkt die Existenz im Wald keineswegs trostlos, zumal im Frühjahr oder Sommer gedreht wurde. Auf der Straße wäre diese Aufwertung wohl kaum gelungen, denn an den Straßenrand gedrückt und von Passanten ignoriert zu werden, hätte nur weitere Bilder der Randständigkeit produziert. Die Natur, in die der Film die Protagonisten stellt, wirkt hingegen wie ein natürlicher Lebensraum – draußen. Das Soziotop als Biotop. Entworfen wird ein poetischer Raum: jenseits des Sozialen, außerhalb von Gesellschaft und Zeit. Damit gerät der Film allerdings zeitweise in die Nähe einer Idylle. Er zeigt genau das nicht, was in der Ankündigung steht: Menschen, die auf der Straße leben.
Dabei wissen die Männer, wie sie gesehen werden: Die Leute schätzen uns und unsere Dinge als Trash ein, sagt einer der Männer. Draußen ist ein parteiischer Dokumentarfilm, an die Stelle von Skandalisierung tritt die Ästhetisierung. Der Film schließt damit auch an Repräsentationen des Obdachlosen als einer faszinierenden Gestalt der Freiheit und Unbürgerlichkeit an, wie sie Film und Literatur hervorgebracht haben. Fiktive Obdachlose sind nicht selten selbstbewusste Außenseiter. Ja, resümiert einer der Männer, er kenne die Scham über seine Existenzweise: „Aber ich kann gar nicht mehr anders leben. Ich möchte auch nicht mehr anders leben.“
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