War die nicht größer?

Alltag Die Kopenhagener Meerjungfrau hält, verglichen mit anderen europäischen Nationalsymbolen, den Vandalismus-Rekord. Über die Blessuren einer traurigen Nixe

Skandinavische Nixen haben es besser: Im Gegensatz zu ihren deutschen Kolleginnen wird von ihnen offenbar nicht erwartet, unberührt durchs Leben zu schwimmen - "havfrue", Meerfrau, heißen sie beispielsweise kurz und bündig im Dänischen, während sie in deutschen Gewässern explizit als Jungfrauen herumschwimmen müssen. Das Schicksal der berühmtesten Meerjungfrau war trotzdem tragisch, denn der Schriftsteller Hans Christian Andersen ließ sie in seinem Kunstmärchen Die kleine Meerjungfrau alles opfern, um am Ende zwar mit einer unsterblichen Seele ausgestattet, aber eben auch tot zu sein. Denn die kleine Nixe hatte sich in einen menschlichen Prinzen, den sie vor dem Ertrinken gerettet hatte, verliebt. Im Tausch gegen Beine und Sterblichkeit, nahm ihr eine Meerhexe die wunderschöne Stimme - und nicht nur das. Jeder Schritt, den sie tat, war, als liefe sie "über zerstoßenes Glas". Die stumm Leidende traf ihren Prinzen zwar wieder, aber der heiratete eine andere, gemäß der Bedingungen der Magierin das Todesurteil für die "Lille Havfrue". So geht es Frauen, die freiwillig darauf verzichten, ihren Willen zu äußern und stumm darauf warten, dass ihr Traumprinz ihnen ihre geheimen Wünsche von den Augen abliest: Ihr Leben ist keines mehr.

Die kleine Meerjungfrau aus dem Märchen hat es gleichwohl zu einer immensen Präsenz im Real Life außerhalb der Märchenbücher gebracht. Ihr Ebenbild steht im seichten Meerwasser des Kopenhagener Langelinie-Kais, die 150 Kilo schwere Figur schaut von ihrem Sitzplatz, einem massiven Stein, sehnsuchtsvoll auf die See. Wobei ihr jeden Tag tausende Touristen zugucken, für die ein Besuch der Statue genauso zum Besichtigungsprogramm gehört wie das Schlendern durch den Tivoli, den ältesten Vergnügungspark der Welt, das Shoppen in den Tax-Free-Läden der Innenstadt sowie ausgedehnte Brauerei-Besichtigungen. Ihre Existenz verdankt die kleine Nixe der dänischen Liebe zum Bier: Carl Jacobsen (1842-1914), der als Sohn des Gründers der Carlsberg-Brauerei das väterliche Unternehmen weiterführte, war ein großer Kunstliebhaber und investierte einen großen Teil seines mit dem Gerstensaft verdienten Vermögens in seine Sammlungen. Der Mäzen schenkte der Stadt Kopenhagen nicht nur eine Vielzahl Statuen, sondern auch seine umfangreiche Gemäldesammlung, die heute in der Ny Carlsberg Glyptotek zu sehen ist. In den letzten Jahren seines Lebens begeisterte sich Jacobsen zunehmend für das Ballett oder vielleicht auch für Tänzerinnen - er habe den Ehrgeiz, alle im Kongelige Theater zu Kopenhagen gastierenden Balletteusen persönlich kennen zu lernen, heißt es jedenfalls in einem zeitgenössischen Text vielsagend über ihn. Und so war der 66-Jährige auch zur Stelle, als am zweiten Weihnachtstag 1908 eine getanzte Märchenvorführung ihre Premiere feierte. Jacobsen war hingerissen - ob primär von der Hauptdarstellerin Ellen Price, zu dieser Zeit bereits eine gefeierte Primaballerina, oder doch eher allgemein von Hans Becks Ballett Die kleine Meerjungfrau, ist im Grunde völlig unerheblich. Denn sofort nach der Vorstellung fasste er den Entschluss, der ihn für alle Zeiten untrennbar mit einer kleinen Skulptur in Verbindung bringen würde. Ellen Price willigte sofort in seine Bitte ein, als Vorlage für die Mini-Nixe Modell zu stehen, allerdings unter einer Bedingung: Sie wollte dies auf keinen Fall nackt tun.

Und so besteht die kleine Meerjungfrau eigentlich aus zwei Frauen, dem Kopf der Tänzerin und dem Körper von Elina Erikson. Der als Naturalist geltende Bildhauer Edvard Eriksen (1876-1959) hatte einige Jahre nach der Ausbildung an der Kopenhagener Akademie 1904 den Durchbruch mit der Figurengruppe Haabet (deutsch: Hoffnung) geschafft, die ihm eine Ehrenmedaille seiner Kunsthochschule einbrachte. Danach gelang ihm ein rasanter internationaler Aufstieg, so wurde er zum Beispiel als Professor ins italienische Carrara berufen. Am bekanntesten sollte allerdings seine in Stein gehauene Meerjungfrau werden - und ein gutes Geschäft, an dem selbst die Erben des Bildhauers noch verdienen. Seine Enkelin Alice bietet heute im Namen der zum Unternehmen avancierten Erbengemeinschaft "Edvard Eriksen´s Arvinger I/S" auf einer Internetseite nicht nur Lizenzen für Souvenirhersteller, sondern auch Kopien der Statue "für den Garten oder das Entree" an. Das Kopenhagener Wahrzeichen kann in drei verschiedenen Größen bezogen werden, 130.000 Euro kostet eine mit einem Meter fünfzig überlebensgroße, 150 Kilo schwere Version netto, dafür wird die Kopie, so die Anbieter, an jeden Ort der Welt geliefert.

Das Original, am 23. August 1913 feierlich enthüllt wurde, ist verglichen mit den Ikonen anderer Städte, wie dem Eiffelturm oder dem Brandenburger Tor, vergleichsweise popelig ausgefallen. Die meisten der mehr als eine Million Besucher, die jährlich zur Kopenhagener Nixe pilgern, stellen enttäuscht fest, dass die unspektakuläre Skulptur als Touri-Devotionalie viel beeindruckender wirkt und mit der poppig-bunten Arielle aus dem gleichnamigen Disney-Film gerade einmal den Fischschwanz gemeinsam hat. In Touristen-Foren äußern sich viele Besucher entsprechend sehr enttäuscht über das berühmte Kunstwerk, das man sich "irgendwie größer" und nicht so langweilig grau vorgestellt habe. Das sei eindeutig zu kurz gedacht, erklären dann immer wieder Einheimische, denn man könne durchaus sehr viel Spaß mit der traurigen Meeresbewohnerin haben: "Es ist nämlich sehr lustig, Touristen dabei zu beobachten, wie sie sich im Bemühen, die Brüste der Nixe anzufassen oder bei der Suche nach dem besten Blinkwinkel für ihre Fotos und Videos immer weiter vorbeugen - und dann schließlich auf den glitschigen Steinen ausrutschen und ins Wasser fallen!"


Klatschnasse Touristen sind aber nicht der Grund für den Entschluss, den Kopenhagener Lokalpolitiker jetzt fällten. Das Denkmal, so regten sie an, solle von seinem ufernahen Standort am Kai aus ein Stück weiter ins Meer gezogen werden, und das ausdrücklich nicht, um sie vor zudringlichen Touristenhänden zu schützen, sondern vor einheimischen Vandalen. Denn das Kunstwerk wird nicht nur von Reisenden bewundert und fotografiert, sondern regelmäßig beschädigt oder beschmiert. "Die kleine Meerjungfrau hält, verglichen mit anderen europäischen Nationalsymbolen, ganz klar den Vandalismus-Rekord", hieß es vor einigen Jahren in einem dänischen Zeitungsartikel. Selbst das mit 60 Zentimetern deutlich kleinere und damit als Entführungsopfer prädestinierte belgische Männeken Pis sei zwar schon mehrmals Opfer von Straftaten geworden, aber immer wieder unbeschadet aufgetaucht, das letzte Kidnapping liege zudem mehr als 100 Jahre zurück.

Die kleine Jungfrau mit dem Fischschwanz wurde Ende April 1961 zum ersten Mal mit roter Farbe übermalt, ein vergleichsweise harmloser Streich verglichen mit dem, was ihr nur ein Jahr später passieren sollte. Denn am 24. April 1964 sägte ein Unbekannter den Kopf der Statue ab. Die Identität des Täters wurde erst Jahrzehnte später bekannt, als der Aktions-Künstler Jørgen Nash in seiner 1997 erschienenen Autobiografie En havfruemorder krydser sit spor (Ein Meerjungfrau-Mörder kreuzte seinen Weg) erklärte, "die Heilige Jungfrau der dänischen Tourismusindustrie" sei von ihm höchstpersönlich geköpft worden, weil er den Rummel um die National-Ikone nicht mehr ertragen konnte. Wo das Corpus delicti abgeblieben ist, sagte der gewohnheitsmäßige Provokateur dagegen nicht, das Haupt der Statue ist bis heute verschwunden. Was an der Authentizität des Werks jedoch nichts ändert, denn die Eriksons Original-Gussformen sind erhalten geblieben, so dass die Rekonstruktion der Fischfrau verhältnismäßig unaufwändig erfolgen kann. Und regelmäßig erfolgt, denn die Statue wird nicht nur ständig bemalt, sondern eben auch zerstört. Wie zum Beispiel rund 20 Jahre nach Nashs Untat, als am 22. Juli 1984 der Nixe ein Arm abgesägt wurde. Diesmal war die Tat schnell aufgeklärt, denn bereits am nächsten Tag meldeten sich zwei sehr zerknirschte Männer auf einer Kopenhagener Polizeiwache und gaben das amputierte Körperteil ab. Sie seien, so erklärten sie, einfach sturzbetrunken gewesen und bereuten die Tat jetzt sehr. Was natürlich nichts daran änderte, dass sie für die Restaurierungskosten in Höhe von mehreren tausend Euro aufkommen mussten. Abschreckend wirkte diese von der Stadt Kopenhagen präsentierte Rechnung auf entschlossene Vandalen nicht, jedenfalls nicht sehr lange. Anfang August 1990 wurde ein 18 Zentimeter tiefer Schnitt am Hals der Meerjungfrau entdeckt, die Täter waren wahrscheinlich gestört worden und unerkannt geflüchtet. Am 6. Januar 1998 fehlte dann der Nixen-Kopf wirklich. Die Täter riefen am frühen Morgen den Pressefotografen Michael Forsmark Poulsen an, der wiederum die Polizei informierte, allerdings erst, nachdem er Bilder von der kopflosen Statue geschossen hatte. Die Fotos gingen um die Welt, dänische Medien rechneten später aus, dass dieser Bekenneranruf dem freiberuflich Tätigen Einnahmen von mehr als 13.000 Euro gebracht hatte. Drei Tage später wurde das fehlende Körperteil dann gefunden, vorangegangen war ein erneuter Anruf bei Poulsen, der natürlich zur Stelle war, als die Sicherstellung des Objekts durch die von ihm benachrichten Polizeibeamten erfolgte. Die Polizei wurde daraufhin allerdings misstrauisch und nahm den Fotografen als dringend tatverdächtig fest, nach zwei Wochen musste er jedoch aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft freigelassen werden.


Wenn die Kleine Meerjungfrau wirklich bald einen schwerer von Land aus zu erreichenden steinernen Standort bezieht, hat sie vielleicht dann tatsächlich ihre Ruhe und kann ungestört von grapschenden Händen und den Metallsägen entschlossener Bilderstürmer ihrem Prinzen hinterher trauern und darüber nachdenken, ob sie wirklich alles richtig gemacht hat in ihrem Nixenleben. Allzu sicher sollte sie sich dabei nicht fühlen, denn ihre eigentlich an einem gut überwachten Ort aufbewahrte Original-Geschichte ist bereits seit 14 Jahren unauffindbar. Am 22 Juni 1992 war das Kopenhagener Andersen-Museum ausgeraubt worden. Die Diebe gingen nach Aussagen der Kripo äußerst professionell vor, sie stahlen unter anderem das Manuskript des Märchens Des Kaisers neue Kleider und die handschriftlichen Aufzeichnungen über die kleine Meerjungfrau, einige Präsente, die der Dichter einst Freunden verehrt hatte und mediterrane Blumen, die er als Erinnerung an einen Italienaufenthalt gepresst und aufbewahrt hatte. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Überfall, so die ermittelnden Beamten, um eine Auftragsarbeit für einen Sammler, denn weder versuchten die Täter, ihre Beute den einschlägigen Kreisen zum Verkauf anzubieten, noch gab es Lösegeldforderungen - alle Stücke sind bis heute verschwunden. Manche Kopenhagener sind sich ganz sicher: Seither guckt ihre Lille havfrue noch ein bisschen trauriger.


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