Gespenster sind einfach nicht totzukriegen, überall wimmelt es derzeit von Untoten, Geistern und Wiedergängern. Nicht nur in der erfolgreichsten Serie der Welt — Game of Thrones — ist der Fortbestand der Menschheit durch eine Untoten-Armee gefährdet, auch literarisch melden sich die Spukgestalten vermehrt zu Wort. Doch warum jetzt und was wollen diese Gestalten oder besser Ungestalten den Lebenden mitteilen?
Im vielleicht schönsten dieser zwischen Heimsuchungen, Magie und Geistergeschichten schillernden Romane – George Saunders’ Lincoln im Bardo – begibt sich 1862 der amerikanische Präsident nach dem Tod seines geliebten Sohnes nachts auf den Kirchhof, wo er sich unbeobachtet wähnt, es aber beileibe nicht ist. Der Friedhof ist ganz
t ist. Der Friedhof ist ganz und gar nicht die letzte Ruhestätte, sondern ein umtriebiges Zwischenreich — das buddhistische Bardo —, in dem eine Schar Verstorbener allnächtlich „geh-“ oder auch „flitzschwebt“. Die Hingeschiedenen leugnen, tot zu sein, sie lägen mitnichten in Särgen, sondern in „Kranken-Kisten“. Aus denen sie jede Nacht fliehen, um ihre Erzählungen fortzusetzen – traurige, wütende, lustige, sentimentale und obszöne biografische Bruchstücke, ein vielstimmiger Chor.Auch Robert Seethaler lässt in Das Feld ein ganzes Dorf auf dem Friedhof weiterhin Konversation machen. Die Toten erzählen ihre Lebensgeschichten hier komprimiert und auf einen Sinnzusammenhang bezogen: „Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte“, so zumindest stellt es sich der einzige lebende Besucher vor, obwohl er den Verdacht hegt, dass die Toten „genau wie Lebenden nur Belanglosigkeit von sich geben würden, weinerliches Zeug und Angebereien.“ In den biografischen Vignetten findet sich beides.Starrsinn stirbt nieSaunders’ Untote transportieren in ihrem Unwillen und Starrsinn etwas vom Skandalon, den der Tod darstellt, während sie bei Seethaler einfach weiterreden und ihn solcherart rein stilistisch negieren. In seinem Krebstagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein hatte sich Christoph Schlingensief gefragt, warum wir die Toten so radikal ausschließen, ob nicht ein Kontakt möglich sei, vielleicht könnten sie beim Sterben helfen. Doch Saunders’ rastlose Dahingeschiedene können ebenso wenig Rat bieten wie die „talking dead“ bei Seethaler, denn, so die mit einhundertfünf Jahren verstorbene Annelie Lorbeer: „Es ist verboten, vom Tod zu erzählen.“Traditionell erzählen Gespenster weniger vom Tod als von ihrem Wiederkommen, weil sie noch eine Rechnung offen hätten. So auch in Der Freund der Toten der britischen Autorin Jess Kidd, die ihren Helden Mahony mit der Fähigkeit ausstattet, Verstorbene sehen zu können. Die Geschichte spielt in einem irischen Dorf voller Lügen, Bigotterie und Misogynie. Mahonys Mutter hatte ihren unehelichen Sohn nach der Geburt vor ein Kloster gelegt und verschwand. 26 Jahre später erhält er den Begleitbrief – und macht sich auf, die Geschichte seiner Mutter, der „Schande von Mulderrig“, zu klären. Mit dieser Post aus dem Jenseits kommen auch die Toten, die zwischenzeitlich weg waren, zurück und helfen in diesem Hybrid aus Ghost Story und Krimi ungesühnte Verbrechen ans Licht zu bringen.Eine unglückliche Mutter-Sohn-Konstellation bestimmt auch Nathan Hills Geister (The Nix). Der von seinen unmotivierten Studierenden und seinem ereignislosen Leben gelangweilte Literaturprofessor Samuel Anderson wird mit der Vergangenheit konfrontiert, als er seine Mutter, die ihn als Kind verlassen hatte, im TV wiedersieht: Sie hat den rechtspopulistischen Präsidentschaftskandidaten Packer mit Kieselsteinen beworfen und wird nun als „Packer-Attacker“ zur Ikone beziehungsweise Terroristin stilisiert. Doch warum? Hill, der von Thomas Pynchon über John Irving bis Charles Dickens so ziemlich mit jedem verglichen wurde, der einen Namen in Langstreckenprosa hat, verbindet Familien- und Gesellschaftsgeschichte, die bis in die Chicagoer Aufstände von 1968 und weiter in die mythischen Zonen der Auswanderer zurückreicht. Der „Nix“ des amerikanischen Titels ist ein norwegischer Hausgeist, der der Auswandererfamilie Anderson gefolgt ist. Er begeistert Kinder als wildes Pferd, das sie reiten, bis er mit ihnen in den Abgrund springt: „Trau keiner Sache, die zu schön ist, um wahr zu sein“, so die Lebensdevise des norwegischen Großvaters.Placeholder infobox-1Wie wahr. Denn „komplett ausgeritten“ von einem rachsüchtigen Dämon ist am Ende Seth in Hari Kunzrus Roman White Tears. Wie sein reicher Kommilitone Carter ist auch Seth besessen von alter Musik und alten Platten. Beide reüssieren als auf Retrostile spezialisierte Musikproduzenten. Eines Tages nimmt Seth im Washington Square Park die Songline eines Bluesstückes auf, ein Sänger ist nicht zu sehen. Schnell wird der Musiker Charlie Shaw erfunden und eine auf alt getrimmte Platte produziert. Dann beginnt der Horror, in dem sich Besessenheit und kulturelle Schuld(en) mischen: Carter wird ins Koma befördert und Seth auf einen Höllentrip geschickt, der ihn in den Süden der USA und in die Vergangenheit führt: denn dort lebte Charlie Shaw, ein großes Blues-Talent, tatsächlich. Auf dem Weg zu seinem ersten Studiotermin wurde er in einem Akt von rassistischer Willkür festgenommen, malträtiert und ins Gefängnis geschickt. Der – im Wortsinne unerhörte – Song findet als Dämon der Besessenheit ins Leben zurück: Seth, ein Weißer, wird am eigenen Leibe die Erfahrungen machen, die er bislang nur in den Bluessongs der Schwarzen goutierte.Versprechen und VerbrechenInsbesondere die amerikanischen Romane nutzen das Potenzial, das Geister- und Gruselgeschichten bieten: Sie weiten sich zu historische Panoramen, aus deren Tiefenschichten Gespenstisches dringt. Saunders’ Booker-Preis-prämierte Geschichte spielt während des Amerikanischen Bürgerkriegs, und von der sprichwörtlichen Friedhofsruhe kann auch in politischer Hinsicht keine Rede sein: Ehemalige Sklaven und Rassisten versuchen als Geister Lincolns Gedanken zu beeinflussen. Die Nachgeschichte der Sklaverei – der Rassismus – wird von Jesmyn Ward in Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt als gespenstisches Treiben in Szene gesetzt: Wie ist er, der schwarze Gefängnisinsasse Richie, nach seiner Flucht umgekommen, diese Frage treibt den Toten um und in die Gesellschaft lebender Menschen. Wie Kidd stößt auch Ward die Tür zwischen den Lebenden und den Toten auf und lässt sie miteinander kommunizieren – schon der Titel ihres 2017 mit dem National Book Award ausgezeichneten Romans beschwört eine neue Erzählgemeinschaft.Doch warum gerade jetzt diese Renaissance der Geistergeschichten, eines Genres, das immer viel Spott einstecken musste? Die Angst vor dem Tod, die Frage nach dem „Danach“ oder Jenseits ist vermutlich so alt wie die Welt. Sie hat immer Erzählungen von Himmel, Hölle, Zwischenreichen und Wanderern zwischen den Welten stimuliert. Doch es sind mehr noch die Untiefen der Gegenwart, die andere Imaginationen und erzählerische Mittel evozieren als diejenigen, die man gemeinhin realistische nennt. Im Fantastischen, Magischen und Übersinnlichen hebt sich das chronologische Fortschreiten der Zeit auf, Zeiten überblenden und verschachteln sich. Das Ungelöste und Unerlöste der Vergangenheit wird gegenwärtig, es kann die Lebenden jederzeit heimsuchen. Hier treffen sich Geistergeschichte und gruselige Gegenwart: Denn mutet das sexistische, rassistische und populistische Rollback, in dem sich aktuell die Wiederkehr bereits überwunden geglaubter Mechanismen realisiert, in seiner Massivität und Allgegenwart nicht selbst fast schon irreal an?Geschichten, in denen Untote auftauchen, folgen einer eigenen Affektökonomie. Sie wollen Angst und Schrecken, aber auch Mitleid erzeugen, und nicht immer ist ausgemacht, mit wem wir uns identifizieren. Verbrechen und Versprechen der Vergangenheit erscheinen als eigen- und widerständige Figuren, die unkontrolliert ihrer – trostlosen, rachsüchtigen oder auch nur verquasselten – Logik folgen. Neu ist der fast zärtliche, den Untoten zugewandte Ton seitens der Lebenden. Vielleicht sind uns diese ohnmächtigen und wütenden Wesen gar nicht so fremd: Fühlen wir uns nicht auch gelegentlich als Gegenwartsgespenster, die ihre Hoffnung auf eine bessere Welt zwar nicht aufgeben können, zunehmend aber begraben müssen – und uns gleich mit?Vom Irrsinn der Gegenwart lässt sich offenbar nicht mehr „realistisch“ erzählen. Und so hat das ganze menschengemachte Erdzeitalter – das Anthropozän – sein fantastisches Bild im Zeichen des Untoten gefunden: Die von den Figuren der Serie Game of Thrones als Ammenmärchen deklarierten, tatsächlich aber existenten Wiedergänger lassen sich als Metapher der menschheitsbedrohenden, aber allseits ignorierten Klimakatastrophe verstehen. Der menschliche Lebenswandel produziert seinen eigenen Tod auf Erden mit. Allerorten sind die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten brüchig – und erzählerisch sehr produktiv geworden.Placeholder authorbio-1
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