Wann immer an den letzten Montagen im April und Oktober die Wecker klingeln, die ersten Gedanken der Erwachenden dürften in ganz Europa dieselben sein: "Hab ich die Uhr korrekt verstellt? Also vorgestellt? Oder doch zurückgestellt? Und wie war das nochmal?" Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: Im Frühjahr wird die Uhr eine Stunde vorgestellt, fortan bleibt es 60 Minuten länger hell. Im Herbst bekommen wir die geklaute Zeit zurück, dürfen am Sonntag länger schlafen und ärgern uns abends, wie früh es dunkel wird.
Eben aufgewacht, ist allerdings gar nichts einfach. Selbst bewährte Eselsbrücken zur Zeitumstellung wie die, dass man die Uhr einfach immer so stellen muss, wie Stühle in einem Straßencafe - also im Frühjahr vor das Lokal und im Herbst zurück ins Lokal - bedeuten für einen noch traumtrunkenen Menschen, der mit knapper Not weiß, wie er heißt und dass er nicht wieder einschlafen darf, eine Überforderung.
Es bleibt vertrackt, auch wenn man sich bals darauf, mittlerweile wach, auf dem Weg zur Arbeit befindet. Überall stehen und hängen Uhren, und niemand hat hilfreiche Schildchen "umgestellt" oder "nicht umgestellt" an ihnen angebracht. Die meisten öffentlichen Zeitanzeiger werden automatisch zentral gestellt. Jedoch gilt dies nicht für alle Uhren! Uhren in Schaufenstern zum Beispiel zeigen mal die neue, mal die alte Zeit. So erleidet ein Mensch auf einem durchschnittlich langen Weg zur Arbeit rund ein Dutzend Panikattacken: ein Dutzend Mal schreckt er zusammen - Mein Gott, ich hab es doch falsch gemacht, ich bin eine Stunde zu spät! Oder: Ich bin eine Stunde zu früh! Ein Dutzend Mal entspannt er sich wieder - alles im grünen Bereich. Uhr korrekt, alles korrekt. Schließlich erreicht er verwirrt und gestresst sein Ziel: Den anderen ist es auf ihrem Weg nicht anders ergangen, weshalb der erste Arbeitstag nach der Zeitumstellung zu den unproduktivsten des Jahres gehört.
Allerdings: Es könnte schlimmer sein. Wenn sich die Ideen des Vaters der "Daylight saving time", Benjamin Franklin, durchgesetzt hätten, würden wir zur Zeitumstellung nicht nur verwirrt und in Panik versetzt, wir würden terrorisiert werden, einer fixen Idee wegen - Franklins Idee, das Uhrendrehen spare Energie.
Der berühmte Erfinder Franklin hatte sich 1784 als Botschafter in Paris aufgehalten, wo er zur Präsentation einer neuartigen Öllampe eingeladen war. Es hatte sich ein Streit entsponnen, ob der Preis für das benötigte Öl im Verhältnis zur erzeugten Helligkeit stünde. Franklin, der solche Dispute liebte, hatte die Sache nicht losgelassen, wie er einige Tage später in einem mehrseitigen Leserbrief an die Tageszeitung The Journal of Paris schrieb: "Ich ging heim, den Kopf voller Gedanken über diese Sache." Und ganz gegen seine Gewohnheit sei er am nächsten Morgen bereits gegen sechs Uhr früh aufgewacht. Überrascht habe er festgestellt, dass sein Zimmer voll erleuchtet war. "Zuerst dachte ich, jemand hätte eine größere Menge dieser Lampen aufgestellt, doch nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, entdeckte ich, dass das Licht durch das Fenster ins Zimmer schien."
Nach dieser launigen Einführung beschreibt Franklin detailliert seine Idee - eine Art Zeitumstellung unter verschärften Bedingungen. Zwischen 20. März und 20. September sollten die Menschen bei Sonnenaufgang mit lautem Glockengeläut "oder notfalls mit in den Straßen abgefeuerten Kanonen" zwangsgeweckt und durch polizeilich überwachte Kerzenkontingentierung vom langen Wachen am Abend abgehalten werden. "Nach drei, vier Tagen" würde sich jeder an den neuen Rythmus gewöhnt haben, prognostizierte Franklin und zeigte in einer Beispielrechnung, dass die 100.000 Einwohner von Paris in den 183 Sommerzeitnächten 128 Millionen Kerzen weniger verbrauchten und damit 64 Millionen britische Pfund oder 96 Millionen französische Sol einsparen könnten.
Die Idee des Erfinders fand ihre Fans, Freunde korrespondierten in Sachen Zeitumstellung noch lange nach Franklins Rückkehr nach Amerika, bis der Gedanke schließlich in Vergessenheit geriet.
1907 griff ihn der britische Architekt William Willet wieder auf, indem er ein Pamphlet "Waste of Daylight", "Verschwendung von Tageslicht", schrieb. Er propagierte eine schrittweise Einführung der Sommerzeit. An vier Sonntagen im April sollten die Uhren für jeweils 20 Minuten vor- und an vier Septembersonntagen wieder zurückgestellt werden. Willet gab ein Vermögen aus, um seine Idee bekannt zu machen, ihre Durchsetzung jedoch sollte er nicht mehr erleben. Er starb 1915, ein Jahr bevor sich die meisten europäischen Länder einer deutschen Initiative anschlossen und man - obgleich miteinander im Krieg - gemeinschaftlich am ersten Mai 1916 die Uhren vorstellte. Das Ziel war - wie schon zu Franklins Zeiten - Elektrizität zu sparen. Sehr wahrscheinlich wurde es erreicht, denn in nächsten zwei Jahren begann man mit der Sommerzeit jeweils bereits Mitte April.
1940 führten die Nazis erneut die Zeitumstellung ein. Anfangs sogar in einer "extended version". Von 1. April bis zum 2. November war Sommerzeit. In den Nachkriegsjahren behielt man dies bei - bis 1950 das Energiesparen kein Thema mehr war. In den Jahren der Fresswelle und des Überflusses gehörte Verschwendung zum Lebensstil, an begrenzte Ressourcen dachte man nicht.
Unter dem Eindruck der Ölkrise, die 1973 in der Bundesrepublik in den Sonntags-Fahrverboten gipfelte, erinnerte man sich in den meisten westeuropäischen Ländern an die Sommerzeit und führte sie in den späten siebziger Jahren wieder ein. Die Bundesrepublik beschloss die Umstellung 1978 - wartete allerdings noch zwei Jahre lang, diese umzusetzen, denn man wollte vermeiden, dass die DDR und Berlin durch die einseitige Einführung der Sommerzeit verschiedenen Zeitzonen existierten. Am 31. Januar 1980 hatten die bilateralen Verhandlungen schließlich Erfolg und in der DDR wurde die "Verordnung über die Einführung der Sommerzeit" erlassen. Am letzten Sonntag im März mussten sowohl West- als auch Ostdeutsche eine Stunde früher aufstehen und waren vermutlich an den folgenden Morgen länderübergreifend schlecht gelaunt.
Wie sich die Sommerzeit tatsächlich auf den Menschen auswirkt, ist unter Medizinern und Biologen umstritten. Tatsächlich steigt in den ersten Aprilwochen zwar die Zahl der Verkehrsunfälle - Experten sehen den Grund jedoch im Verhalten der Tiere, die sich noch nicht an die veränderten Stoßzeiten gewöhnt haben. Insgesamt, so belegen britische Studien, sinken die Unfallzahlen dann während der Sommerzeit wieder - was wenig verwunderlich ist, wird doch auch das Wetter besser und trockener. Ganz abgesehen von Unfalltoten beschreiben alle Opfer der Zeitumstellung ein Gefühl des Unbehagens. Es wird auf eine Art Jetlag zurückgeführt. In einfachen Worten: Man braucht etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen, früher oder später aufzustehen. Tiere trifft die Zeitverwirrung noch empfindlicher: Kühe zum Beispiel benötigen zwei Wochen, um sich auf den veränderten Melk- und Fütterungs-Rythmus einzustellen. Ob sie, wie wir, schlechte Laune bekommen, ist nicht nachgewiesen.
Der Mensch jedenfalls ist nach der Zeitumstellung unleidlich. Vor allem, wenn eben die Sommerzeit eingeführt wurde. Er fühlt sich betrogen, um eine Stunde Lebenszeit beklaut. Dass er diese Stunde in einigen Monaten "zurückbekommen" wird, begreift er nicht. Und ein Rest des Unerklärlichen bleibt bei der Sache: Was hätte sich alles ereignen können, in den geborgten 60 Minuten - das einem nun vorenthalten bleibt? Man hätte vielleicht die Liebe des Lebens kennen gelernt ... Und was ist das für eine Stunde, die man dann später, aus dem Nichts so zu sagen, dazubekommt?
Ein Trost: Für alle Zeiten ist das große Uhrendrehen nicht festgeschrieben: Die Sommerzeit gilt laut EU nur "bis auf weiteres".
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